TE Bvwg Erkenntnis 2021/10/8 W279 1424122-2

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Veröffentlicht am 08.10.2021
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Entscheidungsdatum

08.10.2021

Norm

AsylG 2005 §10 Abs1 Z5
AsylG 2005 §57
AsylG 2005 §8 Abs4
AsylG 2005 §9 Abs1 Z1
AsylG 2005 §9 Abs4
BFA-VG §9
B-VG Art133 Abs4
FPG §46
FPG §52 Abs2 Z4
FPG §52 Abs9
FPG §55 Abs1
FPG §55 Abs1a
FPG §55 Abs2
FPG §55 Abs3
VwGVG §28 Abs1
VwGVG §28 Abs2

Spruch


W279 1424122-2/20E

IM NAMEN DER REPUBLIK!

Das Bundesverwaltungsgericht hat durch den Richter Mag. KOREN als Einzelrichter über die Beschwerde des XXXX , geboren am XXXX , StA. Afghanistan, vertreten durch RA Dr. Gregor KLAMMER, Lerchenfelder Gürtel 45/11, 1160 Wien, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 16.10.2019, Zl. XXXX , zu Recht erkannt:

A)

I. Der Beschwerde wird stattgegeben und der angefochtene Bescheid behoben.

II. In Erledigung der Beschwerde gegen den Bescheid vom 16.10.2019 wird dem Antrag auf Verlängerung der befristeten Aufenthaltsberechtigung gemäß § 8 Abs. 4 AsylG 2005 stattgegeben und die befristete Aufenthaltsberechtigung von XXXX , geboren am XXXX , als subsidiär Schutzberechtigter um zwei Jahre verlängert.

B)

Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.


Text


Entscheidungsgründe:

I. Verfahrensgang:

1. Vorverfahren:

1.1. Der Beschwerdeführer (in weiterer Folge: BF), ein afghanischer Staatsangehöriger, reiste im August 2011 illegal und schlepperunterstützt in Österreich ein und stellte am 05.08.2011 einen Antrag auf internationalen Schutz.

1.2. Anlässlich seiner Erstbefragung vor Organen des öffentlichen Sicherheitsdienstes am nächsten Tag gab der BF an, er sei sunnitischer Moslem und gehöre der Volksgruppe der Paschtunen an. Zu seinem Fluchtgrund führte der BF aus, dass sein Vater als Dolmetscher für eine dänische Organisation tätig gewesen sei, die Schulen gebaut habe. Die Taliban und die Mujaheddin hätten seinen Vater beschuldigt, ein Ungläubiger zu sein und mit den Russen zu kollaborieren. Vor eineinhalb Jahren sei bereits sein Bruder spurlos verschwunden und er selbst sei geflohen, da er Angst vor den Feinden seines Vaters habe. Bei einer Rückkehr befürchte er, umgebracht zu werden.

1.3. Am 14.12.2011 wurde der BF vom Bundesasylamt (in weiterer Folge: BAA) einvernommen. Der BF gab an, er habe vor etwa neun Jahren geheiratet und habe drei Töchter und einen Sohn. Der BF sei in XXXX geboren und seine Eltern, seine Schwester und ein Bruder würden neben seiner Ehefrau und seinen vier Kindern in XXXX leben. Zudem habe er noch einen Onkel väterlicherseits in XXXX und einen Onkel mütterlicherseits in XXXX . Der Onkel seiner Mutter habe die Flucht organisiert und lebe in XXXX . Seine gesamte Familie bestreite ihren Lebensunterhalt nunmehr vom Verkauf von Grundstücken und der BF habe vor seiner Ausreise als Hilfsarbeiter auf verschiedenen Baustellen gearbeitet.

Zum Fluchtgrund befragt, führte er im Wesentlichen seine Angaben in der Erstbefragung näher aus und fügt hinzu, sein Vater sei aufgrund der Gerüchte in weiterer Folge nach XXXX übersiedelt. Da es seinem Vater nach einigen Jahren in XXXX zu gefährlich geworden sei, sei er mit seiner Familie in eine andere afghanische Stadt gezogen und habe sich letztendlich nach Pakistan begeben.

1.4. Mit Bescheid vom 18.01.2012, Zl. 11 08.4447-BAG, wies das BAA den Antrag des BF auf internationalen Schutz sowohl hinsichtlich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten, als auch hinsichtlich der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten ab und wies diesen aus dem österreichischen Bundesgebiet nach Afghanistan aus.

1.5. Gegen den Bescheid vom 18.01.2012 erhob der BF Beschwerde.

1.6. Mit Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichtes vom 22.05.2014, W178 1424122-1/12E, wurde der Beschwerde hinsichtlich Spruchpunkt II. des angefochtenen Bescheides stattgegeben, nach Zurückziehung der Beschwerde hinsichtlich der Ablehnung des Antrages auf internationalen Schutz bezüglich des Status des Asylberechtigten und dem BF der Status des subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Afghanistan zuerkannt. Gemäß § 8 Abs. 4 AsylG 2005 wurde ihm bis zum 24.04.2015 eine befristete Aufenthaltsberechtigung als subsidiär Schutzberechtigter erteilt.

Begründend wurde ausgeführt, dass die Heimatprovinz des BF zu den am meisten gefährdeten Gegenden Afghanistans gehöre und eine Gefährdung von Leib und Leben für den BF als Zivilperson infolge der Bedrohung durch die innerstaatliche Konfliktsituation nicht auszuschließen sei. Entgegen der Auffassung der Behörde sei nicht ausgeschlossen, dass der BF ohne notwendige Kontakte nach Afghanistan ausgewiesen werde. Das von den Kriegshandlungen weniger in Mitleidenschaft gezogene Kabul komme daher als innerstaatliche Fluchtalternative nicht in Betracht.

2. Gegenständliches Verfahren:

2.1. Mit Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl (in weiterer Folge: BFA) vom 13.04.2015, Zl. XXXX , wurde dem BF die befristete Aufenthaltsberechtigung bis zum 24.04.2017 erteilt.

2.2. Mit Bescheid des BFA vom 21.04.2017, Zl. XXXX wurde dem BF die befristete Aufenthaltsberechtigung bis zum 24.04.2019 erteilt.

2.3. Am 27.06.2017 wurde der BF vor dem BFA niederschriftlich einvernommen. Im Rahmen der Einvernahme führte der BF im Wesentlichen aus, dass er zuletzt vor sechs Jahren in Afghanistan gewesen sei. Auf Vorhalt, dass er sich offensichtlich zum Zeitpunkt des 02.08.2015 in Afghanistan aufgehalten habe, um sich bei Gericht eine Heiratsurkunde ausstellen zu lassen, erklärte der BF, dass sie eine ältere Heiratsurkunde gehabt und diese eventuell verwendet hätten.

2.4. Mit Aktenvermerk vom 27.06.2017 sah das BFA von weiteren Ermittlungsschritten hinsichtlich der Prüfung zur Aberkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten ab, da nach Klärung des Sachverhaltes in der Einvernahme vom 27.06.2017 keine näheren Hinweise auf einen Aberkennungsgrund vorliegen würden.

2.5. Am 18.03.2019 stellte der BF einen weiteren Antrag auf Verlängerung des subsidiären Schutzes gemäß § 8 Abs. 4 AsylG.

2.6. In einer weiteren niederschriftlichen Einvernahme durch das BFA am 29.04.2019 führte der BF aus, dass er an Migräne leide und deswegen hin und wieder Medikamente einnehme. In Österreich habe er zwei Schwestern und zwei Brüder. Befragt, wie sein Tagesablauf in Österreich aussehe, erklärte der BF, dass er zur Arbeit und danach ins Fitnessstudio gehe. Befragt, ob er einen Beruf erlernt oder eine Ausbildung absolviert habe, erwiderte der BF, dass er in Österreich als Küchenhilfe in einem China Restaurant angestellt sei und in Afghanistan als Automechaniker tätig gewesen sei. Er sei verheiratet und habe vier Kinder. Die Fragen, ob er in Österreich weitere nahe Verwandte habe oder Verwandte, von denen er finanziell abhängig sei oder ob er Mitglied in einem Verein sei, verneinte der BF. Weiters führte der BF aus, in Österreich unbescholten zu sein. Seine Eltern, zwei Brüder und seine Ehefrau sowie seine vier Kinder würden in Afghanistan aufhältig sein. Zu seiner Ehefrau habe er über seine Schwester Kontakt und diese würden bei dem Schwager des BF wohnhaft seien. Einer Rückkehr nach Afghanistan stehe entgegen, dass die Familie des BF Probleme mit seinem Onkel habe. Dieser habe Kontakte zu den Taliban, welche in ganz Afghanistan gut vernetzt seien.

