TE Bvwg Erkenntnis 2021/8/31 W139 2164461-1

JUSLINE Entscheidung

Veröffentlicht am 31.08.2021
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Entscheidungsdatum

31.08.2021

Norm

AsylG 2005 §11
AsylG 2005 §3
AsylG 2005 §3 Abs1
AsylG 2005 §3 Abs2
AsylG 2005 §3 Abs3 Z1
AsylG 2005 §3 Abs5
B-VG Art133 Abs4
VwGVG §24 Abs1
VwGVG §28 Abs1
VwGVG §28 Abs2

Spruch


W139 2164461-1/25E

IM NAMEN DER REPUBLIK

Das Bundesverwaltungsgericht erkennt durch die Richterin Mag. Kristina HOFER über die Beschwerde von XXXX , geb. XXXX , StA. Afghanistan, vertreten durch Mag. Dr. Helmut BLUM LL.M., Rechtsanwalt, 4020 Linz, Mozartsraße 11/6, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl, Regionaldirektion Kärnten vom XXXX 2017, Zl. XXXX in einer Angelegenheit nach dem AsylG 2005 und dem FPG, nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung am 16.06.2021 zu Recht:

A)

I.       Der Beschwerde wird stattgegeben und XXXX gemäß § 3 Abs. 1 AsylG 2005 der Status des Asylberechtigten zuerkannt.

II.      Gemäß § 3 Abs. 5 AsylG 2005 wird festgestellt, dass XXXX damit kraft Gesetzes die Flüchtlingseigenschaft zukommt.

B)

Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.


Text


Entscheidungsgründe:

I. Verfahrensgang:

1.       Der Beschwerdeführer, ein afghanischer Staatsangehöriger und Angehöriger der Volksgruppe der Hazara, reiste in das österreichische Bundesgebiet ein und stellte am 25.10.2015 einen Antrag auf internationalen Schutz.

2.       In seiner Erstbefragung am 26.10.2015 durch Organe des öffentlichen Sicherheitsdienstes, gab der Beschwerdeführer zu seinem Fluchtgrund an, seine Eltern hätten der afghanischen Regierung für die Errichtung eines Krankenhauses ein Grundstück geschenkt. Das bebaute Grundstück sei mangels finanzieller Mittel für Personal und Arzneimittel zu einer Polizeistation umfunktioniert worden. Nachdem seine Heimatprovinz durch die Taliban übernommen worden sei, sei er aufgrund des geschenkten Grundstücks bedroht worden. Auch seine Mutter und Schwester hätten die Heimatprovinz verlassen und seien nach Kabul geflüchtet.

3.       Bei seiner niederschriftlichen Einvernahme vor der belangten Behörde am 15.05.2017 wiederholte der Beschwerdeführer im Wesentlichen seine im Rahmen der Erstbefragung getätigten Angaben und führte ergänzend zusammengefasst aus, er sei mittels Drohbriefen, welche durch die Taliban an öffentlichen Orten angebracht worden seien, aufgrund einer ihm unterstellten politischen regierungsunterstützenden Gesinnung mit dem Tod bedroht worden. Die Drohbriefe seien an jene Personen gerichtet gewesen, welche mit der Regierung zusammengearbeitet hätten. Da auf dem ehemligen Grundstück seiner Eltern eine Polizeistation gestanden sei, sei sein Leben als einziges männliches Familienmitglied seiner Familie und somit als Regierungsunterstützer in Gefahr gewesen. Er sei zudem auch von den Taliban aufgehalten und verletzt worden. Darüber hinaus sei er in Kabul aufgrund seiner beruflichen Erfolge bei der XXXX sowie seiner Interviews bei diversen Sendern durch den Leiter XXXX bedroht worden.

Der Beschwerdeführer legte im Zuge seiner niederschriftlichen Einvernahme vor der belangten Behörde einen afghanischen Ausweis „Assistant of Trainer“ zum Nachweis seiner Tätigkeit als Trainer bei der XXXX sowie weitere Integrationsunterlagen vor.

4.       Mit dem angefochtenen Bescheid vom 26.06.2017, der dem Beschwerdeführer am 29.06.2017 durch Hinterlegung zugestellt wurde, wies die belangte Behörde den Antrag des Beschwerdeführers auf internationalen Schutz gemäß § 3 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG 2005 hinsichtlich der Zuerkennung des Status eines Asylberechtigten ab (Spruchpunkt I.). Gemäß § 8 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG 2005 wurde der Antrag auf internationalen Schutz auch hinsichtlich der Zuerkennung des Status eines subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Afghanistan abgewiesen (Spruchpunkt II.). Dem Beschwerdeführer wurde kein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen gemäß § 57 AsylG erteilt. Gemäß § 10 Abs. 1 Z 3 AsylG iVm § 9 BFA-VG wurde gegen den Beschwerdeführer eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs. 2 Z 2 FPG erlassen. Gemäß § 52 Abs. 9 FPG wurde festgestellt, dass die Abschiebung gemäß § 46 FPG nach Afghanistan zulässig sei (Spruchpunkt III.). Weiters wurde ausgesprochen, dass gemäß § 55 Abs. 1 bis 3 FPG die Frist für die freiwillige Ausreise 14 Tage ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung betrage (Spruchpunkt IV.).

Hinsichtlich Spruchpunkt I. wurde ausgeführt, dass die Angaben des Beschwerdeführers nicht glaubhaft seien, da er den fluchtauslösenden Grund, nämlich die Bedrohung bzw. Verfolgung in Kabul aufgrund seiner Tätigkeit als Trainer bei der XXXX in seiner Erstbefragung mit keinem Wort erwähnt habe. Auch die weiteren Ausführungen des Beschwerdeführers in Zusammenhang mit seiner Verfolgung in Kabul seien nicht überzeugend. Darüber hinaus sei auch das in der Erstbefragung vorgebrachte Fluchtvorbringen aufgrund seiner widersprüchlichen und unplausiblen Angaben nicht glaubhaft. Der Beschwerdeführer sei nach seiner Umsiedlung nach Kabul mehrere Male problemlos in seiner Heimatprovinz aufhältig gewesen. Zudem sei der Beschwerdeführer in seinem Heimatdorf nie von den Taliban persönlich kontaktiert, bedroht oder verfolgt worden. Auch habe der Beschwerdeführer widersprüchliche zeitliche Angaben im Zusammenhang mit seinen Aufenthalten in seinem Heimatdorf gemacht. Aus der Tatsache, dass seine Familie noch zwei Jahre nach seiner Umsiedlung nach Kabul unbehelligt in seinem Heimatdorf habe leben können, sei abzuleiten, dass eine Gefahrensituation auch für den Beschwerdeführer nicht bestanden habe. Der vom Beschwerdeführer geschilderte Vorall auf der Fahrt nach Kabul sowie auf dem Rückweg sei aufgrund dessen, dass der Beschwerdeführer abgesehen von der erlittenen Körperverletzung keinen weiteren Schaden davongetragen habe, nicht plausibel. Zu Spruchpunkt II. wurde ausgeführt, dass der Beschwerdeführer nach Afghanistan zurückkehren könne und ihm eine innerstaatliche Fluchtalternative in den Städten Kabul, Mazar-e Sharif und Herat zur Verfügung stehe.

5.       Mit Verfahrensanordnung vom 27.06.2017 wurde dem Beschwerdeführer ein Rechtsberater für das Beschwerdeverfahren vor dem Bundesverwaltungsgericht zur Seite gestellt.

6.       Am 11.06.2017 brachte der Beschwerdeführer fristgerecht Beschwerde gegen alle Spruchpunkte des genannten Bescheides ein.

Begründet wurde ausgeführt, die belangte Behörde habe ein mangelhaftes Ermittlungsverfahren geführt, indem sie insbesondere ihre Feststellungen zur Situation in Afghanistan auf unvollständige Länderberichte gestützt habe. Ebenfalls mangelhaft sei die Beweiswürdigung. Die belangte Behörde habe das Fluchtvorbringen des Beschwerdeführers nicht gewürdigt und unterlassen, notwendige Ermittlungen im Lichte der Länderberichte zur Festlegung des entscheidungsrelevanten Sachverhalts anzustellen. Unabhängig davon lasse die Sicherheits- und Versorgungslage in Afghanistan eine Rückkehr nicht zu, sodass ihm zumindest der Status des subsidiär Schutzberechtigten zu gewähren wäre.

Mit der Beschwerde wurde ein Foto des Beschwerdeführers zum Nachweis seines Interviews XXXX vorgelegt.

7.       Die Beschwerde und der Bezug habende Verwaltungsakt langten am 19.06.2017, mit Schreiben vom 14.06.2017, beim Bundesverwaltungsgericht ein.

