TE Vfgh Beschluss 2021/9/22 G385/2020 ua

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Veröffentlicht am 22.09.2021
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Index

24/01 Strafgesetzbuch
25/01 Strafprozess

Norm

B-VG Art 140 Abs1 Z1 litd
StPO §9, §185
StGB §58
VfGG §7 Abs2, §62 Abs1

Leitsatz

Zurückweisung eines Parteiantrages auf Aufhebung von Bestimmungen der StPO betreffend Beschleunigungsgebot und Verlängerung der Frist zur Ausführung von Rechtsmitteln; Ablehnung des Parteiantrages auf Aufhebung einer Bestimmung des StGB betreffend die Verlängerung der Verjährungsfrist; keine Darlegung der Bedenken

Spruch

I. Der Antrag auf Aufhebung des §9 der Strafprozeßordnung 1975 (StPO), BGBl Nr 631/1975 idF BGBl I Nr 19/2004, und auf Aufhebung des §285 StPO, BGBl Nr 631/1975 idF BGBl I Nr 111/2010, wird zurückgewiesen.

II. Die Behandlung des Antrages auf Aufhebung des §58 des Bundesgesetzes vom 23. Jänner 1974 über die mit gerichtlicher Strafe bedrohten Handlungen (Strafgesetzbuch – StGB), BGBl Nr 60/1974 idF BGBl I Nr 117/2017, wird abgelehnt.

III. Der Ablehnungsantrag wird zurückgewiesen.

Begründung

Begründung

I. Antrag

Mit dem vorliegenden, auf Art140 Abs1 Z1 litd B-VG gestützten Antrag begehrt der Antragsteller, der Verfassungsgerichtshof möge "§285 StPO", "§9 StPO" und "§58 StGB", deren Wortlaut – unter Auslassung von §58 Abs3 Z3 und 4 und Abs4 StGB – im Antrag jeweils zur Gänze wiedergegeben ist, "als verfassungswidrig auf[…]heben".

II. Rechtslage

1. §9 der Strafprozeßordnung 1975 (StPO), BGBl 631/1975, in der – offenbar – angefochtenen Fassung BGBl I 19/2004, sowie §285 StPO, BGBl 631/1975, in der – offenbar – angefochtenen Fassung BGBl I 111/2010, lauten (die mit Hauptantrag angefochtenen Bestimmungen sind hervorgehoben):

"Beschleunigungsgebot

§9. (1) Jeder Beschuldigte hat Anspruch auf Beendigung des Verfahrens innerhalb angemessener Frist. Das Verfahren ist stets zügig und ohne unnötige Verzögerung durchzuführen.

(2) Verfahren, in denen ein Beschuldigter in Haft gehalten wird, sind mit besonderer Beschleunigung zu führen. Jeder verhaftete Beschuldigte hat Anspruch auf ehest mögliche Urteilsfällung oder Enthaftung während des Verfahrens. Alle im Strafverfahren tätigen Behörden, Einrichtungen und Personen sind verpflichtet, auf eine möglichst kurze Dauer der Haft hinzuwirken.

[…]

§285. (1) Der Beschwerdeführer hat das Recht, binnen vier Wochen nach der Anmeldung der Nichtigkeitsbeschwerde, wenn ihm eine Urteilsabschrift aber erst nach der Anmeldung des Rechtsmittels zugestellt wurde, binnen vier Wochen nach der Zustellung eine Ausführung seiner Beschwerdegründe beim Gericht in zweifacher Ausfertigung zu überreichen. Er muss entweder in dieser Schrift oder bei Anmeldung seiner Beschwerde die Nichtigkeitsgründe einzeln und bestimmt bezeichnen, widrigens auf seine Beschwerde vom Obersten Gerichtshofe keine Rücksicht zu nehmen ist.

(2) Im Falle extremen Umfangs des Verfahrens hat das Landesgericht die in Abs1 genannte Frist auf Antrag des Beschwerdeführers um den Zeitraum zu verlängern, der – insbesondere im Hinblick auf eine ganz außergewöhnliche Dauer der Hauptverhandlung, einen solchen Umfang des Hauptverhandlungsprotokolls, des übrigen Akteninhalts und der Urteilsausfertigung – erforderlich ist, um eine ausreichende Vorbereitung der Verteidigung (Art6 Abs3 litb der Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten, BGBl Nr 210/1958, und Art2 des 7. Zusatzprotokolls, BGBl Nr 628/1988) oder der Verfolgung der Anklage zu gewährleisten.