Im Rahmen der niederschriftlichen Einvernahme legte der BF eine Bestätigung vom 24.04.2019 über eine Anstellung als Küchenhilfe mit 20 Stunden pro Woche, eine Lohn- bzw. Gehaltsabrechnung vom Jänner, Februar sowie März 2019 und eine bestandene Deutschprüfung auf dem Niveau A2 vom 11.10.2017, vor.

2.7. Mit dem nunmehr angefochtenen Bescheid vom 16.10.2019, Zl. XXXX , wurde dem BF der zuerkannte Status des subsidiär Schutzberechtigten gemäß § 9 Absatz 1 Asylgesetz 2005, BGBl I Nr. 100/2005 (AsylG), von Amts wegen aberkannt (Spruchpunkt I.) und ihm zugleich auch die mit Erkenntnis vom 24.04.2014, Zahl W1781424122-1/8Z erteilte befristete Aufenthaltsberechtigung als subsidiär Schutzberechtigter gemäß § 9 Absatz 4 AsylG entzogen (Spruchpunkt II.). Weiters sprach die belangte Behörde aus, dass dem BF ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen gemäß § 57 AsylG 2005 nicht erteilt (Spruchpunkt III.) und gegen ihn gemäß § 10 Abs. 1 Z 5 AsylG 2005 iVm § 9 BFA-VG eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs. 2 Z 4 FPG erlassen wird (Spruchpunkt IV.). Gemäß § 52 Abs. 9 FPG wurde festgestellt, dass seine Abschiebung gemäß § 46 FPG nach Afghanistan zulässig ist (Spruchpunkt V.). Weiters wurde festgestellt, dass gemäß § 55 Abs. 1 bis 3 FPG die Frist für die freiwillige Ausreise des BF 14 Tage ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung beträgt (Spruchpunkt VI.).

Begründend wurde ausgeführt, dass sich der BF aktuell nicht mehr in der gleichen Lage wie zum Zeitpunkt der Zuerkennung von subsidiärem Schutz und der letzten Verlängerung seiner Aufenthaltsberechtigung im Jahr 2017 befinde. Er sei inzwischen älter, erfahrener, und habe ergänzend Basiskenntnisse und Fertigkeiten als Küchenhelfer erworben. Die geänderte Lage im Herkunftsland, in diesem Fall u.a. insbesondere auch in den Städten Mazar-e Sharif und Herat (siehe aktuelle Länderfeststellungen) führe zur Annahme, dass die Umstände, von denen der den subsidiären Schutz zuerkennende Bescheid ausgegangen sei, nicht mehr in gleicher Weise zutreffen würden. Die für die Zuerkennung des subsidiären Schutzes damals ausschlaggebende Tatsache, dass der BF im Fall einer Rückkehr nach Afghanistan mit hinreichender Wahrscheinlichkeit in eine ausweglose Lage geraten könnte, könne vor diesem Hintergrund nicht mehr aufrechterhalten werden. Auch sonst sei nichts hervorgekommen, was diese Annahme im Sinne der geforderten Wahrscheinlichkeit berechtigt erscheinen ließe.

2.8. Der BF erhob gegen den oben genannten Bescheid fristgerecht Beschwerde.

2.9. Mit Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichtes vom 17.12.2019, W279 1424122-2/3E, wurde die Beschwerde des BF als unbegründet abgewiesen.

2.10. Dagegen erhob der BF fristgerecht außerordentliche Revision und beantragte gleichzeitig Verfahrenshilfe sowie aufschiebende Wirkung.

2.11. Mit Beschluss des Bundesverwaltungsgerichtes vom 05.02.2020, W279 1424122-2/5E wurde der Revision des BF gemäß § 30 Abs. 2 VwGG die aufschiebende Wirkung zuerkannt.

2.12. Mit Erkenntnis des Verwaltungsgerichtshofes vom 08.04.2020, Ra 2020/20/0052-6 wurde das angefochtene Erkenntnis wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufgehoben.

Der Verwaltungsgerichtshof verwies auf seine ständige Rechtsprechung und führte begründend aus, dass die vom Bundesverwaltungsgericht vertretene Rechtsansicht, die Änderung der Umstände sei ausschließlich im Vergleich mit der im Jahr 2014 erfolgten Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichtes zu beurteilten, sich als nicht dem Gesetz entsprechend darstelle. Das Bundesverwaltungsgericht habe den zwischenzeitigen Verlängerungen der befristeten Aufenthaltsberechtigungen ebenso wenig Beachtung geschenkt, wie dem Umstand, dass das BFA bereits zuvor ein Verfahren zur Aberkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten einleitete, aber wieder einstellte, da keine „Hinweise auf einen Aberkennungsgrund“ vorlägen. Es könne zudem bei der Beurteilung, ob Gründe vorhanden seien, die die Aberkennung rechtfertigen, nicht ausgeklammert bleiben, dass zwischenzeitig ein Verfahren zur Aberkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten geführt wurde, nach der zuletzt erfolgten Verlängerung der befristeten Aufenthaltsberechtigung dieses Verfahren aber trotz weitergehender Erhebungen, ob Gründe für die Aberkennung gegeben seien, wieder eingestellt wurde, weil solche Gründe als nicht gegeben angesehen wrden. Schon dies führe zur inhaltlichen Rechtswidrigkeit der angefochtenen Entscheidung.

2.13. Am 24.06.2021 langte der Fristsetzungsantrag des BF, vertreten durch seinen ausgewiesenen Rechtsvertreter, beim Bundesverwaltungsgericht ein.

2.14. Das Bundesverwaltungsgericht führte am 30.06.2021 in Anwesenheit des BF, eines Dolmetschers für die Sprache Paschtu im Beisein des Rechtsvertreters des BF eine öffentliche mündliche Verhandlung durch, in welcher der BF zu seinem Gesundheitszustand, seinem Fluchtgrund, seinem Leben im Heimatland sowie in Österreich befragt wurde. Das BFA ist nicht erschienen. Die nicht geladene Zeugin XXXX wurde ebenfalls einvernommen.

2.15. Mit verfahrensleitender Anordnung des Verwaltungsgerichtshofes vom 23.07.2021, Fr 2021/01/0022-3 wurde der Fristsetzungsantrag des BF, betreffend Verletzung der Entscheidungspflicht dem Bundesverwaltungsgericht mit der Aufforderung zugestellt, binnen 3 Monaten die Entscheidung zu erlassen und eine Ausfertigung, Abschrift oder Kopie derselben sowie eine Kopie des Nachweises über die Zustellung der Entscheidung an die antragstellende Partei dem Verwaltungsgerichthof vorzulegen oder anzugeben, warum eine Verletzung der Entscheidungspflicht nicht vorliegt.

II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:

Beweis wurde erhoben durch Einsicht in den zugrundeliegenden Verwaltungsakt, insbesondere durch Einsicht in die im Verfahren vorgelegten Dokumente, Unterlagen und Befragungsprotokolle, Durchführung einer mündlichen Verhandlung vor dem Bundesverwaltungsgericht, Einsicht in die ins Verfahren eingebrachten Länderberichte, in das Zentrale Melderegister, das Strafregister und das Grundversorgungssystem.

1. Feststellungen:

1.1. Zur Person des Beschwerdeführers:

Der BF ist Staatsangehöriger von Afghanistan, Angehöriger der Volksgruppe der Paschtunen und bekennt sich zur sunnitischen Glaubensrichtung des Islam. Seine Muttersprache ist Paschtu. Der BF ist verheiratet und hat vier Kinder, die in Afghanistan beim Schwager des BF wohnhaft sind.

Der BF stammt aus der Stadt XXXX , Provinz Nangarhar, Afghanistan. In der Heimatstadt leben neben seiner Ehefrau und seinen vier Kindern noch seine Eltern sowie zwei Brüder, mit welchen der BF regelmäßigen Kontakt pflegt.

Der BF leidet unter Migräne, ist darüberhinaus allerdings gesund und arbeitsfähig. Er leidet an keiner akuten oder lebensbedrohlichen psychischen oder physischen Erkrankung.

Der BF verfügt über mehrjährige Arbeitserfahrung in chinesischen und indischen Restaurants, kann Autofahren und war ein Monat in einer Kfz-Werkstätte tätig.

1.2. Zum Leben des Beschwerdeführers in Österreich:

Der BF reiste im August 2011 unter Umgehung der Grenzkontrollen ins Bundesgebiet ein und stellte am 05.08.2011 einen Antrag auf internationalen Schutz.