8.       Am 27.07.2017 brachte der Beschwerdeführer das Teilprüfungszeugnis aus Englisch – Globalität und Transkulturalität vom 03.07.2017 ein.

9.       Mit Schreiben vom 03.05.2018 legte der Beschwerdeführer ergänzend das Zeugnis über die Pflichtschulabschluss-Prüfung vom 02.05.2018 vor.

10.      Am 12.09.2018 bracht der Beschwerdeführer eine Stellungnahme, ein Gutachten des XXXX Instituts für Menschenrechte sowie einen Lehrvertrag vom 15.05.2018 ein.

11.      Am 15.10.2018 übermittelte die belangte Behörde einen Abtretungsbericht der LPD Kärnten wegen des Verdachts auf Verletzung des Suchtmittelgesetzes gemäß § 27 Abs. 2 durch den Beschwerdeführer.

12.      Am 14.05.2019 zeigte der im Spruch genannte Rechtsvertreter seine Bevollmächtigung an.

13.      Am 20.01.2020 langten der Lehrvertrag, eine Mitteilung über das Lehrverhältnis sowie das Infoblatt „Lehrlinge“ ein.

14.      Am 15.04.2021 brachte der Beschwerdeführer ein Empfehlungsschreiben seiner Lebensgefährtin ein.

15.      Am 27.05.2021 langte das Lehrabschlussprüfungszeugnis des Beschwerdeführers vom 11.05.2021 ein.

16.      Am 16.06.2021 fand vor dem Bundesverwaltungsgericht eine öffentliche mündliche Verhandlung statt. Die belangte Behörde blieb der Verhandlung fern. Im Rahmen der mündlichen Beschwerdeverhandlung wurde der Beschwerdeführer im Beisein einer Dolmetscherin für die Sprache Dari u.a. zu seiner Identität und Herkunft, zu den persönlichen Lebensumständen, seinen Familienangehörigen, seinen Fluchtgründen und Rückkehrbefürchtungen sowie zu seinem Privat- und Familienleben in Österreich ausführlich befragt.

Der Beschwerdeführer legte Unterlagen bezüglich seiner Integrationsbemühungen vor: den aktuellen Arbeitsvertrag vom 13.05.2021 mit Empfehlungsschreiben des Arbeitgebers vom 06.06.2021, einen Gehaltszettel vom Mai 2021, ein Konvolut an Lichtbildern mit der Lebensgefährtin, eine Teilnahmebestätigung vom XXXX vom 20.07.2017.

17.      Das erkennende Gericht brachte Erkenntnisquellen zum Herkunftsstaat des Beschwerdeführers in das Verfahren ein: Länderinformationsblatt der Staatendokumentation zu Afghanistan, Gesamtaktualisierung am 11.06.2021; EASO Country Guidance Afghanistan vom Dezember 2020; Dossier der Staatendokumentation: Stammes- und Clanstruktur vom 2016; Themendossier zu Afghanistan: Sicherheitslage und sozioökonomische Lage in Herat und Masar-e Sharif vom 16.10.2020, vom 27.01.2021 sowie vom 06.05.2021; Themendossier zu Afghanistan: Überblick über die Sicherheitslage in Afghanistan vom 06.05.2021; Anfragebeantwortung zu Afghanistan: Lokale Sicherheits- und Versogungslage in der Stadt Masar-e Sharif und Umgebung, Besonderheiten aufgrund der Corona-Pandemie vom 30.04.2020; Anfragebeantwortung zu Afghanistan: Lokale Sicherheits- und Versogungslage in der Stadt Herat, Besonderheiten aufgrund der Corona-Pandemie vom 23.04.2020; Anfragebeantwortung Afghanistan: Apostasie, Blasphemie, Konversion, Verstoß gegen islamischen Verhaltensregeln, gesellschaftliche Wahrnehmung von RückkehrerInnen aus Europa vom 15.06.2020; Landinfo Report Afghanistan „Der Nachrichtendienst der Taliban und die Einschüchterungskampagne“ vom 23.10.2017. Auf die UNHCR-Richtlinien zur Feststellung des internationalen Schutzbedarfs afghanischer Asylsuchender vom 30.08.2018 wurde verwiesen.

Der Beschwerdeführer nahm in der Beschwerdeverhandlung Stellung zu den in das Verfahren eingebrachten Erkenntnisquellen. Im Wesentlichen verwies der Beschwerdeführer auf das bisherige Vorbringen und schilderte seine Integrationsbemühungen.

18.      Am 29.07.2021 wurde den Parteien die Kurzinformation der Staatendokumentation vom 19.07.2021 übermittelt.

19.      Am 06.08.2021 wurde den Parteien die Kurzinformation der Staatendokumentation vom 02.08.2021 übermittelt.

20.      Am 09.08.2021 langte eine Stellungnahme des Beschwerdeführers ein.

II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:

1. Feststellungen (Sachverhalt):

1.1. Zur Person des Beschwerdeführers:

Aufgrund des Asylantrags vom 25.10.2015, der Erstbefragung des Beschwerdeführers durch Organe des öffentlichen Sicherheitsdienstes am 26.10.2015, durch die Einvernahme der belangte Behörde am 15.05.2017, der Beschwerde vom 11.07.2017 gegen den Bescheid der belangten Behörde vom 26.06.2017, der Einsichtnahme in den Verwaltungsakt der belangten Behörde, der Einsichtnahmen in das zentrale Melderegister, in das Grundversorgungs-Informationssystem, in das Strafregister, die vom Beschwerdeführer vorgelegten Dokumente und Stellungnahmen sowie auf Grundlage der vor dem Bundesverwaltungsgericht durchgeführten mündlichen Verhandlungen werden die folgenden Feststellungen getroffen und der Entscheidung zugrunde gelegt:

Der Beschwerdeführer führt den Namen XXXX . Er ist Staatsangehöriger von Afghanistan, gehört der Volksgruppe der Hazara an und ist schiitischer Moslem. Seine Muttersprache ist Dari, er beherrscht außerdem die Sprachen Urdu, Paschtu, Englisch und Deutsch in Wort und Schrift. Außerdem spricht er Hindi. Er ist nicht verheiratet, und hat keine Kinder.

Der Beschwerdeführer wurde in XXXX , im Distrikt XXXX , in der Provinz Maidan Wardak geboren und hat dort gemeinsam mit seinen Eltern und seiner Schwester bis zu einem nicht näher feststellbaren Zeitpunkt gelebt. Der Beschwerdeführer verließ im Kleinkindalter gemeinsam mit seiner Familie Afghanistan und lebte ca. bis 2001 oder 2002 in Pakistan. Danach kehrte er gemeinsam mit seiner Familie wieder nach Afghanistan in sein Heimatdorf zurück und lebte ca. bis 2012 bzw. 2013 in der Heimatprovinz. Der Vater des Beschwerdeführers ist nach der Wiedereinreise von Pakistan nach Afghanistan zu einem nicht näher feststellbaren Zeitpunkt eines natürlichen Todes verstorben. Ab dem Jahr 2013 lebte der Beschwerdeführer in Kabul. In Kabul mietete der Beschwerdeführer ein großes Haus, wobei er ein Zimmer selbst bewohnt und die restlichen Zimmer Studenten untervermietet hat. Auf diese Weise hat der Beschwerdeführer für eine Einkommensquelle gesorgt und die Kosten für das gemietete Haus beglichen. Der Beschwerdeführer organisierte und veranlasste kurz vor seiner Ausreise aus Afghanistan die Umsiedlung seiner Mutter und Schwester nach Kabul.

Die Schwester des Beschwerdeführers ist verheiratet und wird von ihrem Ehemann versorgt. Die Mutter des Beschwerdeführers lebt bei seinem Onkel väterlicherseits in Kabul. Die Mieteinnahmen aus der Vermietung des in Kabul bestehenden Hauses erhält die Mutter des Beschwerdeführers, wobei auch er bei Bedarf seine Mutter finanziell von Österreich aus unterstützt. Die Familie des Beschwerdeführers hat keine finanziellen Probleme. Der Beschwerdeführer hat Kontakt mit seiner Familie.

Der Beschwerdeführer hat drei Onkel, drei Tanten sowie eine Großmutter väterlichereseits. Außerdem hat er einen Onkel und zwei Tanten mütterlicherseits. Die Verwandten des Beschwerdeführers leben in Afghanistan.