(3) Ein Antrag nach Abs2 ist beim Landesgericht innerhalb der zur Ausführung der Beschwerde ansonsten zur Verfügung stehenden Frist schriftlich einzubringen. Über den Antrag entscheidet der Vorsitzende nach Maßgabe der in Abs2 genannten Kriterien und unter Bedachtnahme auf das Erfordernis einer angemessenen Dauer des Verfahrens (Art6 Abs1 der Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten, BGBl Nr 210/1958); gegen seinen Beschluss steht eine Beschwerde nicht zu. Die Zeit von der Antragstellung bis zur Bekanntmachung des Beschlusses wird in die Frist zur Ausführung der Gründe der Nichtigkeitsbeschwerde nicht eingerechnet; diese beginnt jedenfalls nicht zu laufen, ehe der Beschluss über den Antrag bekannt gemacht ist.

(4) Hat der Beschwerdeführer eine Beschwerdeschrift eingebracht, so ist sie seinem Gegner mit der Belehrung zuzustellen, dass er binnen vier Wochen seine Gegenausführung überreichen könne. Diese Frist kann unter sinngemäßer Anwendung der Abs2 und 3 verlängert werden.

(5) Die Gegenausführung ist dem Beschwerdeführer zuzustellen. Danach sind alle Akten an den Obersten Gerichtshof zu senden, der darüber zu entscheiden hat."

2. §57 des Bundesgesetzes vom 23. Jänner 1974 über die mit gerichtlicher Strafe bedrohten Handlungen (Strafgesetzbuch – StGB), BGBl 60/1974, in der – offenbar – maßgeblichen Fassung BGBl 106/2014, sowie §58 StGB, BGBl 60/1974, in der – offenbar – angefochtenen Fassung BGBl I 117/2017, lauten (die mit Hauptantrag angefochtenen Bestimmungen sind hervorgehoben):

"Sechster Abschnitt

Verjährung

Verjährung der Strafbarkeit

§57. (1) Strafbare Handlungen, die mit Freiheitsstrafe von zehn bis zu zwanzig Jahren oder mit lebenslanger Freiheitsstrafe bedroht sind, sowie strafbare Handlungen nach dem fünfundzwanzigsten Abschnitt verjähren nicht. Nach Ablauf einer Frist von zwanzig Jahren tritt jedoch an die Stelle der angedrohten lebenslangen Freiheitsstrafe eine Freiheitsstrafe von zehn bis zu zwanzig Jahren. Für die Frist gelten Abs2 und §58 entsprechend.

(2) Die Strafbarkeit anderer Taten erlischt durch Verjährung. Die Verjährungsfrist beginnt, sobald die mit Strafe bedrohte Tätigkeit abgeschlossen ist oder das mit Strafe bedrohte Verhalten aufhört.

(3) Die Verjährungsfrist beträgt

zwanzig Jahre, wenn die Handlung zwar nicht mit lebenslanger Freiheitsstrafe, aber mit mehr als zehnjähriger Freiheitsstrafe bedroht ist;

zehn Jahre, wenn die Handlung mit mehr als fünfjähriger, aber höchstens zehnjähriger Freiheitsstrafe bedroht ist;

fünf Jahre, wenn die Handlung mit mehr als einjähriger, aber höchstens fünfjähriger Freiheitsstrafe bedroht ist;

drei Jahre, wenn die Handlung mit mehr als sechsmonatiger, aber höchstens einjähriger Freiheitsstrafe bedroht ist;

ein Jahr, wenn die Handlung mit nicht mehr als sechsmonatiger Freiheitsstrafe oder nur mit Geldstrafe bedroht ist.

(4) Mit dem Eintritt der Verjährung werden auch der Verfall und vorbeugende Maßnahmen unzulässig.

Verlängerung der Verjährungsfrist

§58. (1) Tritt ein zum Tatbild gehörender Erfolg erst ein, nachdem die mit Strafe bedrohte Tätigkeit abgeschlossen worden ist oder das mit Strafe bedrohte Verhalten aufgehört hat, so endet die Verjährungsfrist nicht, bevor sie entweder auch vom Eintritt des Erfolges ab verstrichen ist oder seit dem im §57 Abs2 bezeichneten Zeitpunkt ihr Eineinhalbfaches, mindestens aber drei Jahre abgelaufen sind.