Mit Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichtes vom 22.05.2014, W178 1424122-1/12E wurde der Beschwerde hinsichtlich Spruchpunkt II. des angefochtenen Bescheides stattgegeben und dem BF der Status des subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Afghanistan zuerkannt. Gemäß § 8 Abs. 4 AsylG 2005 wurde ihm bis zum 24.04.2015 eine befristete Aufenthaltsberechtigung als subsidiär Schutzberechtigter erteilt. Die rechtskräftige Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten fußte im Wesentlichen darauf, dass die Sicherheitslage in der Heimatprovinz des BF Nangarhar (zum Entscheidungszeitpunkt) zu den am meisten gefährdeten Gegenden Afghanistans zählte und eine Gefährdung von Leib und Leben für den BF als Zivilperson infolge der Bedrohung durch die innerstaatliche Konfliktsituation auszuschließen nicht auszuschließen war. Außerdem war dem BF eine innerstaatliche Fluchtalternative nicht zumutbar.

Die befristete Aufenthaltsberechtigung des BF wurde seither zweimal vom BFA verlängert, zuletzt mit Bescheid vom 21.04.2017.

Seither hält sich der BF aufgrund einer befristeten, regelmäßig verlängerten, Aufenthaltsberechtigung im Bundesgebiet auf.

Nach Einleitung eines Aberkennungsverfahrens im Jahre 2017, stellte das BFA dieses mit der Begründung ein, dass keine näheren Hinweise auf einen Aberkennungsgrund vorliegen.

Mit dem nunmehr angefochtenen Bescheid vom 16.10.2019, Zl. XXXX , wurde dem BF der zuerkannte Status des subsidiär Schutzberechtigten gemäß § 9 Absatz 1 Asylgesetz 2005, BGBl I Nr. 100/2005 (AsylG), von Amts wegen aberkannt (Spruchpunkt I.) und ihm zugleich auch die mit Erkenntnis vom 24.04.2014, Zahl W1781424122-1/8Z erteilte befristete Aufenthaltsberechtigung als subsidiär Schutzberechtigter gemäß § 9 Absatz 4 AsylG entzogen (Spruchpunkt II.). Weiters sprach die belangte Behörde aus, dass dem BF ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen gemäß § 57 AsylG 2005 nicht erteilt (Spruchpunkt III.) und gegen ihn gemäß § 10 Abs. 1 Z 5 AsylG 2005 iVm § 9 BFA-VG eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs. 2 Z 4 FPG erlassen wird (Spruchpunkt IV.). Gemäß § 52 Abs. 9 FPG wurde festgestellt wird, dass seine Abschiebung gemäß § 46 FPG nach Afghanistan zulässig ist (Spruchpunkt V.). Weiters wurde festgestellt, dass gemäß § 55 Abs. 1 bis 3 FPG die Frist für die freiwillige Ausreise des BF 14 Tage ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung beträgt (Spruchpunkt VI.).

In Österreich hat der BF familiäre Anknüpfungspunkte in Form zweier Brüder und zweier Schwestern.

Der BF ist in Österreich strafgerichtlich unbescholten.

Der BF hat in Österreich afghanische und österreichische Freunde bzw. Bekannte. Der BF hat Deutschkurse besucht, ein ÖSD A2 Zertifikat absolviert und arbeitete von 2018 bis März 2021 als Küchengehilfe in einem China-Restaurant. Zurzeit arbeitet der BF in einem indischen Restaurant.

Der BF spricht gemessen an der Dauer seines Aufenthaltes und seines Alters unterdurchschnittlich Deutsch.

1.3. Zur aktuellen Situation im Falle einer Rückkehr des Beschwerdeführers:

Aufgrund seiner Arbeits- und Lebenserfahrung ist davon auszugehen, dass der BF auch im Herkunftsstaat am Wirtschaftsleben teilnehmen könnte.

Aufgrund der aktuellen Machtübernahme der Taliban, einer nahezu täglich ändernden Situation zumindest im Sommer und Frühherbst des Jahres 2021 sowie des Fehlens belastbarer aktueller Länderberichte, kann der BF aber aus Sicherheitsgründen aktuell nicht auf eine konkrete innerstaatliche Fluchtalternative verwiesen werden.

Eine Rückkehr des BF in seinen Herkunftsstaat ist zum Entscheidungszeitpunkt daher in dubio nicht möglich.

1.4. Zur Lage im Herkunftsstaat des Beschwerdeführers – Afghanistan:

Im Sommer 2021 haben die Taliban weite Teile des Staatsgebietes übernommen. Aktuelle Länderberichte, die eine innerstaatliche Fluchtmöglichkeit hinreichend nachweisen oder absolut ausschließen können, stehen derzeit nicht zur Verfügung. Bezogen auf die Situation des BF wurden unter anderem folgende Länderfeststellungen in das Verfahren eingebracht (Auszug aus dem Länderinformationsblatt der Staatendokumentation vom 11.06.2021):

Länderspezifische Anmerkungen

COVID-19:

Der erste offizielle Fall einer COVID-19 Infektion in Afghanistan wurde am 24.2.2020 in Herat festgestellt (RW 9.2020; vgl UNOCHA19.12.2020). Laut einer vom afghanischen Gesundheitsministerium (Afghan MoPH) durchgeführten Umfrage hatten zwischen März und Juli 2020 35% der Menschen in Afghanistan Anzeichen und Symptome von COVID-19. Laut offiziellen Regierungsstatistiken wurden bis zum 2.9.2020 in Afghanistan 103.722 Menschen auf das COVID-19-Virus getestet (IOM 23.9.2020). Aufgrund begrenzter Ressourcen des öffentlichen Gesundheitswesens und der Testkapazitäten, der Testkriterien, des Mangels an Personen, die sich für Tests melden, sowie wegen des Fehlens eines nationalen Sterberegisters werden bestätigte Fälle von und Todesfälle durch COVID-19 in Afghanistan wahrscheinlich insgesamt unterrepräsentiert (HRW 14.1.2021; cf. UNOCHA 18.2.2021, USAID 12.1.2021, UNOCHA 19.12.2020, RFE/RL 23.2.2021a). Bis Dezember 2020 gab es insgesamt 50.536 [Anmerkung: offizielle] Fälle im Land. Davon ein Drittel in Kabul. Die tatsächliche Zahl der positiven Fälle wird jedoch weiterhin deutlich höher eingeschätzt (IOM 18.3.2021; vgl. HRW 14.1.2021).

Die fortgesetzte Ausbreitung der Krankheit in den letzten Wochen des Jahres 2020 hat zu einem Anstieg der Krankenhauseinweisungen geführt, wobei jene Einrichtungen die als COVID-19- Krankenhäuser in den Provinzen Herat, Kandahar und Nangarhar gelten, nach Angaben von Hilfsorganisationen seit Ende Dezember voll ausgelastet sind. Gesundheitseinrichtungen sehen sich auch zu Beginn des Jahres 2021 großen Herausforderungen bei der Aufrechterhaltung oder Erweiterung ihrer Kapazitäten zur Behandlung von Patienten mit COVID-19 sowie bei der Aufrechterhaltung grundlegender Gesundheitsdienste gegenüber, insbesondere, wenn sie in Konfliktgebieten liegen (BAMF 8.2.2021; cf. IOM 18.3.2021).

Die Infektionen steigen weiter an und bis zum 17.3.2021 wurden der WHO 56.016 bestätigte Fälle von COVID-19 mit 2.460 Todesfällen gemeldet (IOM 18.3.2021; WHO 17.3.2021), wobei die tatsächliche Zahl der positiven Fälle um ein Vielfaches höher eingeschätzt wird. Bis zum 10.03.2021 wurden insgesamt 34.743 Impfstoffdosen verabreicht (IOM 18.3.2021)).

Maßnahmen der Regierung und der Taliban

Das afghanische Gesundheitsministerium (MoPH) hat verschiedene Maßnahmen zur Vorbereitung und Reaktion auf COVID-19 ergriffen. „Rapid Response Teams" (RRTs) besuchen Verdachtsfälle zu Hause. Die Anzahl der aktiven RRTs ist von Provinz zu Provinz unterschiedlich, da ihre Größe und ihr Umfang von der COVID-19-Situation in der jeweiligen Provinz abhängt. Sogenannte „Fix-Teams" sind in Krankenhäusern stationiert, untersuchen verdächtige COVID- 19-Patienten vor Ort und stehen in jedem öffentlichen Krankenhaus zur Verfügung. Ein weiterer Teil der COVID-19-Patienten befindet sich in häuslicher Pflege (Isolation). Allerdings ist die häusliche Pflege und Isolation für die meisten Patienten sehr schwierig bis unmöglich, da die räumlichen Lebensbedingungen in Afghanistan sehr begrenzt sind (IOM 23.9.2020). Zu den Sensibilisierungsbemühungen gehört die Verbreitung von Informationen über soziale Medien, Plakate, Flugblätter sowie die Ältesten in den Gemeinden (IOM 18.3.2021; vgl. WB 28.6.2020). Allerdings berichteten undokumentierte Rückkehrer immer noch von einem insgesamt sehr geringen Bewusstsein für die mit COVID-19 verbundenen Einschränkungen sowie dem Glauben an weitverbreitete Verschwörungen rund um COVID-19 (IOM 18.3.2021; vgl. IOM 1.2021).