Der Beschwerdeführer besuchte zwölf Jahre lang die Schule in Maidan Wardak, wobei er in den letzten zwei Jahren seiner Schulausbildung ausschließlich zur Ablegung der für den Abschluss notwendigen Prüfungen in der Schule in seiner Heimatprovinz anwesend war und aus diesem Grund zwischen Kabul und Maidan Wardak pendelte. Der Beschwerdeführer war sowohl in Kabul als auch in Maidan Wardak im Bereich „Autoteile- und Automotoren-Handel“ im Geschäft seines Onkels tätig, wobei er aufgrund seiner Englischkenntnisse die Verwaltungsaufgaben übernahm. Der Beschwerdeführer eignete sich durch Beobachtung anderer Schwimmer sowie das Studium diverser CD-Tutorials Schwimmfähigkeiten an und absolvierte einen Schwimmkurs bei einem Schwimmlehrer, welcher ein amerikanischer Statsangehöriger war. Der Beschwerdeführer arbeitete sodann im Zeitraum von 2013 bis 2015 als Schwimmtrainer, Rettungsschimmer sowie ein Jahr lang als Trainer bei der XXXX . Außerdem war der Beschwerdeführer ein halbes Jahr Mitglied der XXXX . Der Beschwerdeführer arbeitete bei einem Schwimmbad als Bademeister und hat Interessenten als Schwimmtrainer Privatunterricht gegeben. Während seiner Tätigkeit als Trainer bei der XXXX gab der Beschwerdeführer Interviews bei verschiedenen Sendern, unter anderem ein Interview bei „ XXXX “ und erreichte folglich eine gewisse Bekanntheit in seinem Herkunftsstaat.

1.2. Zum Leben des Beschwerdeführers in Österreich:

Der Beschwerdeführer hat sich in Österreich bereits sehr gut eingelebt und ist als sehr gut integriert in die österreichische Gesellschaft zu betrachten. Er nutzte von Anbeginn seines Aufenthaltes in Österreich zahlreiche Bildungsangebote. Der Beschwerdeführer schloss die Pflichtschule am 02.05.2018 ab und absolvierte von 14.05.2018 bis 13.05.2021 eine reguläre Lehre im Lehrberuf „Koch“. Der Beschwerdeführer arbeitet derzeit in einem Familienbetrieb als Jungkoch. Er ist seit Beginn seiner Lehre selbsterhaltungsfähig und bezieht keine Leistungen aus der Grundversorgung. Der Beschwerdeführer betätigte sich ehrenamtlich im Wirtschaftshof der XXXX und unterrichtete minderjährige Kinder als Schwimmlehrer. Sportlich war der Beschwerdeführer in einem Fitness- und Schwimmverein aktiv. Der Beschwerdeführer hat vom 12.07.2017 bis 20.07.2017 im Rahmen des EU-Programms Erasmus+ an der Jugendbegegnung „Medienwelt“ teilgenommen.

Der Beschwerdeführer besuchte nach seiner Einreise in Österreich einen Deutschkurs und absolvierte das ÖSD Sprachzertifikat A1. Danach nahm er zwar an keinem weiteren Deutschkurs mehr teil, erlangte aber beachtliche Deutschkenntnisse durch sein deutschsprachiges Umfeld und verfügt über gute Deutschkenntnisse. Er verständigte sich im Rahmen der mündlichen Verhandlung vor dem Bundesverwaltungsgericht am 16.06.2021 in weiten Teilen in deutscher Sprache und erzählte hierbei ausführlich und ohne Schwierigkeiten von seinem Leben in Österreich, insbesondere von seinen Zukunftsplänen sowie der Beziehung mit seiner Freundin. Er hat viele österreichische und afghanische Freunde gefunden, die er regelmäßig trifft. Seine afghanischen Freunde sind liberal und offen eingestellt. Gemeinsam gehen sie in die Disco und trinken Alkohol.

Der Beschwerdeführer ist ledig, seit Sommer 2019 führt er jedoch mit einer österreichischen Staatsangehörigen, welche in Niederösterreich wohnt und in der mündlichen Verhandlung als Zeugin befragt wurde, eine nichteheliche Beziehung. Den gemeinsamen Haushalt, in dem der Beschwerdeführer und seine Freundin von ca. 2019 bis 2020, sohin ein Jahr lang lebten, haben sie aus beruflichen Gründen aufgelöst und führen seitdem eine Fernbeziehung. Der Beschwerdeführer möchte mit seiner Freundin wieder zusammenziehen, eine Verehelichung ist nicht geplant. Die Beziehung des Beschwerdeführers mit seiner Freundin weist kein traditionelles Beziehungsmuster auf. Zur Zeit des gemeinsamen Haushalts entsprach die Rollenverteilung dem westlichen Lebensstil, somit einer gleichberechtigten und modernen Beziehung, sodass beispielsweise die Haushaltsaufgaben von beiden gleichermaßen erledigt werden. Der Beschwerdeführer unternimmt mit seiner Freundin in seiner Freizeit verschiedene Aktivitäten, wie die Erkundung neuer Ortschaften oder Bewegung in der Natur und führt ein intensives Privatleben mit seiner Freundin. Der Beschwerdeführer sieht seine Freundin alle zwei Wochen, wobei meistens er nach Niederösterreich zu seiner Freundin fährt.

Der Beschwerdeführer hat in Österreich keine Familienangehörigen. Er hat in Österreich eine Frau kennengelernt, welche er als seine „österreichische Mutter“ bezeichnet, die dem Beschwerdeführer beim Erlenen der deutschen Sprache sowie bei Angelegenheiten des täglichen Lebens unterstützte. Der Beschwerdeführer pflegt zu seiner „österreichischen Muter“ ein freundschaftliches Verhältnis.

Der Beschwerdeführer ist gesund und ist strafgerichtlich unbescholten.

1.3. Zu den Fluchtgründen des Beschwerdeführers:

Der Beschwerdeführer ist aufgrund seiner damaligen Tätigkeit bei der XXXX und seiner Mitgliedschaft bei der XXXX sowie aufgrund seiner erreichten Bekanntheit in der afghanischen Gesellschaft aufgrund der Teilnahme an Interviews bei staatlichen Sendern asylrelevanter Verfolgung ausgesetzt.

Darüber hinaus lebt der Beschwerdeführer einen fortschrittlichen, „westlich orientierten“ Lebensstil, der mit den Normen und Grundsätzen der afghanischen, wertkonservativ islamischen Gesellschaft nicht vereinbar ist. Die persönliche Haltung und Denkweise des Beschwerdeführers entspricht nicht den in der afghanischen Gesellschaft bislang vorherrschenden Denkweisen und gesellschaftlich-religiösen Traditionen. Er lehnt aufgrund seiner weltoffenen Lebenseinstellung und seiner Wahrnehmung der Entwicklung in Afghanistan deutlich erkennbar die in der afghanischen Gesellschaft vorherrschende konservativ-restriktive Wertehaltung insgesamt und insbesondere auch hinsichtlich der Rolle und Stellung von Frauen ab. Die Distanz des Beschwerdeführers vom herkömmlichen Rollenverständnis der Frauen in Afghanistan spiegelt sich auch in seiner Beziehung wider, in der die Rollenaufteilung dem westlichen Lebenstil entspricht (siehe Punkte 1.2.). Er ist von seiner persönlichen Wertehaltung her stark an dem in Europa mehrheitlich gelebten liberalen Gesellschaftsbild orientiert. Der Beschwerdeführer glaubt zwar an Gott, hält sich jedoch nicht an die Regeln des Islam. Der Beschwerdeführer geht nicht in die Moschee, betet nicht und fastet auch nicht. Das Beten und Fasten hat für den Beschwerdeführer keine besondere Bedeutung, da für ihn andere Werte wie die Menschlichkeit und Hilfsbereitschaft ungeachtet der Religion, Sprache und Nationalität eines Menschen die höchste Priorität haben. Weiters ist für ihn der Respekt sowie die Gleichbehandlung zwischen Männern und Frauen und der Umstand, dass Frauen sich in Österreich frei entfalten können, wesentlich. All diese Werte sind in den letzten Jahren besonders wichtig für ihn geworden und hat er diese verinnerlicht.

Ferner führt er mit seiner Freundin eine uneheliche Beziehung, mit welcher er ohne Eingehung einer Ehe zusammenleben möchte und lebt daher ein sehr modernes Leben, welches in Afghanistan insbesondere unter der Talibanherrschaft nicht möglich wäre. Der Beschwerdeführer vertritt seine liberale und weltoffene Einstellung auch in der Öffentlichkeit. Er hat keine Berührungsängste mit anderen Religionen und ist der österreichischen bzw. westlichen Kultur und österreichischen Gesellschaft gegenüber sehr aufgeschlossen, so feiert er gemeinsam mit der Familie seiner Freundin christliche Feiertage wie Weihnachten. Ihm ist es überaus wichtig, in Freiheit leben und über sein Leben selbst entscheiden zu können. Er legt großen Wert auf Bildung. Die von der konservativ-afghanischen Tradition geprägten Lebensumstände, mit welchen der Beschwerdeführer im hypothetischen Fall eines Lebens in Afghanistan konfrontiert wäre, stehen mit jenen, welche er sich aus freiem Willen zu gestalten bzw. bereits gestaltet hat, ganz offensichtlich im unüberwindbaren Gegensatz.