Gegenwärtig gibt es in den Städten Kabul, Herat und Mazar-e Sharif keine Ausgangssperren. Das afghanische Gesundheitsministerium hat die Menschen jedoch dazu ermutigt, einen physischen Abstand von mindestens einem Meter einzuhalten, eine Maske zu tragen, sich 20 Sekunden lang die Hände mit Wasser und Seife zu waschen und Versammlungen zu vermeiden (IOM 18.3.2021).

Laut IOM sind Hotels, Teehäuser und andere Unterkunftsmöglichkeiten derzeit [Anm.: März 2021] nur für Geschäftsreisende geöffnet. Für eine Person, die unter der Schirmherrschaft der IOM nach Afghanistan zurückkehrt und eine vorübergehende Unterkunft benötigt, kann IOM ein Hotel buchen. Personen, die ohne IOM nach Afghanistan zurückkehren, können nur in einer Unterkunftseinrichtung übernachten, wenn sie fälschlicherweise angeben, ein Geschäftsreisender zu sein. Da die Hotels bzw. Teehäuser die Gäste benötigen, um wirtschaftlich überleben zu können, fragen sie nicht genau nach. Wird dies durch die Exekutive überprüft, kann diese - wenn der Aufenthalt auf der Angabe von falschen Gründen basiert - diesen jederzeit beenden. Die betreffenden Unterkunftnehmer landen auf der Straße und der Unterkunftsbetreiber muss mit einer Verwaltungsstrafe rechnen (IOM AUT 22.3.2021). Laut einer anderen Quelle gibt es jedoch aktuell [Anm.: März 2021] keine Einschränkungen bei der Buchung eines Hotels oder der Unterbringung in einem Teehaus und es ist möglich, dass Rückkehrer und Tagelöhner die Unterbringungsmöglichkeiten nutzen (RA KBL 22.3.2021).

Indien hat inzwischen zugesagt, 500.000 Dosen seines eigenen Impfstoffs zu spenden, erste Lieferungen sind bereits angekommen. 100.000 weitere Dosen sollen über COVAX (COVID-19 Vaccines Global Access) verteilt werden. Weitere Gespräche über Spenden laufen mit China (BAMF 8.2.2021; vgl. RFE/RL 23.2.2021a).

Die Taliban erlauben den Zugang für medizinische Helfer in Gebieten unter ihrer Kontrolle im Zusammenhang mit dem Kampf gegen COVID-19 (NH 3.6.2020; vgl. Guardian 2.5.2020) und gaben im Januar 2020 ihre Unterstützung für eine COVID-19-Impfkampagne in Afghanistan bekannt, die vom COVAX-Programm der Weltgesundheitsorganisation mit 112 Millionen Dollar unterstützt wird. Nach Angaben des Taliban-Sprechers Zabihullah Mudschahid würde die Gruppe die über Gesundheitszentren durchgeführte Impfaktion „unterstützen und erleichtern". Offizielle Stellen glauben, dass die Aufständischen die Impfteams nicht angreifen würden, da sie nicht von Tür zu Tür gehen würden (REU 26.1.2021; vgl. ABC News 27.1.2021, ArN 27.1.2021).

Bei der Bekanntgabe der Finanzierung sagte ein afghanischer Gesundheitsbeamter, dass das COVAX-Programm 20% der 38 Millionen Einwohner des Landes abdecken würde (REU 26.1.2021; vgl. ABC News 27.1.2021, ArN 27.1.2021, IOM 18.3.2021). Die Weltbank und die asiatische Entwicklungsbank gaben laut einer Sprecherin des afghanischen Gesundheitsministeriums an, dass sie bis Ende 2022 Impfstoffe für weitere 20% der Bevölkerung finanzieren würden (REU 26.1.2021; vgl. RFE/RL 23.2.2021a).

Im Februar 2021 hat Afghanistan mit seiner COVID-19-Impfkampagne begonnen, bei der zunächst Mitglieder der Sicherheitskräfte, Mitarbeiter des Gesundheitswesens und Journalisten geimpft werden (RFE/RL 23.2.2021a). Die Regierung kündigte an, 60% der Bevölkerung zu impfen, als die ersten 500.000 Dosen COVID-19-Impfstoff aus Indien in Kabul eintrafen. Es wurde angekündigt, dass zuerst 150.000 Mitarbeiter des Gesundheitswesens geimpft werden sollten, gefolgt von Erwachsenen mit gesundheitlichen Problemen. Die Impfungen haben in Afghanistan am 23.2.2021 begonnen (IOM 18.3.2021).

Gesundheitssystem und medizinische Versorgung

COVID-19-Patienten können in öffentlichen Krankenhäusern stationär diagnostiziert und behandelt werden (bis die Kapazitäten für COVID-Patienten ausgeschöpft sind). Staatlich geführte Krankenhäuser bieten eine kostenlose Grundversorgung im Zusammenhang mit COVID-19 an, darunter auch einen molekularbiologischen COVID-19-Test (PCR-Test). In den privaten Krankenhäusern, die von der Regierung autorisiert wurden, COVID-19-infizierte Patienten zu behandeln, werden die Leistungen in Rechnung gestellt. Ein PCR-Test auf COVID-19 kostet 500 Afghani (AFN) (IOM 18.3.2021).

Krankenhäuser und Kliniken haben nach wie vor Probleme bei der Aufrechterhaltung oder Erweiterung der Kapazität ihrer Einrichtungen zur Behandlung von Patienten mit COVID-19 sowie bei der Aufrechterhaltung wesentlicher Gesundheitsdienste, insbesondere in Gebieten mit aktiven Konflikten. Gesundheitseinrichtungen im ganzen Land berichten nach wie vor über Defizite bei persönlicher Schutzausrüstung, medizinischem Material und Geräten zur Behandlung von COVID-19 (USAID 12.1.2021; vgl. UNOCHA 12.11.2020, HRW 13.1.2021, AA 16.7.2020, WHO 8.2020). Bei etwa 8% der bestätigten COVID-19-Fälle handelt es sich um Mitarbeiter im Gesundheitswesen (BAMF 8.2.2021).

Während öffentliche Krankenhäuser im März 2021 weiterhin unter einem Mangel an ausreichenden Testkapazitäten für die gesamte Bevölkerung leiden, können stationäre Patienten während ihres Krankenhausaufenthalts kostenfreie PCR-Tests erhalten. Generell sind die Tests seit Februar 2021 leichter zugänglich geworden, da mehr Krankenhäuser von der Regierung die Genehmigung erhalten haben, COVID-19-Tests durchzuführen. In Kabul werden die Tests beispielsweise im Afghan-Japan Hospital, im Ali Jennah Hospital, im City Hospital, im Alfalah-Labor oder in der deutschen Klinik durchgeführt (IOM 18.3.2021).

In den 18 öffentlichen Krankenhäusern in Kabul gibt es insgesamt 180 Betten auf Intensivstationen. Die Provinzkrankenhäuser haben jeweils mindestens zehn Betten auf Intensivstationen. Private Krankenhäuser verfügen insgesamt über 8.000 Betten, davon wurden 800 für die Intensivpflege ausgerüstet. Sowohl in Kabul als auch in den Provinzen stehen für 10% der Betten auf der Intensivstation Beatmungsgeräte zur Verfügung. Das als Reaktion auf COVID-19 eingestellte Personal wurde zu Beginn der Pandemie von der Regierung und Organisationen geschult (IOM 23.9.2020). UNOCHA berichtet mit Verweis auf Quellen aus dem Gesundheitssektor, dass die niedrige Anzahl an Personen die Gesundheitseinrichtungen aufsuchen auch an der Angst der Menschen vor einer Ansteckung mit dem Virus geschuldet ist (UNOCHA 15.10.2020) wobei auch die Stigmatisierung, die mit einer Infizierung einhergeht, hierbei eine Rolle spielt (IOM 18.3.2021; vgl. UNOCHA 12.11.2020, UNOCHA 18.2.2021, USAID 12.1.2021).