Bei einer Rückkehr nach Afghanistan läuft der Beschwerdeführer Gefahr, Gewalthandlungen, erheblichen Eingriffen in seine Unversehrtheit und/oder gravierenden Bedrohungen durch die Taliban, welche aktuell die Gebietshoheit in Afghanistan ausüben, ausgesetzt zu sein.

Gründe, nach denen ein Ausschluss des Beschwerdeführers hinsichtlich der Asylgewährung zu erfolgen hat, sind im Verfahren nicht hervorgekommen.

1.2. Zur maßgeblichen Situation in Afghanistan:

Die Länderfeststellungen zur Lage in Afghanistan basieren auf nachstehenden Quellen:

-        aktuelle Medienberichte

-        Sonderkurzinformation der Staatendokumentation vom 17.08.2021

-        ACCORD Anfragebeantwortung Afghanistan: Apostasie, Blasphemie, Konversion, Verstoß gegen islamischen Verhaltensregeln, gesellschaftliche Wahrnehmung von RückkehrerInnen aus Europa vom 15.06.2020

-        UNHCR Richtlinien zur Feststellung des internationalen Schutzbedarfs afghanischer Asylsuchender vom 30.08.2018 (UNHCR)

a. Medienberichte

Die Feststellungen zur aktuellen Situation beruhen auf den aktuellsten Berichten angesehener seriöser Medien. Aufgrund der Vielzahl an übereinstimmenden Berichten, die zudem als allgemein bekannt vorausgesetzt werden können, ist nur auf eine Auswahl verschiedener Artikel zu verweisen (siehe

https://www.derstandard.at/story/2000128854309/niederlande-und-deutschland-setzen-abschiebungen-nach-afghanistan-aus; https://taz.de/Taliban-uebernehmen-Afghanistan/!5789645/; https://tolonews.com/index.php/afghanistan-174247; https://tolonews.com/index.php/afghanistan-174245; https://www.bbc.com/news/live/world-asia-58219963; https://www.diepresse.com/6021224/taliban-erreichen-kabul-prasidentenpalast-eingenommen?from=rss; https://www.sueddeutsche.de/politik/afghanistan-aktuell-taliban-kabul-evakuierung-1.5377155; https://www.derstandard.at/story/2000128937798/kabul-faellt-kampflos-an-die-taliban?ref=rec; https://www.diepresse.com/6021466/prasident-ghani-habe-afghanistan-verlassen-um-blutvergiessen-zu-vermeiden?from=rss; https://tolonews.com/afghanistan-174248; https://tolonews.com/afghanistan-174252; https://www.diepresse.com/6021482/taliban-der-krieg-in-afghanistan-ist-vorbei?from=rss; https://www.sueddeutsche.de/politik/konflikte-abdullah-afghanistans-praesident-aschraf-ghani-hat-das-land-verlassen-dpa.urn-newsml-dpa-com-20090101-210815-99-850834; https://www.derstandard.at/story/2000128988237/taliban-geben-sich-in-pressekonferenz-mildevizechef-in-afghanistan-eingetroffen; https://www.diepresse.com/6022198/die-milden-worte-der-ersten-taliban-pressekonferenz?from=rss; https://orf.at/stories/3225195/; https://www.bbc.com/news/world-asia-58250607; https://www.sueddeutsche.de/politik/konflikte-taliban-uebernehmen-wichtigste-behoerden-in-afghanistan-dpa.urn-newsml-dpa-com-20090101-210817-99-874853; https://www.faz.net/aktuell/politik/ausland/afghanistan-wie-die-taliban-sich-um-vertrauen-bemuehen-17489392.html; https://tolonews.com/afghanistan-174273; https://www.sueddeutsche.de/politik/konflikte-taliban-machen-versprechungen-us-regierung-skeptisch-dpa.urn-newsml-dpa-com-20090101-210817-99-876345; https://tolonews.com/afghanistan-174269; https://pajhwok.com/2021/08/17/i-am-legitimate-care-taker-president-saleh/; https://www.diepresse.com/6022442/das-panjshir-tal-eine-provinz-widersetzt-sich-den-taliban; https://edition.cnn.com/videos/world/2021/08/13/taliban-former-us-military-base-afghanistan-ghazni-province-ward-dnt-lead-vpx.cnn; Zugriff jeweils am 24.08.2021; https://orf.at/stories/3225186/; https://www.tagesschau.de/ausland/asien/afghanistan-hunger-101.html; https://www.tagesschau.de/wirtschaft/weltwirtschaft/taliban-zentralbank-devisenreserven-afghanistan-usa-101.html; https://orf.at/stories/3225407/; https://orf.at/stories/3225342/; https://orf.at/stories/3225568/; https://www.derstandard.at/story/2000129048886/usa-und-andere-staaten-forcieren-evakuierung-aus-afghanistan; https://www.diepresse.com/6022895/das-dilemma-der-taliban-macht-aber-keinen-zugriff-auf-die-konten?from=rss; https://orf.at/#/stories/3225576/; https://www.bbc.com/news/world-asia-58271517; https://www.faz.net/aktuell/wirtschaft/auf-einfuhren-angewiesen-warum-in-afghanistan-bald-hunger-drohen-koennte-17492635.html; https://www.amnesty.org/en/latest/news/2021/08/afghanistan-taliban-responsible-for-brutal-massacre-of-hazara-men-new-investigation/; https://www.bbc.com/news/world-asia-58277463; Zugriff jeweils am 25.08.2021)

Die Taliban haben in Afghanistan so gut wie kampflos die Macht übernommen haben, während der Präsident und einige weitere Regierungsmitglieder ins Ausland geflohen sind. Der erste Vizepräsident der international anerkannten Regierung befindet sich nach seinen eigenen Angaben noch in Afghanistan und bezeichnet sich als rechtmäßiger Übergangspräsident. Er hat öffentlich aufgerufen, sich dem Widerstand anzuschließen, der sich versucht, im Pandschir-Tal zu organisieren. Im gesamten restlichen Staatsgebiet haben die Taliban die Staatsfunktionen übernommen und bereits einen Angriff auf die Widerstandskämpfer angekündigt. In einer Pressekonferenz erklärten die Taliban eine Generalamnestie für alle Regierungsmitarbeiter und alle Afghanen, die mit den ausländischen Militärs zusammengearbeitet hätten. Weiters gaben die Taliban in ihrer Pressekonferenz unter anderem an, dass auch die Minderheitsrechte geachtet würden, dies allerdings nur innerhalb der Scharia.

In der internationalen Staatengemeinschaft wird dieses Versprechen der Taliban aufgrund der bisherigen schlechten Erfahrungen mit Versprechen der Taliban, ihrem Verhalten in ihrer früheren Herrschaft, aber auch wegen der Ermordung des Chefs des Informationszentrums der Taliban elf Tage vor der Pressekonferenz durch die Taliban selbst sowie aufgrund von Berichten über aktuelle Menschenrechtsverletzungen mit großer Skepsis gesehen. In Bamyan wurde bereits eine Statue eines Hazara-Führers von den Taliban geköpft. Weiteren Berichten zufolge haben die Taliban nach Eroberung der Provinz Ghazni Anfang Juli Angehörige der Minderheit der schiitischen Hazara exekutiert. Anderen Berichten zufolge haben die Taliban in den größeren Städten die Aschura-Feierlichkeiten der Schiiten abgesichert.

Die Situation in Afghanistan ist derzeit aufgrund der dramatischen Ereignisse vor Ort (vgl. Sonderkurzinformation der Staatendokumentation vom 17.08.2021, S 4, sowie vom 20.08.2021, S. 1f) unübersichtlich. Vor allem rund um den Flughafen in Kabul ist sie chaotisch, die Taliban kontrollieren die Zufahrtsstraßen. In Kabul wie auch in anderen Landesteilen wurde am Unabhängigkeitstag Afghanistans mit der Flagge Afghanistans demonstriert. Teils wurden diese Demonstrationen mit Waffengewalt aufgelöst. Nach Berichten sind neben Frauen und Menschenrechtsaktivisten vor allem die Angehörigen der schiitischen Hazara aufgrund der Machtübernahme durch die Taliban beunruhigt und bewegen sich kaum mehr öffentlich. Viele Afghanen sind vor der Machtübernahme der Taliban in die Städte, vor allem nach Kabul, geflüchtet, wo sie teils auf den Straßen campieren. Die wirtschaftliche Lage in Afghanistan wie auch die Versorgungslage der Bevölkerung ist sehr angespannt. Die Taliban haben keinen Zugriff auf die Devisenreserven des Landes.

Die übereinstimmenden Berichte legen dar, dass – auch wenn die Situation außerhalb des Flughafengeländes beziehungsweise seiner Umgebung Großteils relativ ruhig sein soll – vor allem die wirtschaftliche Situation derzeit besonders angespannt ist, zumal nicht klar ist, ob die Nichtregierungsorganisationen weiterarbeiten können/wollen und derzeit auch kein Zugriff auf die Reserven der Nationalbank besteht. Hinzu kommt, dass die (temporären) Unterkünfte wie Hotels oder Teehäuser derzeit aufgrund der allgemeinen Lage weitgehend geschlossen sind. Auch der Arbeitsmarkt ist von den Unruhen betroffen. Aufgrund der unübersichtlichen Situation in Afghanistan stehen Rückkehrer derzeit vor unüberwindbaren Hürden. Zudem ist nicht einmal eine Anreise möglich, ist doch der Flughafen Kabul weitestgehend nur für militärische Evakuierungsflüge offen, während rund um ihn die Taliban Checkpoints errichtet haben und nicht annähernd klar ist, wer wann wie durchgelassen wird.

Die derzeit in ganz Afghanistan herrschende schlechte Sicherheitslage zeigt sich auch darin, dass bereits viele europäische Staaten, wie unter anderem Deutschland, Frankreich, Schweden und die Niederlande, vorübergehend Abschiebungen nach Afghanistan ausgesetzt haben, zumal der Wunsch danach von mittlerweile abgelösten Regierungsvertretern geäußert wurde, die die Lage aus nächster Nähe einschätzen konnten.

b. Sonderkurzinformation der Staatendokumentation vom 17.08.2021

„Aktuelle Lage in Afghanistan:

Anbei eine Zusammenfassung zur derzeitigen Lage in Afghanistan.

Diese kann sich aufgrund der derzeit sehr volatilen Lage im Land jederzeit rasch ändern!

Der afghanische Präsident Ashraf Ghani ist angesichts des Vormarsches der Taliban auf Kabul außer Landes geflohen. Laut al-Jazeera soll das Ziel Taschkent in Usbekistan sein. Inzwischen haben die Taliban die Kontrolle über den Präsidentenpalast in Kabul übernommen. Suhail Schahin, ein Unterhändler der Taliban bei den Gesprächen mit der afghanischen Regierung in Katar, versicherte den Menschen in Kabul eine friedliche Machtübernahme und keine Racheakte an irgendjemanden zu begehen (tagesschau.de 15.8.2021).

Am 15.08.21 haben die Taliban mit der größtenteils friedlichen Einnahme Kabuls und der Besetzung der Regierungsgebäude und aller Checkpoints in der Stadt den Krieg für beendet erklärt und das Islamische Emirat Afghanistan ausgerufen. Man wünsche sich friedliche Beziehungen mit der internationalen Gemeinschaft. Die erste Nacht unter der Herrschaft der Taliban im Land sei ruhig verlaufen. Chaotische Szenen hätten sich nur am Flughafen in Kabul abgespielt, von welchem sowohl diplomatisches Personal verschiedener westlicher Länder evakuiert wurde als auch viele Afghanen versuchten, außer Landes zu gelangen. Den Taliban war es zuvor gelungen, innerhalb kürzester Zeit fast alle Provinzen sowie alle strategisch wichtigen Provinzhauptstädte wie z.B. Kandahar, Herat, Mazar-e Sharif, Jalalabad und Kunduz einzunehmen. In einigen der Städte seien Gefängnisse gestürmt und Insassen befreit worden (BAMF 16.8.2021; vgl. bbc.com o.D., orf.at 16.8.2021).

Die Taliban zeigten sich am Sonntag gegenüber dem Ausland unerwartet diplomatisch. „Der Krieg im Land ist vorbei“, sagte Taliban-Sprecher Mohammed Naim am Sonntagabend dem Sender al-Jazeera. Bald werde klar sein, wie das Land künftig regiert werde. Rechte von Frauen und Minderheiten sowie die Meinungsfreiheit würden respektiert, wenn sie der Scharia entsprächen. Man werde sich nicht in Dinge anderer einmischen und Einmischung in eigene Angelegenheiten nicht zulassen (orf.at 16.8.2021a).

Schätzungen zufolge wurden seit Anfang 2021 über 550.000 Afghanen durch den Konflikt innerhalb des Landes vertrieben, darunter 126.000 neue Binnenvertriebene zwischen dem 7. Juli 2021 und dem 9. August 2021. Es gibt zwar noch keine genauen Zahlen über die Zahl der Afghanen, die aufgrund der Feindseligkeiten und Menschenrechtsverletzungen aus dem Land geflohen sind, es deuten aber Quellen darauf hin, dass Zehntausende von Afghanen in den letzten Wochen internationale Grenzen überquert haben (UNHCR 8.2021).

Der Iran richtete angesichts des Eroberungszugs der militant-islamistischen Taliban im Nachbarland Pufferzonen für Geflüchtete aus dem Krisenstaat ein. Die drei Pufferzonen an den Grenzübergängen im Nord- sowie Südosten des Landes sollen afghanischen Geflüchteten vorerst Schutz und Sicherheit bieten. Indes schloss Pakistan am Sonntag einen wichtigen Grenzübergang zu seinem Nachbarland. Innenminister Sheikh Rashid verkündete die Schließung des Grenzübergangs Torkham im Nordwesten Pakistans am Sonntag, ohne einen Termin für die Wiedereröffnung zu nennen. Tausende Menschen säßen auf beiden Seiten der Grenze fest (orf.at 16.8.2021b).

Mittlerweile baut die Türkei an der Grenze zum Iran weiter an einer Mauer. Damit will die Türkei die erwartete Ankunft von afghanischen Flüchtlingen verhindern (Die Presse 17.8.2021).

Medienberichten zufolge haben die Taliban in Afghanistan Checkpoints im Land errichtet und sie kontrollieren auch die internationalen Grenzübergänge (bisherige Ausnahme: Flughafen Kabul). Seit Besetzung der strategischen Stadt Jalalabad durch die Taliban, wurde eine Fluchtbewegung in den Osten (Richtung Pakistan) deutlich erschwert. Die Wahrscheinlichkeit, dass Afghanen aus dem westlichen Teil des Landes oder aus Kabul nach Pakistan gelangen ist gegenwärtig eher gering einzuschätzen. Es ist naheliegender, dass Fluchtrouten ins Ausland über den Iran verlaufen. Es ist jedoch auch denkbar, dass die mehrheitlich sunnitische Bevölkerung Afghanistans (statt einer Route über den schiitisch dominierten Iran) stattdessen die nördliche, alternative Route über Tadschikistan oder auch Turkmenistan wählt. Bereits vor zwei Monaten kam es laut EU-Kollegen zu einem Anstieg von Ankünften afghanischer Staatsbürger in die Türkei. Insofern ist davon auszugehen, dass eine erste Migrationsbewegung bereits stattgefunden hat. Pakistan gibt laut Medienberichten an, dass der Grenzzaun an der afghanisch-pakistanischen Grenze halte (laut offiziellen Angaben sind etwa 90 Prozent fertiggestellt) (VB 17.8.2021).

Laut Treffen mit Frontex, kann zur Türkei derzeit noch keine Veränderung der Migrationsströme festgestellt werden. Es finden täglich nach Schätzungen ca. max. 500 Personen ihren Weg (geschleust) vom Iran in die Türkei. Dies ist aber keine außergewöhnlich hohe Zahl, sondern eher der Durchschnitt. Der Ausbau der Sicherung der Grenze zum Iran mit Mauer und Türmen schreitet immer weiter voran, und nach einstimmiger Meinung von Mig VB und anderen Experten kann die Türkei mit ihrem Militär (Hauptverantwortlich für die Grenzsicherung) und Organisationen (Jandarma, DCMM) jederzeit, je nach Bedarf die illegale Einreise von Flüchtlingen aus dem Iran kontrollieren. Die Türkei ist jedoch - was Afghanistan angeht - mit sehr hohem Interesse engagiert. Auch die Türkei möchte keine neunen massiven Flüchtlingsströme über den Iran in die Türkei (VB 17.8.2021a).

IOM muss aufgrund der aktuellen Sicherheitslage in Afghanistan die Unterstützung der freiwilligen Rückkehr und Reintegration mit sofortiger Wirkung weltweit aussetzen. Die Aussetzung der freiwilligen Rückkehr erfolgt bis auf Widerruf (IOM 16.8.2021).