Durch die COVID-19 Pandemie hat sich der Zugang der Bevölkerung zu medizinischer Behandlung verringert (AAN 1.1.2020). Dem IOM Afghanistan COVID-19 Protection Monitoring Report zufolge haben 53 % der Bevölkerung nach wie vor keinen realistischen Zugang zu Gesundheitsdiensten. Ferner berichteten 23 % der durch IOM Befragten, dass sie sich die gewünschten Präventivmaßnahmen, wie den Kauf von Gesichtsmasken, nicht leisten können. Etwa ein Drittel der befragten Rückkehrer berichtete, dass sie keinen Zugang zu Handwascheinrichtungen (30%) oder zu Seife/Desinfektionsmitteln (35%) haben (IOM 23.9.2020).

Sozioökonimische Auswirkungen und Arbeitsmarkt

COVID-19 trägt zu einem erheblichen Anstieg der akuten Ernährungsunsicherheit im ganzen Land bei (USAID 12.1.2021; vgl. UNOCHA 18.2.2021, UNOCHA 19.12.2020). Die sozioökonomischen Auswirkungen von COVID-19 beeinflussen die Ernährungsunsicherheit, die inzwischen ein ähnliches Niveau erreicht hat wie während der Dürre von 2018 (USAID, 12.1.2021; vgl. UNOCHA 19.12.2020, UNOCHA 12.11.2020). In der ersten Hälfte des Jahres 2020 kam es zu einem deutlichen Anstieg der Lebensmittelpreise, die im April 2020 im Jahresvergleich um rund 17% stiegen, nachdem in den wichtigsten städtischen Zentren Grenzkontrollen und Lockdown-Maß- nahmen eingeführt worden waren. Der Zugang zu Trinkwasser war jedoch nicht beeinträchtigt, da viele der Haushalte entweder über einen Brunnen im Haus verfügen oder Trinkwasser über einen zentralen Wasserverteilungskanal erhalten. Die Auswirkungen der Handelsunterbrechungen auf die Preise für grundlegende Haushaltsgüter haben bisher die Auswirkungen der niedrigeren Preise für wichtige Importe wie Öl deutlich überkompensiert. Die Preisanstiege scheinen seit April 2020 nach der Verteilung von Weizen aus strategischen Getreidereserven, der Durchsetzung von Anti-Preismanipulationsregelungen und der Wiederöffnung der Grenzen für Nahrungsmittelimporte nachgelassen zu haben (IOM 23.9.2020; vgl. WHO 7.2020), wobei gemäß dem WFP (World Food Program) zwischen März und November 2020 die Preise für einzelne Lebensmittel (Zucker, Öl, Reis...) um 18-31% gestiegen sind (UNOCHA 12.11.2020). Zusätzlich belastet die COVID-19-Krise mit einhergehender wirtschaftlicher Rezession die privaten Haushalte stark (AA 16.7.2020).

Die Lebensmittelpreise haben sich mit Stand März 2021 auf einem hohen Niveau stabilisiert: Nach Angaben des Ministeriums für Landwirtschaft, Bewässerung und Viehzucht waren die Preise für Weizenmehl von November bis Dezember 2020 stabil, blieben aber auf einem Niveau, das 11 %, über dem des Vorjahres und 27 % über dem Dreijahresdurchschnitt lag. Insgesamt blieben die Lebensmittelpreise auf den wichtigsten Märkten im Dezember 2020 überdurchschnittlich hoch, was hauptsächlich auf höhere Preise für importierte Lebensmittel zurückzuführen ist (IOM 18.3.2021).

Laut einem Bericht der Weltbank zeigen die verfügbaren Indikatoren Anzeichen für eine stark schrumpfende Wirtschaft in der ersten Hälfte des Jahres 2020, was die Auswirkungen der CO- VID-19-Krise im Kontext der anhaltenden Unsicherheit widerspiegelt. Die Auswirkungen von COVID-19 auf den Landwirtschaftssektor waren bisher gering. Bei günstigen Witterungsbedingungen während der Aussaat wird erwartet, dass sich die Weizenproduktion nach der Dürre von 2018 weiter erholen wird. Lockdown-Maßnahmen hatten bisher nur begrenzte Auswirkungen auf die landwirtschaftliche Produktion und blieben in ländlichen Gebieten nicht durchgesetzt. Die Produktion von Obst und Nüssen für die Verarbeitung und den Export wird jedoch durch Unterbrechung der Lieferketten und Schließung der Exportwege negativ beeinflusst (IOM 18.3.2021; vgl. WB 15.7.2020).

Es gibt keine offiziellen Regierungsstatistiken, die zeigen, wie der Arbeitsmarkt durch COVID-19 beeinflusst wurde bzw. wird. Es gibt jedoch Hinweise darauf, dass die COVID-19-Pandemie erhebliche negative Auswirkungen auf die wirtschaftliche Lage in Afghanistan hat, einschließlich des Arbeitsmarktes (IOM 23.9.2020; vgl. AA 16.7.2020). Die afghanische Regierung warnt davor, dass die Arbeitslosigkeit in Afghanistan um 40% steigen wird. Die Lockdown-Maßnahmen haben die bestehenden prekären Lebensgrundlagen in dem Maße verschärft, dass bis Juli 2020 84% der durch IOM-Befragten angaben, dass sie ohne Zugang zu außerhäuslicher Arbeit (im Falle einer Quarantäne) ihre grundlegenden Haushaltsbedürfnisse nicht länger als zwei Wochen erfüllen könnten; diese Zahl steigt auf 98% im Falle einer vierwöchigen Quarantäne (IOM 23.9.2020). Insgesamt ist die Situation vor allem für Tagelöhner sehr schwierig, da viele Wirtschaftssektoren von den Lockdown-Maßnahmen im Zusammenhang mit COVID-19 negativ betroffen sind (IOM 23.9.2020; vgl. Martin/Parto 11.2020).

Die wirtschaftlichen und sozialen Bedingungen, die durch die COVID-19-Pandemie geschaffen wurden, haben auch die Risiken für vulnerable Familien erhöht, von denen viele bereits durch lang anhaltende Konflikte oder wiederkehrende Naturkatastrophen ihre begrenzten finanziellen, psychischen und sozialen Bewältigungskapazitäten aufgebraucht hatten (UNOCHA 19.12.2020).

Die tiefgreifenden und anhaltenden Auswirkungen der COVID-19-Krise auf die afghanische Wirtschaft bedeuten, dass die Armutsquoten für 2021 voraussichtlich hoch bleiben werden. Es wird erwartet, dass das BIP im Jahr 2020 um mehr als 5 % geschrumpft sein wird (IWF). Bis Ende 2021 ist die Arbeitslosenquote in Afghanistan auf 37,9% gestiegen, gegenüber 23,9% im Jahr 2019 (IOM 18.3.2021).

Nach einer Einschätzung des Afghanistan Center for Excellence sind die am stärksten von der COVID-19-Krise betroffenen Sektoren die verarbeitende Industrie (Non-Food), das Kunsthandwerk und die Bekleidungsindustrie, die Agrar- und Lebensmittelverarbeitung, der Fitnessbereich und das Gesundheitswesen sowie die NGOs (IOM 18.3.2021).

Bewegungsfreiheit

Im Zuge der COVID-19 Pandemie waren verschiedene Grenzübergänge und Straßen vorübergehend gesperrt (RFE/RL 21.8.2020; vgl. NYT 31.7.2020, IMPACCT 14.8.2020, UNOCHA 30.06.2020), wobei aktuell alle Grenzübergänge geöffnet sind (IOM 18.3.2021). Im Juli 2020 wurden auf der afghanischen Seite der Grenze mindestens 15 Zivilisten getötet, als pakistanische Streitkräfte angeblich mit schwerer Artillerie in zivile Gebiete schossen, nachdem Demonstranten auf beiden Seiten die Wiedereröffnung des Grenzübergangs gefordert hatten und es zu Zusammenstößen kam (NYT 31.7.2020).

Die internationalen Flughäfen in Kabul, Mazar-e Sharif, Kandarhar und Herat werden aktuell international wie auch national angeflogen und auch findet Flugverkehr zu nationalen Flughäfen statt (F 24 o.D.; vgl. IOM 18.3.2021). Derzeit verkehren Busse, Sammeltaxis und Flugzeuge zwischen den Provinzen und Städten. Die derzeitige Situation führt zu keiner Einschränkung der Bewegungsfreiheit (IOM 18.3.2021).