Während die radikalislamischen Taliban ihren Feldzug durch Afghanistan vorantreiben, gehören Frauen und Mädchen zu den am meisten gefährdeten Gruppen. Schon in der letzten Regierungszeit der Taliban (1996–2001) herrschten in Afghanistan extreme patriarchale Strukturen, Misshandlungen, Zwangsverheiratungen sowie strukturelle Gewalt und Hinrichtungen von Frauen. Die Angst vor einer Wiederkehr dieser Gräueltaten ist groß. Eifrig sorgten Kaufleute in Afghanistans Hauptstadt Kabul seit dem Wochenende bereits dafür, Plakate, die unverschleierte Frauen zeigten, aus ihren Schaufenstern zu entfernen oder zu übermalen – ein Sinnbild des Gehorsams und der Furcht vor dem Terror der Taliban (orf.at 17.8.2021).

Quellen: • BAMF (16.8.2021): Briefing Notes, per Email • bbc.com (o.D.): Afghanistan: US takes control of Kabul airport to evacuate staff from countryhttps://www.bbc.com/news/world-asia-58227029, Zugriff 16.8.2021 • Die Presse (17.8.2021): Die Türkei schottet sich mit Mauer gegen Flüchtlinge ab, https://www.diepresse.com/6021855/die-turkei-schottet-sich-mit-mauer-gegenfluchtlinge-ab, Zugriff 17.8.2021 • IOM (16.8.2021): Aussetzung der Freiwilligen Rückkehr nach Afghanistan, per Email • orf.at (16.8.2021): Krieg in Afghanistan ist vorbei, https://orf.at/stories/3225020/, Zugriff 16.8.2021 • orf.at (16.8.2021a): Verzweifelte Fluchtversuche aus Kabul, https://orf.at/stories/3225106/, Zugriff 17.8.2021 • orf.at (16.8.2021b): Nachbarländer in großer Unruhe, https://orf.at/stories/3225071/, Zugriff 17.8.2021 • orf.at (17.8.2021): Ein Alptraum für Frauen, https://orf.at/stories/3225041/, Zugriff 17.8.2021 • tagesschau.de (15.8.2021): Präsident Ghani ins Ausland geflohen, https://www.tagesschau.de/ausland/asien/afghanistan-kabul-ghani-101.html, Zugriff 16.8.2021 • UNHCR (8.2021): UNHCR Position on Returns to Afghanistan, Refworld | UNHCR Position on Returns to Afghanistan, Zugriff 17.8.2021 • VB – Verbindungsbeamtin des BM.I für Thailand/Pakistan [Österreich] (17.8.2021): Auskunft des VB, per Email • VB – Verbindungsbeamter des BM.I für Türkei [Österreich] (17.8.2021a): Auskunft des VB, per Email

Hinweise für die derzeitige Benützung der aktuellen Länderinformation zu Afghanistan

• Die Länderinformationen der Staatendokumentation sind durch die dramatischen Ereignisse vor Ort für die EntscheiderInnen zum Teil obsolet geworden und müssen nun neu erstellt werden (sobald gesicherte Fakten vorliegen und sich die Machtverhältnisse im Land stabilisiert haben)

• Bis sich die Lage vor Ort endgültig geklärt hat, wird die Staatendokumentation die OrgE des BFA und andere Bedarfsträger in Form von Kurzinformationen mit Fakten versorgen Folgende Kapitel der aktuellen Länderinformationen haben weiterhin ihre Aktualität:

? Kapitel 3: COVID-19

? Kapitel 6: Regierungsfeindliche Gruppierungen

? Kapitel 19: Ethnische Gruppen im geschichtlichen Kontext. Zukünftige Entwicklungen, wie z.B. die der Hazara, sind derzeit nicht absehbar

? Alle anderen Kapitel müssen aufgrund der aktuellen Ereignisse neu geschrieben werden, sobald entsprechende Fakten und Informationen vorliegen.

Kommentar der Staatendokumentation:

• Sicherheitslage: Derzeit ist es zu früh, definitive Schlüsse zu ziehen. Es wird davon abhängen, wie sich das Verhältnis zwischen der afghanischen Armee und Polizei zu den Taliban entwickelt (Armee und Polizei haben sich praktisch kampflos ergeben). Ein Zugriff der Taliban auf die Ausrüstung des Sicherheitsapparats würde die Position der Taliban stärken, was aber nicht ausschließt, dass sich aus Kreisen des Sicherheitsapparats oder anderer Akteure im Land Widerstand formiert, der zu Kampfhandlungen führen könnte.

• Wirtschaft/Versorgung: Es ist ein wirtschaftlicher Einbruch möglich, der auch die Versorgungslage treffen kann – einerseits durch die Machtergreifung der Taliban, der potentiellen Flucht gebildeterer und wohlhabenderer Bevölkerungsgruppen sowie aufgrund des Fehlens der Wirtschaftskraft der internationalen Truppen (z.B. via lokaler Angestellter) sowie aufgrund der Frage, ob NGOs und internationale Organisationen weiter agieren dürfen. Hinzukommt auch die Frage, wie weit sich die Machtergreifung der Taliban auf die Berufstätigkeit von Frauen auswirken wird.

• Menschenrechtslage: Gruppen wie die Taliban (oder auch der IS) greifen nach einer Machtergreifung nicht unbedingt sofort auf ein volles Instrumentarium an Repressionen zurück, sondern tun dies oft eher sukzessive. Ob die Taliban ihr Verhalten als Macht im Staate dieses Mal eventuell teilweise anders gestalten werden, wird sich zeigen. Informationen zur aktuellen Menschenrechtslage würden daher derzeit nur eine Momentaufnahme darstellen, ohne eine belastbare Entscheidungsgrundlage vor dem Hintergrund des Umsturzes darzustellen. Aussagekräftige, zeitlich länger gültige Informationen zu Kernbereichen werden erst später zur Verfügung stehen.“

c. Aus den UNHCR-Richtlinien zur Feststellung des internationalen Schutzbedarfs afghanischer Asylsuchender, 30. August 2018:

„[…]

III. Internationaler Schutzbedarf

[…]

A.       Risikoprofile

1.i. Als „verwestlicht“ wahrgenommene Personen:

Berichten zufolge werden Personen von regierungsfeindlichen Kräften angegriffen, die vermeintlich Werte und/oder ein Erscheinungsbild angenommen haben, die mit westlichen Ländern in Verbindung gebracht werden, und denen deshalb unterstellt wird, die Regierung und die internationale Gemeinschaft zu unterstützen. Es liegen Berichte über Personen vor, die aus westlichen Ländern nach Afghanistan zurückkehrten und von regierungsfeindlichen Gruppen als „Ausländer“ oder vermeintliche für ein westliches Land tätige Spione gefoltert oder getötet wurden.

1.j. Andere Zivilisten, die die Regierung oder die internationale Gemeinschaft tatsächlich

oder vermeintlich unterstützen:

Den Berichten ist zu entnehmen, dass Personen von regierungsfeindlichen Kräften vorsätzlich entführt und getötet werden, um sie für die tatsächliche oder vermeintliche Unterstützung der Regierung zu bestrafen, wobei die Tötungen anderen als Warnung dienen sollten. […] Zivilisten, die sie der „Spionage für“ die Regierung beschuldigen, werden in Schnellverfahren von parallelen und illegalen, von AGEs eingerichteten Justizstrukturen abgeurteilt; die Strafe für derartige angebliche „Verbrechen“ ist in der Regel die Hinrichtung.

6. Personen, die vermeintlich gegen islamische Grundsätze, Normen und Werte gemäß der Auslegung durch regierungsfeindliche Kräfte (AGEs) verstoßen

Berichten zufolge haben die Taliban Personen und Gemeinschaften getötet, angegriffen und bedroht, die in der Wahrnehmung der Taliban gegen islamische Grundsätze, Normen und Werte gemäß der Auslegung durh die Taliban verstoßen haben. […]

Es liegen Berichte über Taliban vor, die für das Ministerium der Taliban für die Förderung der Tugend und Verhinderung des Lasters tätig sind, in den Straßen patrouillieren und Personen festnehmen, weil diese sich den Bart abrasiert haben oder Tabak konsumieren. […]

Frauen und Männer, die gegen diese Regeln verstoßen, wurden Berichten zufolge mit öffentlichen Auspeitschungen bestraft, ja sogar getötet. In Gebieten, die von mit dem Islamischen Staat verbundenen Gruppen kontrolliert werden, wird Berichten zufolge ein sittenstrenger Lebensstil durch strikte Vorschriften und Bestrafungen durchgesetzt. […]

[…]“

d. Aus der ACCORD Anfragebeantwortung zu Afghanistan: Apostasie, Blasphemie, Konversion, Verstoß gegen islamischen Verhaltensregeln, gesellschaftliche Wahrnehmung von RückkehrerInnen aus Europa vom 15.06.2021:

„9) Gesellschaftliche Wahrnehmung von RückkehrerInnen aus Europa

In ihrer E-Mail-Auskunft vom Juni 2020 teilt Melissa Kerr Chiovenda mit, dass viele AfghanInnen, die aus dem Westen zurückkehren würden, mit Misstrauen konfrontiert seien. Das Ausmaß dieses Misstrauens hänge von der Herkunftsregion und der gesellschaftlichen Stellung des jeweiligen Rückkehrers ab. […] Das Misstrauen hänge stark mit der Befürchtung einer möglichen Konversion zusammen und dessen Ausmaß könne sich in manchen Regionen sogar dann steigern, wenn eine Person einfach Kontakt mit AusländerInnen gehabt habe. In manchen Regionen Afghanistans könne es vorkommen, dass eine Person, die längere Zeit mit AusländerInnen verbracht habe, von ihrer Gemeinschaft bestraft werde. Man könne sich also vorstellen, dass die Folgen für eine Person, die im Westen gelebt habe, noch schlimmer sein könnten.

Laut Noah Coburn seien nicht alle RückkehrerInnen aufgrund einer wahrgenommenen „Verwestlichung“ mit Misstrauen konfrontiert, da es so viele AfghanInnen gebe, die einmal Flüchtlinge gewesen seien. Es komme aber mit gewisser Regelmäßigkeit vor und betreffe insbesondere schiitische Hazara, die bereits von vielen als nicht als „echte Muslime“ wahrgenommen würden (Coburn, 1. Juni 2020).

Friederike Stahlmann erwähnt im Rahmen der ACCORD Online-Veranstaltung vom Mai 2020 die Gefahr für RückkehrerInnen, als „verwestlicht“ und damit als Ungläubiger wahrgenommen zu werden. […] Hier drohe auch durch die eigene Familie Gefahr. Die bei der betroffenen Person bemerkten sozialen Veränderungen würden häufig auch religiöse Erwartungen verletzen. Dies werde als Abfall vom Glauben gewertet und man werde als Ungläubiger kategorisiert, was wiederum sehr gefährlich sei. Auch aus der Nachbarschaft drohe Gefahr. Die politisch motivierten Übergriffe aufgrund von Verwestlichung, von denen sie in Kabul gehört habe, seien fast alle aus der Nachbarschaft gekommen, darunter auch im großen Hazara-Viertel Dascht-e-Bartschi, das nicht dafür bekannt sei, besonders konservativ zu sein.

[…]

Es drohe zudem auch in den großen Städten Kabul, Herat, Masar-e Scharif und Dschalalabad der Verrat an die Taliban aufgrund der Flucht nach Europa. Die Taliban würden Unterstützung einfordern und erwarten, dass man für sie Steuern zahle, loyal sei und im Zweifelsfall für sie kämpfe. Hier habe sie einen großen Unterschied zwischen Rückkehrern aus Europa und denen aus dem Iran festgestellt. Wenn man nicht gerade in der Vergangenheit den Taliban gegenüber oppositionell eingestellt gewesen sei, werde es nicht als Flucht vor den Taliban wahrgenommen, in den Iran gegangen zu sein, um seine Familie zu versorgen. Wenn jemand aber mehrfach sein Leben riskiere, um in die westlichen Länder der „ungläubigen Besatzer“ zu kommen, dann werde das als eine Form von Überlaufen gewertet. Ein weiterer Vorwurf, der sich dann anschließen könne und auch in Drohschreiben an Abgeschobene oder ihre Familie auftauche, sei Spionage. Das Problem von Rückkehren sei aber auch, dass ihnen ohnehin unterstellt würde, dass sie sich im ungläubigen Westen nicht an die Regeln gehalten hätten. Das bedeute, dass sie ihren Glauben und religiös legitimierte Alltagsregeln besonders überzeugend leben müssten, um den Vorwurf zu entkräften (Stahlmann, 11. Mai 2020). […]

Ali M. Latifi, ein Journalist aus Kabul, habe angemerkt, dass AfghanInnen, die sich in irgendeiner Form auffällig verhalten würden, als „verwestlicht wahrgenommen werden könnten, unabhängig davon, ob diese Personen jemals im Ausland gewesen seien. Es gehe darum, wie sich eine Person verhalte, wenn sie in Afghanistan sei.

Liza Schuster, Forscherin für Soziologie an der City University in London zu Afghanistan, habe erklärt, dass eine Person sich jederzeit bewusst sein müsse, wie ihre Handlungen, ihre Körpersprache und ihr Gesagtes wahrgenommen würden. Jemand, der aus Europa zurückkomme und diese unausgesprochenen Regeln nicht kenne, sie vergessen habe oder Fehler mache, könne als aufmüpfig, unhöflich oder respektlos wahrgenommen werden. Mehreren Quellen zufolge würden abgeschobene AfghanInnen und RückkehrerInnen mit Misstrauen gesehen und würden manchmal von ihrer Familie oder von ihrer Gemeinschaft als „vom Westen kontaminiert“ und als Personen, die in Europa „verwestlicht“ und „unislamisch“ geworden seien, wahrgenommen. Darunter würden unter anderem Jugendliche und junge Erwachsene mit sichtbaren und unsichtbaren Anzeichen kultureller Veränderung fallen, mit andersartiger Kleidung, Verhalten und sprachlichen Akzenten. Laut Dr. Schuster werde ein junger Mann, der aus Europa zurückkehre, von seiner Familie und seinen Verwandten empfangen und Männer aus der Nachbarschaft würden mehrere Tage lang vorbeikommen und mit ihm Tee trinken. Dies diene dazu, herauszufinden, wie sich der junge Mann verändert habe. Die Schwierigkeit sei das hohe Ausmaß an Gerede in der Gemeinschaft. Personen würden sich einen gewissen Eindruck machen und leicht Gerüchte verbreiten und es sei schwer für eine einzelne Person, die über sie entstandenen Eindrücke bezüglich ihrer Rückkehr zu kontrollieren. In Afghanistan sei es laut Dr. Schuster sehr schwierig, sich gegen Anschuldigungen –ob falsch oder wahr- zu wehren, darunter Vorwürfe, ein Spion zu sein, lockere Moralvorstellungen zu haben oder kein guter Muslim mehr zu sein. Laut Abubakar Siddique, ein Korrespondent des amerikanischen Rundfunkveranstalters RFE/RL, würden RückkehrerInnen nicht alleine aufgrund der Tatsache, dass sie aus dem Westen zurückgekehrt seien, ins Visier genommen. Anschuldigungen zu einem Aufenthalt im Westen könnten jedoch als Vorwurf instrumentalisiert ewrden, wenn eine Person aus anderen Gründen ins Visier genommen werde.

[…]“

2. Beweiswürdigung:

Zur Feststellung des für die Entscheidung maßgebenden Sachverhaltes wurde im Rahmen des Ermittlungsverfahrens Beweis erhoben, durch die Durchführung einer öffentlichen mündlichen Verhandlung vor dem Bundesverwaltungsgericht sowie durch Einsichtnahme in den Akt der belangten Behörde, unter Berücksichtigung der niederschriftlichen Angaben des Beschwerdeführers in der Erstbefragung und bei der Einvernahme vor der belangten Behörde, in den bekämpften Bescheid und in den Beschwerdeschriftsatz, in die vorgelegten Urkunden, Stellungnahmen und sonstigen Unterlagen sowie in die diesem Erkenntnis zugrunde gelegten Länderberichte.

Der oben angeführte Verfahrensgang ergibt sich aus dem unbedenklichen und unzweifelhaften Akteninhalt des vorgelegten Verwaltungsaktes der belangten Behörde und des Verfahrensaktes des Bundesverwaltungsgerichtes.

2.1. Zu den Feststellungen zur Person des Beschwerdeführers:

Die Feststellungen zur Identität, Staatsangehörigkeit, Volksgruppenzugehörigkeit, zum Religionsbekenntnis, zur Herkunft, zu den Sprachkenntnissen und persönlichen Verhältnissen, den Lebensumständen in Afghanistan und in Pakistan, zur familiären Situation des Beschwerdeführers, zu seinem Kontakt zu seinen Familienangehörigen, zu seiner Schulausbildung und zu seinen Tätigkeiten in Afghanistan, ergeben sich aus seinen dazu getätigten gleichbleibenden und glaubhaften Angaben. Es ist im Verfahren nichts hervorgekommen, das an der Richtigkeit dieser Feststellungen zweifeln lässt.