IOM Österreich unterstützt auch derzeit Rückkehrer im Rahmen der freiwilligen Rückkehr und Teilnahme an Reintegrationsprogrammen. Neben der Reiseorganisation bietet IOM Österreich dabei Unterstützung bei der Ausreise am Flughafen Wien Schwechat an (STDOK 14.7.2020). Von 1.1.2020 bis 22.9.2020 wurden 70 Teilnahmen an dem Reintegrationsprojekt Restart III akzeptiert und sind 47 Personen freiwillig nach Afghanistan zurückgekehrt (IOM 23.9.2020). Mit Stand 18.3.2021 wurden insgesamt 105 Teilnahmen im Rahmen von Restart III akzeptiert und sind 86 Personen freiwillig nach Afghanistan zurückgekehrt (IOM 18.3.2021).

Sicherheitslage

Die Sicherheitslage in Afghanistan ist nach wie vor volatil (UNGASC 17.3.2020). Die afghanische Regierung behält die Kontrolle über Kabul, die Provinzhauptstädte, die meisten Distriktzentren und die meisten Teile der wichtigsten Transitrouten. Mehrere Teile der wichtigsten Transitrouten sind umkämpft, wodurch Distriktzentren bedroht sind. Seit Februar 2020 haben die Taliban ein hohes Maß an Gewalt gegen die ANDSF (Afghan National Defense Security Forces) aufrechterhalten, vermeiden aber gleichzeitig Angriffe gegen Koalitionstruppen, welche in der Nähe von Provinzhauptstädten stationiert sind - wahrscheinlich um das US-Taliban-Abkommen nicht zu gefährden. Unabhängig davon begann IS/ISKP im Februar 2020 (zum ersten Mal seit dem Verlust seiner Hochburg in der Provinz Nangarhar im November 2019) Terroranschläge gegen die ANDSF und die Koalitionstruppen durchzuführen (USDOD 1.7.2020). Die Zahl der Angriffe der Taliban auf staatliche Sicherheitskräfte entsprach im Jahr 2020 dem Niveau der Frühjahrsoffensiven der vergangenen Jahre, auch wenn die Offensive dieses Jahr bisher nicht offiziell erklärt wurde (AA 16.7.2020; vgl. REU 6.10.2020).

Die Umsetzung des US-Taliban-Abkommens, angefochtene Ergebnisse der Präsidentschaftswahlen, regionale politische Spannungen zwischen den Vereinigten Staaten und dem Iran, Diskussionen über die Freilassung von Gefangenen, Krieg und die globale Gesundheitskrise COVID-19 haben laut dem Combined Security Transition Command-Afghanistan (CSTC-A) das zweite Quartal 2020 für die afghanischen Verteidigungs- und Sicherheitskräfte (ANDSF) zum „vielleicht komplexesten und herausforderndsten Zeitraum der letzten zwei Jahrzehnte“ gemacht (SIGAR 30.7.2020).

Der Konflikt in Afghanistan befindet sich nach wie vor in einer „strategischen Pattsituation“, die nur durch Verhandlungen zwischen der afghanischen Regierung und den Taliban gelöst werden kann (SIGAR 30.1.2020). Die afghanische Regierung führte zum ersten Mal persönliche Gespräche mit den Taliban, inhaltlich wurde über den Austausch tausender Gefangener verhandelt (BBC 1.4.2020). Diese Gespräche sind ein erster Schritt Richtung inner-afghanischer Verhandlungen, welche Teil eines zwischen Taliban und US-Amerikanern unterzeichneten Abkommens sind (TD 2.4.2020). Die Gespräche fanden vor dem Hintergrund anhaltender Gewalt im Land statt (BBC 1.4.2020; vgl. HRW 13.1.2021), was den afghanischen Friedensprozess gefährden könnte (SIGAR 30.1.2021).

Die Sicherheitslage im Jahr 2020

Vom 1.1.2020 bis zum 31.12.2020 verzeichnete UNAMA die niedrigste Zahl ziviler Opfer seit 2013 (UNAMA 2.2021). Laut AAN (Afghanistan Analysts Network) war 2020 in Afghanistan genauso gewalttätig wie 2019, trotz des Friedensprozesses und der COVID-19-Pandemie. Seit dem Abkommen zwischen den Taliban und den USA vom 29. Februar haben sich jedoch die Muster und die Art der Gewalt verändert. Das US-Militär spielt jetzt nur noch eine minimale direkte Rolle in dem Konflikt, so dass es sich fast ausschließlich um einen afghanischen Krieg handelt, in dem sich Landsleute gegenseitig bekämpfen, wenn auch mit erheblicher ausländischer Unterstützung für beide Seiten. Seit der Vereinbarung vom 29.2.2020 haben die Taliban und die afghanische Regierung ihre Aktionen eher heruntergespielt als übertrieben, und die USA haben die Veröffentlichung von Daten zu Luftangriffen eingestellt (AAN 16.8.2020).

Die Taliban starteten wie üblich eine Frühjahrsoffensive, wenn auch unangekündigt, und verursachten in den ersten sechs Monaten des Jahres 2020 43 Prozent aller zivilen Opfer, ein größerer Anteil als 2019 und auch mehr in absoluten Zahlen (AAN 16.8.2020). Afghanistans National Security Council (NSC) zufolge nahmen die Talibanattacken im Juni 2020 deutlich zu. Gemäß NATO Resolute Support (RS) nahm die Anzahl an zivilen Opfern im zweiten Quartal 2020 um fast 60% gegenüber dem ersten Quartal und um 18% gegenüber dem zweiten Quartal des Vorjahres zu (SIGAR 30.7.2020). Während im Jahr 2020 Angriffe der Taliban auf größere Städte und Luftangriffe der US-Streitkräfte zurückgingen, wurden von den Taliban durch improvisierte Sprengsätze (IEDs) eine große Zahl von Zivilisten getötet, ebenso wie durch Luftangriffe der afghanischen Regierung. Entführungen und gezielte Tötungen von Politikern, Regierungsmitarbeitern und anderen Zivilisten, viele davon durch die Taliban, nahmen zu (HRW 13.1.2021; vgl. AAN 16.8.2020).

In der zweiten Jahreshälfte 2020 nahmen insbesondere die gezielten Tötungen von Personen des öffentlichen Lebens (Journalisten, Menschenrechtler usw.) zu. Personen, die offen für ein modernes und liberales Afghanistan einstehen, werden derzeit landesweit vermehrt Opfer von gezielten Attentaten (AA 14.1.2021, vgl. AIHRC 28.1.2021).

Obwohl sich die territoriale Kontrolle kaum verändert hat, scheint es eine geografische Verschiebung gegeben zu haben, mit mehr Gewalt im Norden und Westen und weniger in einigen südlichen Provinzen, wie Helmand (AAN 16.8.2020).

Zivile Opfer

Vom 1.1.2020 bis zum 31.12.2020 dokumentierte UNAMA 8.820 zivile Opfer (3.035 Getötete und 5.785 Verletzte), während AIHRC (Afghanistan Independent Human Rights Commission) für das gesamte Jahr 2020 insgesamt 8.500 zivile Opfer registrierte, darunter 2.958 Tote und 5.542 Verletzte. Das ist ein Rückgang um 15% (21% laut AIHRC) gegenüber der Zahl der zivilen Opfer im Jahr 2019 (UNAMA2.2021; vgl. AIHRC 28.1.2021) und die geringste Zahl ziviler Opfer seit 2013 (UNAMA 2.2021).

Nach dem Abkommen zwischen den USA und den Taliban dokumentierte UNAMA einen Rückgang der Opfer unter der Zivilbevölkerung bei groß angelegten Angriffen in städtischen Zentren durch regierungsfeindliche Elemente, insbesondere die Taliban, und bei Luftangriffen durch internationale Streitkräfte. Dies wurde jedoch teilweise durch einen Anstieg der Opfer unter der Zivilbevölkerung durch gezielte Tötungen von regierungsfeindlichen Elementen, durch Druck- platten-IEDs der Taliban und durch Luftangriffe der afghanischen Luftwaffe sowie durch ein weiterhin hohes Maß an Schäden für die Zivilbevölkerung bei Bodenkämpfen ausgeglichen (UNAMA 2.2021).

Die Ergebnisse des AIHRC zeigen, dass Beamte, Journalisten, Aktivisten der Zivilgesellschaft, religiöse Gelehrte, einflussreiche Persönlichkeiten, Mitglieder der Nationalversammlung und Menschenrechtsverteidiger das häufigste Ziel von gezielten Angriffe waren. Im Jahr 2020 verursachten gezielte Angriffe 2.250 zivile Opfer, darunter 1.078 Tote und 1.172 Verletzte. Diese Zahl macht 26% aller zivilen Todesopfer im Jahr 2020 aus (AIHRC 28.1.2021).

Die von den Konfliktparteien eingesetzten Methoden, die die meisten zivilen Opfer verursacht haben, sind in der jeweiligen Reihenfolge folgende: IEDs und Straßenminen, gezielte Tötungen, Raketenbeschuss, komplexe Selbstmordanschläge, Bodenkämpfe und Luftangriffe (AIHRC 28.01.2021). Während des gesamten Jahres 2020 dokumentierte UNAMA Schwankungen in der Zahl der zivilen Opfer parallel zu den sich entwickelnden politischen Ereignissen. Die „Woche der Gewaltreduzierung“ vor der Unterzeichnung des Abkommens zwischen den Vereinigten Staaten und den Taliban in Doha am 29.2.2020 zeigte, dass die Konfliktparteien die Macht haben, Schaden an der Zivilbevölkerung zu verhindern und zu begrenzen, wenn sie sich dazu entschließen, dies zu tun. Ab März wuchs dann die Besorgnis über ein steigendes Maß an Gewalt, da UNAMA zu Beginn des Ausbruchs der COVID-19-Pandemie eine steigende Zahl von zivilen Opfern und Angriffen auf Gesundheitspersonal und -einrichtungen dokumentierte. Regierungsfeindliche Elemente verursachten mit 62% weiterhin die Mehrzahl der zivilen Opfer im Jahr 2020. Während UNAMA weniger zivile Opfer dem Islamischen Staat im Irak und in der Levante - Provinz Chorasan (ISIL-KP, ISKP) und den Taliban zuschrieb, hat sich die Zahl der zivilen Opfer, die durch nicht näher bestimmte regierungsfeindliche Elemente verursacht wurden (diejenigen, die UNAMA keiner bestimmten regierungsfeindlichen Gruppe zuordnen konnte), im Vergleich zum Vorjahr mehr als verdoppelt (UNAMA 2.2021; vgl. AAN 16.8.2020). Pro-Regierungskräfte verursachten ein Viertel der getöteten und verletzten Zivilisten im Jahr 2020 (UNAMA 2.2021; vgl. HRW 13.1.2021). Nach den Erkenntnissen der AIHRC (Afghanistan Independent Human Rights Commission) sind von allen zivilen Opfern in Afghanistan im Jahr 2020 die Taliban für 53 % verantwortlich, regierungsnahe und verbündete internationale Kräfte für 15 % und ISKP (ISIS) für fünf Prozent. Bei 25 % der zivilen Opfer sind die Täter unbekannt und 2 % der zivilen Opfer wurden durch pakistanischen Raketenbeschuss in Kunar, Chost, Paktika und Kandahar verursacht (AIHRC 28.1.2021).

High-Profile Angriffe (HPAs)

Sowohl in den ersten fünf Monaten 2019, als auch im letzten Halbjahr 2019 führten Aufständische, Taliban und andere militante Gruppierungen, insbesondere in der Hauptstadtregion weiterhin Anschläge auf hochrangige Ziele aus, um die Aufmerksamkeit der Medien auf sich zu ziehen, die Legitimität der afghanischen Regierung zu untergraben und die Wahrnehmung einer weit verbreiteten Unsicherheit zu schaffen (USDOD 12.2019; vgl. USDOD 1.7.2020). Die Gesamtzahl der öffentlichkeitswirksamen Angriffe ist sowohl in Kabul als auch im ganzen Land in den letzten anderthalb Jahren stetig zurückgegangen (USDOD 12.2019). Zwischen 1.6.2019 und 31.10.2019 fanden 19 HPAs in Kabul statt (Vorjahreswert: 17) (USDOD 12.2019), landesweit betrug die Zahl 88 (USDOD 12.2019). Angriffe auf hochrangige Ziele setzen sich im Jahr 2021 fort (BAMF 18.1.2021).

ÖffentlichkeitswirksameAngriffe durch regierungsfeindliche Elemente setzten sich fort. Der Großteil der Anschläge richtet sich gegen dieANDSF und die internationalen Streitkräfte; dazu zählte ein komplexerAngriff der Taliban auf den Militärflughafen Bagram im Dezember 2019. Im Februar 2020 kam es in der Provinz Nangarhar zu einer sogenannten ’green-on-blue-attack’: der Angreifer trug die Uniform der afghanischen Nationalarmee und eröffnete das Feuer auf internationale Streitkräfte, dabei wurden zwei US-Soldaten und ein Soldat der afghanischen Nationalarmee getötet. Zu einem weiteren Selbstmordanschlag auf eine Militärakademie kam es ebenso im Februar in der Stadt Kabul; bei diesem Angriff wurden mindestens sechs Personen getötet und mehr als zehn verwundet (UNGASC 17.3.2020). Dieser Großangriff beendete mehrere Monate relativer Ruhe in der afghanischen Hauptstadt (DS 11.2.2020; vgl. UNGASC 17.3.2020). Seit Februar haben die Taliban ein hohes Maß an Gewalt gegen dieANDSF aufrechterhalten, vermeiden aber gleichzeitig Angriffe gegen Koalitionstruppen um Provinzhauptstädte - wahrscheinlich um das US-Taliban-Abkommen nicht zu gefährden (USDOD 1.7.2020). Die Taliban setzten außerdem bei Selbstmordanschlägen gegen Einrichtungen der ANDSF in den Provinzen Kandahar, Helmand und Balkh an Fahrzeugen befestigte improvisierte Sprengkörper (SVBIEDs) ein (UNGASC 17.3.2020).

Anschläge gegen Gläubige und Kultstätten, religiöse Minderheiten

Nach Unterzeichnung des Abkommens zwischen den USA und den Taliban war es bereits Anfang März 2020 zu einem ersten großen Angriff des ISKP gekommen (BBC 6.3.2020; vgl. AJ 6.3.2020). Der ISKP hatte sich an den Verhandlungen nicht beteiligt (BBC 6.3.2020) und bekannte sich zu dem Angriff auf eine Gedenkfeier eines schiitischen Führers; Schätzungen zufolge wurden dabei mindestens 32 Menschen getötet und 60 Personen verletzt (BBC 6.3.2020; vgl. AJ 6.3.2020).

Am 25.3.2020 kam es zu einem tödlichen Angriff des ISKP auf eine Gebetsstätte der Sikh (Dharamshala) in Kabul. Dabei starben 25 Menschen, 8 weitere wurden verletzt (NYT 26.3.2020; vgl. TN 26.3.2020; BBC 25.3.2020). Regierungsnahe Quellen in Afghanistan machen das Haqqani-Netzwerk für diesen Angriff verantwortlich, sie werten dies als Vergeltung für die Gewalt an Muslimen in Indien (AJ 27.3.2020; vgl. TTI 26.3.2020). Die Taliban distanzierten sich von dem Angriff (NYT 26.3.2020). Am Tag nach dem Angriff auf die Gebetsstätte, detonierte eine magnetische Bombe beim Krematorium der Sikh, als die Trauerfeierlichkeiten für die getöteten Sikh-Mitglieder im Gange waren. Mindestens eine Person wurde dabei verletzt (TTI 26.3.2020; vgl. NYT 26.3.2020). Beamte, Journalisten, Aktivisten der Zivilgesellschaft, religiöse Gelehrte, einflussreiche Persönlichkeiten, Mitglieder der Nationalversammlung und Menschenrechtsverteidiger waren im Jahr 2020 ein häufiges Ziel gezielter Anschläge (AIHRC 28.1.2021).

Daikundi

Letzte Änderung: 08.03.2021

Daikundi liegt in der Zentralregion Hazarajat und grenzt an Ghor im Norden und Westen, Bamyan im Osten, Ghazni im Südosten, Uruzgan im Süden und Helmand im Südwesten (UNOCHA Daikundi 4.2014). Daikundi gehörte früher zur Provinz Uruzgan und ist mittlerweile eine eigenständige Provinz (PAJ 1.2.2014). Neben der Provinzhauptstadt Nili besteht Daikundi aus den folgenden Distrikten: Ishterlai, Pato, Kejran, Khedir, Kiti, Miramor, Sang-e-Takht (Sang Takht) und Shahristan (NSIA 1.6.2020; vgl. IEC Daikundi 2019). Der Distrikt Gizab/Pato wechselte in der Vergangenheit zwischen Uruzgan und Daikundi (AAN 31.10.2011). Im Juni 2018 wurde Pato ein eigenständiger Distrikt (AAN 27.1.2019). DieNational Statistics and Information Authority of Afghanistan (NSIA) führte Pato 2020 als „temporären" Distrikt von Daikundi (NSIA 1.6.2020). „Temporäre" Distrikte sind Distrikte, die nach Inkrafttreten der Verfassung im Jahr 2004 vom Präsidenten aus Sicherheits- oder anderen Gründen genehmigt, jedoch (noch) nicht vom Parlament bestätigt wurden (AAN 16.8.2018). Der von Hazara dominierte Distrikt Nawamish wurde auf Anordnung des Präsidenten im März 2016 vom mehrheitlich paschtunischen Distrikt Baghran in der Provinz Helmand abgespalten. Im Juni 2017 wurden die administrativen Angelegenheiten von Nawamish Daikundi zugeordnet (AAN 16.8.2018), bzw. beschloss die Regierung 2018, dass Nawamish Teil von Daikundi werden würde (Mobasher 2019). Während Zeitungsberichte vom August und Mai 2020 Nawamish zu Daikundi zählen (MENAFN 19.8.2020, XI 1.5.2020), rechnen die nationale Statistikbehörde und die unabhängige Wahlkommission (IEC) Nawamish allerdings weiterhin Helmand zu (NSIA 1.6.2020; IEC Helmand 2019). Eine Quelle berichtet, dass es sich hierbei um einen Konflikt entlang ethnischer Grenzen handelt: Während Paschtunen fordern, dass Nawamish Teil von Daikundi sein soll, sprechen sich Hazara für eine Zugehörigkeit zu Helmand aus (Mobasher 2019).