Der Vollständigkeit halber ist noch zu erwähnen, dass bereits die belangte Behörde aufgrund der Vorlage des Dienstausweises des Beschwerdeführers als Schwimmtrainer die Tätigkeit des Beschwerdeführers bei der XXXX als glaubhaft würdigte. Diese Feststellung wurde dem gegenständlichen Erkenntnis zugrunde gelegt. Dass der Beschwerdeführer Mitglied XXXX gewesen war, konnte aufgrund der glaubhaften und konsistenten Angaben des Beschwerdeführers sowie des vorgebrachten Videomaterials, auf dem der Beschwerdeführer beim Wasserballtraining zu sehen ist, festgestellt werden.

Dass der Beschwerdeführer Interviews bei verschiedenen Sendern, insbesondere bei XXXX gegeben hat, konnte ebenfalls aufgrund seiner gleichbleibenden und glaubhaften Angaben festgestellt werden. Zudem legte der Beschwerdeführer eine Lichtbildaufnahme vom Interview bei XXXX vor, die seine Angaben untermauert.

2.2. Zu den Feststellungen zum Leben des Beschwerdeführers in Österreich:

Die Feststellungen zum Leben des Beschwerdeführers in Österreich, insbesondere zu seinen Deutschkenntnissen, seinen Kurs- und Schulbesuchen, seinen ehrenamtlichen Tätigkeiten, seiner Erwerbstätigkeit, seinen sportlichen Aktivitäten, seinen familiären oder sozialen Anknüpfungspunkten sowie seiner Integration in Österreich, stützen sich auf die Aktenlage, die Angaben des Beschwerdeführers in der Beschwerdeverhandlung sowie auf die vom Beschwerdeführers im Verfahren vorgelegten Unterlagen.

Die Feststellungen zu seiner in Österreich geführten Beziehung mit der Zeugin, insbesondere zur Rollenverteilung und den gemeinsamen Aktivitäten, basieren auf deren glaubhaften und plausiblen Angaben (S. 21 und 26ff der Verhandlungsschrift vom 16.06.2021).

Die Feststellungen zum Gesundheitszustand des Beschwerdeführers ergeben sich aus seinen Aussagen vor dem Bundesverwaltungsgericht (S. 4 der Verhandlungsschrift vom 16.06.2021).

Die Feststellungen zur strafgerichtlichen Unbescholtenheit ergibt sich aus der Einsichtnahme in das Strafregister.

2.3. Zu den Feststellungen zu den Fluchtgründen des Beschwerdeführers:

Auf die ursprünglich vorgebrachten Fluchtgründe des Beschwerdeführers (Gefahr der Verfolgung durch die Taliban aufgrund des Geschenkten Grundstücks an die afghanische Regierung sowie der Verfolgung durch den Leiter der XXXX aufgrund seiner Tätigkeit und seiner Bekanntheit als Trainer bei der afghanischen XXXX ) ist nicht weiter einzugehen, weil es dem BF gelungen ist, vor dem Bundesverwaltungsgericht glaubhaft darzulegen, dass ihm einerseits aufgrund seiner Tätigkeit als Trainer bei der XXXX durch die Taliban wegen Verletzung islamischer Werte und Normen gemäß der Auslegung durch die Taliban und andererseits aufgrund seines im Bundesgebiet geführten „westlichen“ Lebensstils, welcher Bestandteil seiner Presönlichkeit geworden ist, eine asylrechtlich relevante Verfolgung droht.

Der Beschwerdeführer tätigte im gesamten Verfahren im Wesentlichen übereinstimmende und nachvollziehbare und daher auch insgesamt als glaubhaft zu bewertende Angaben zu den Gründen für das Verlassen seines Herkunftsstaates. Schon im Rahmen seiner Erstbefragung vor den Organen des öffentlichen Sicherheitsdienstes hat der Beschwerdeführer eine Verfolgung durch die Taliban vorgebracht. Im Rahmen seiner niederschriftlichen Einvernahmen vor der belangten Behörde hat der Beschwerdeführer sein Fluchtvorbringen weiter konkretisiert und auch im Rahmen der mündlichen Verhandlung vor dem Bundesverwaltungsgericht übereinstimmend angegeben, dass der konkrete Grund seiner Flucht in der Angst vor einer Verfolgung durch die Taliban liegt.

Insoweit dem Beschwerdeführer im angefochtenen Bescheid vorgeworfen wird, dass er im Zuge seiner Einvernahme vor der belangten Behörde im Vergleich zu seinen Angaben im Rahmen seiner Erstbefragung sein Vorbringen betreffend seine Fluchtgründe gesteigert habe, ist dazu auszuführen, dass diese Ansicht vom Bundesverwaltungsgericht nicht geteilt werden kann, da die Erstbefragung durch Organe des öffentlichen Sicherheitsdienstes gemäß § 19 Abs. 1 AsylG 2005 insbesondere der Ermittlung der Identität und der Reiseroute des Fremden dient und sich nicht auf die näheren Fluchtgründe zu beziehen hat (so auch VwGH 28.05.2014, Ra 2014/20/0017 bis 0018 und 16.07.2020, Ra 2019/19/0419). Daraus ergibt sich, dass an die dennoch bei der Erstbefragung erstatteten - in der Regel kurzen - Angaben zu den Fluchtgründen im Rahmen der Beweiswürdigung keine hohen Ansprüche in Bezug auf Stringenz und Vollständigkeit zu stellen sind (vgl. auch VfGH 20.02.2014, U1919/2013). Die belange Behörde hat es zudem unterlassen, erforderliche Ermittlungen hinsichtlich einer Verfolgung durch die Taliban aufgrund der Tätigkeit des Beschwerdeführers als Trainer bei der XXXX aufgrund einer ihm unterstellten politischen und/oder religiösen Gesinnung anzustellen.

Der Beschwerdeführer legte durch die widerspruchsfreie Wiedergabe seines beruflichen Werdegangs sowie die Vorlage seines Ausweises glaubhaft und plausibel dar, dass er in Kabul als Trainer bei der XXXX tätig war. Diese Tatsache wurde auch nicht von der belangten Behörde bestritten, sondern vielmehr als glaubwürdig erachtet (AS 123, 189). Darüber hinaus war er Mitglied bei der XXXX (siehe 1.1.). Die Furcht des Beschwerdeführers vor Verfolgung durch die Taliban ist begründet, zumal der Beschwerdeführer wie bereits mehrfach ausgeführt einen Bekanntheitsgrad erreicht hat und seine Tätigkeit als Trainer bei der XXXX mit westlicher Kultur in Verbindung gebracht wird, zumal sowohl der Schwimmsport als auch die Ballsportart Wasserball insbesondere von den Amerikanern in Afghanistan verbreitet wurden, was gegen islamische Normen bzw. Werte gemäß der Auslegung durch die Taliban verstößt, da diese jegliche Verbindung zum Westen ablehnen. Das Bundesverwaltungsgericht geht zudem davon aus, dass die Identät des Beschwerdeführers aufgrund dessen in Afghanistan erreichten Bekanntsheitsgrades den Taliban bekannt ist und insbesondere aufgrund der Machtergreifung durch die Taliban in Afghanistan die Gefahr einer Verfolgung aktuell ist.

Aufgrund seiner Tätigkeit bei der XXXX sowie seiner XXXX kann demnach inbsondere vor dem Hintergrund der sich massiv verschlechternnden Sicherheitslage aufgrund der Machtübernahme durch die Taliban nicht ausgeschlossen werden, dass der Beschwerdeführer in den Fokus der Taliban gerät und dass die Taliban den Beschwerdeführer verfolgen und bedrohen würden.

Die Feststellungen, dass der Beschwerdeführer seinen islamischen Glauben nicht sehr streng ausübt (betet und fastet nicht, geht nicht in die Moschee), seine Religion keine besondere Bedeutung für ihn hat, sowie zu seinem damit korrespondierenden Lebensstil und seiner Lebenseinstellung, nämlich im Besonderen zu seiner unehelichen Beziehung und seiner persönlichen Sichtweise zur Gleichbehandlung von Mann und Frau beruhen maßgeblich auf den glaubhaften Ausführungen des in der mündlichen Verhandlung durchwegs authentisch auftretenden Beschwerdeführers (S. 22 und 28f der Verhandlungsschrift vom 16.06.2021).

Die persönliche Glaubwürdigkeit des Bescherdeführers wird auch durch sein Verhalten in Österreich seit seiner Einreise bekräftigt. Von Anbeginn seines Aufenthaltes in Österreich ist der Weg des Beschwerdeführers davon geprägt, dass

Quelle: Bundesverwaltungsgericht BVwg, https://www.bvwg.gv.at
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