Die NSIAschätzt die Bevölkerung in Daikundi im Zeitraum 2020-21 auf 516.504 Personen (NSIA

1.6.2020) . Als Teil des Hazarajats (UNOCHA Daikundi 4.2014) wird Daikundi mehrheitlich von Hazara bewohnt, wobei es eine Minderheit an Paschtunen, Belutschen und Sayeds/Sadats gibt (NPS Daikundi o.D.).

Daikundi ist von Bergen umgeben. Fehlende Straßeninfrastruktur und die große Entfernung zu den afghanischen Großstädten machen den Transport zu einer kostspieligen und oft riskanten Aufgabe (KN 19.5.2020). Die Provinz kann via Uruzgan oder Bamyan erreicht werden (LCA

4.7.2018) , bei starkem Schneefall sind die Straßen jedoch blockiert (LCA 4.7.2018; vgl. AnA

13.2.2020) . Es gibt in Daikundi einen Flughafen, der jedoch nach Angaben des Provinzgouverneurs keine Standards erfüllt und nur von kleinen Flugzeugen angeflogen werden kann (TN

6.4.2018) . Von und nach Daikundi gibt es keinen Linienflugbetrieb (STDOK 25.3.2019).

Hintergrundinformationen zum Konflikt und Akteure

Daikundi wird als eine relativ sichere Gegend im zentralen Hochland erachtet (RFE/RL 12.7.2020; vgl. AAN 27.1.2019). Der Distrikt Kejran wurde von einer Quelle im August 2020 jedoch als einer der unsicheren Distrikte der Provinz bezeichnet (KP 31.8.2020; vgl. PAJ 25.9.2020, AVA 20.6.2020). Kejran liegt in der Nähe der volatilen Provinz Helmand (AT 29.9.2020).

Auf Regierungsseite befindet sich Daikundi im Verantwortungsbereich des 205. Afghan National Army (ANA) „Atal" Corps (USDOD 1.7.2020; KP 3.8.2019), das der NATO-Mission Train Advise Assist Command - South (TAAC-S) untersteht, welches von US-amerikanischen Streitkräften geleitet wird (USDOD 1.7.2020).

Jüngste Entwicklungen und Auswirkungen auf die zivile Bevölkerung

Der folgenden Tabelle kann die Anzahl der sicherheitsrelevanten Vorfälle in der Provinz gemäß ACLED und Globalincidentmap (GIM) für den Zeitraum 1.1.2019-31.12.2020 entnommen werden (Quellenbeschreibung s. Disclaimer - auch bzgl. Problemen bei der Vergleichbarkeit der Zahlen zwischen 2019 und 2020; hervorgehoben: Distrikt der Provinzhauptstadt):

Im Jahr 2020 dokumentierte UNAMA 72 zivile Opfer (42 Tote und 30 Verletzte) in der Provinz Daikundi. Dies entspricht einer Steigerung von 3% gegenüber 2019. Die Hauptursache für die Opfer waren improvisierte Sprengkörper (improvised explosive devices, IEDs; ohne Selbstmordattentate), gefolgt von Kämpfen am Boden und Luftoperationen (UNAMA 2.2021).

In den Distrikten Kejran (NYTM 30.4.2020, PAJ 29.3.2020) und Pato fanden Angriffe der Taliban auf Sicherheitsposten der Regierungskräfte statt (NYTM 28.8.2020, NYTM 30.7.2020; vgl. RFE/RL 12.7.2020). Die Regierungskräfte führten zum Jahreswechsel 2019/2020 Räumungsoperationen in Kejran durch (DOA 2.1.2020; vgl. PAJ 27.12.2019). Im September 2020 wurde von einem Vorfall mit einer Sprengfalle am Straßenrand im Distrikt Kejran berichtet, bei welchem 15 Zivilisten getötet wurden (AT 29.9.2020, UNAMA 10.2020). Weiters kam es zu Entführungen durch die Taliban im Distrikt Kejran (KP 31.8.2020, AVA 20.6.2020; vgl.RY 21.6.2020).

Quellen:

•        AAN - Afghanistan Analysts Network (27.1.2019): The 2018 Election Observed (7) in Daikundi: The outstanding role of women, https://www.afghanistan-analysts.org/the-parliamentary-election-in-dai kundi-the-outstanding-role-of-women/, Zugriff 5.11.2020

•        AAN -Afghanistan Analysts Network (16.8.2018): The Afghanistan Election Conundrum (12): Good news and bad news about Distrikt numbers, https://www.afghanistan-analysts.org/en/reports/politi cal-landscape/the-afghanistan-election-conundrum-12-good-news-and-bad-news-about-district- numbers/, Zugriff 5.11.2020

•        AAN - Afghanistan Analysts Network (31.10.2011): Trouble in Gizab; the fight everyone chose to ignore, https://www.afghanistan-analysts.org/trouble-in-gizab-the-fight-everyone-chose-to-ignore/, Zugriff 5.11.2020

•        ACLED - Armed Conflict Location and Event Data (o.D.): ACLED Data https://acleddata. com/data-export-tool/, Zugriff 26.2.2021

•        AnA - Anadolu Agency (13.2020): Heavy Snowfall, avalanche leaves 15 dead in Afghanistan, https://www.aa.com.tr/en/asia-pacific/heavy-snowfall-avalanche-leaves-15-dead-in -afghanistan/1733245 , Zugriff 15.10.2020

•        AT -Afghanistan Times (29.9.2020):Aroadside bomb struck aminivan in Daikundi province, killing at least fifteen civilians, http://www.afghanistantimes.af/a-roadside-bomb-struck-a -minivan-in-daikundi-province-killing-at-least-fifteen-civilians/, Zugriff 15.10.2020

•        AVA-Afghan Voice Agency (20.6.2020): Taliban Holding 57 Civilians Hostage in Daykundi: Officials, https://www.avapress.com/en/news/212518/taliban-holding-57-civilians-hostage -in-daykundi-officials , Zugriff 15.10.2020

•        DOA- Daily Outlook Afghanistan (2.1.2020): Comprehensive Counter-Taliban Operations Begin in Daykundi, http://www.outlookafghanistan.net/national_detail.php?post_id=25838 , Zugriff

15.10.2020

•        GIM - Globalincidentmap (o.D.): Globalincidentmap displaying Terrorist Acts, Suspicious Activity, and General Terrorism News, www.globalincidentmap.com , Zugriff 26.2.2021

•        IEC Daikundi - Independent Election Commission (2019): Afghanistan 2019 Presidential Election - Results by Polling Stations: Province Daykundi, 2018, http://www.iec.org.af/results/en/home/preli minaryresult_by_pc/24 , Zugriff 4.11.2020

•        IEC Helmand - Independent Election Commission (2019): Afghanistan 2019 Presidential Election - Results by Polling Stations: Province Hilmand, http://www.iec.org.af/results/en/home/preliminaryre sult_by_pc/30 , Zugriff 15.10.2020

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•        KP - Khaama Press (31.8.2020): Taliban Kill 3 Children in Daykundi, https://www.khaama.com/tal iban-kills-3-children-in-daykundi-3453/, Zugriff 15.10.2020

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•        NYTM - New York Times Magazine (30.7.2020): Afghan War Casualty Report: July 2020, https: //www.nytimes.com/2020/07/09/magazine/afghan-war-casualty-report-july-2020.html?auth=login- email&login=email, Zugriff 5.10.2020

Quelle: Bundesverwaltungsgericht BVwg, https://www.bvwg.gv.at
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