(2) Begeht der Täter während der Verjährungsfrist neuerlich eine mit Strafe bedrohte Handlung, die auf der gleichen schädlichen Neigung beruht, so tritt die Verjährung nicht ein, bevor auch für diese Tat die Verjährungsfrist abgelaufen ist.

(3) In die Verjährungsfrist werden nicht eingerechnet:

1. die Zeit, während der nach einer gesetzlichen Vorschrift die Verfolgung nicht eingeleitet oder fortgesetzt werden kann, soweit das Bundes-Verfassungsgesetz, BGBl Nr 1/1930, und Abs4 nichts anderes bestimmen;

2. die Zeit zwischen der erstmaligen Vernehmung als Beschuldigter, der erstmaligen Androhung oder Ausübung von Zwang gegen den Täter wegen der Tat (§§93 Abs1, 105 Abs1 StPO), der ersten staatsanwaltlichen Anordnung oder Antragstellung auf Durchführung oder Bewilligung von im 8. Hauptstück der StPO geregelten Ermittlungsmaßnahmen und Beweisaufnahmen zur Aufklärung des gegen den Täter gerichteten Verdachts, der Anordnung der Fahndung oder Festnahme, des Antrags auf Verhängung der Untersuchungshaft oder der Einbringung der Anklage und der rechtskräftigen Beendigung des Verfahrens;

3. die Zeit bis zur Vollendung des 28. Lebensjahres des Opfers einer strafbaren Handlung gegen Leib und Leben, gegen die Freiheit oder gegen die sexuelle Integrität und Selbstbestimmung, wenn das Opfer zur Zeit der Tatbegehung minderjährig war;

4. die Probezeit nach §203 Abs1 StPO, die Fristen zur Zahlung eines Geldbetrages samt allfälliger Schadensgutmachung und zur Erbringung gemeinnütziger Leistungen samt allfälligem Tatfolgenausgleich (§§200 Abs2 und 3, 201 Abs1 und 3 StPO), sowie die Zeit von der Stellung eines Ersuchens der Staatsanwaltschaft gemäß §204 Abs3 StPO bis zur Mitteilung des Konfliktreglers über die Ausgleichsvereinbarungen und ihre Erfüllung (§204 Abs4 StPO).

(3a) Eine nach den vorstehenden Absätzen eingetretene Hemmung der Verjährung bleibt wirksam, auch wenn durch eine spätere Änderung des Gesetzes die Tat im Zeitpunkt der Hemmung nach dem neuen Recht bereits verjährt gewesen wäre.

(4) Wird die Tat nur auf Verlangen oder mit Ermächtigung eines dazu Berechtigten verfolgt, so wird der Lauf der Verjährung nicht dadurch gehemmt, daß die Verfolgung nicht verlangt oder die Ermächtigung nicht erteilt wird."

III. Anlassverfahren und Antragsvorbringen

1. Mit Urteil vom 24. Februar 2020 verurteilte das Landesgericht für Strafsachen Wien als Schöffengericht den Antragsteller wegen des Verbrechens des gewerbsmäßig schweren Betruges nach §146, §147 Abs1 Z1 und Abs3, §148 zweiter Fall StGB nach dem Strafsatz des §147 Abs3 StGB zu einer Freiheitsstrafe in der Dauer von vier Jahren sowie gemäß §389 Abs1 StPO zum Ersatz der Kosten des Strafverfahrens.

2. Gegen dieses Urteil meldete der Antragsteller am 24. Februar 2020 Nichtigkeitsbeschwerde und Berufung an. Die schriftliche Ausfertigung des Urteiles wurde dem Verteidiger am 24. September 2020 zugestellt.

Mit Schriftsatz vom 2. Oktober 2020 beantragte der Antragsteller eine Verlängerung der Frist zur Ausführung der Nichtigkeitsbeschwerde um neun Monate.

Mit Beschluss vom 15. Oktober 2020 verlängerte das Landesgericht für Strafsachen Wien die Frist zur Ausführung der Nichtigkeitsbeschwerde um acht Wochen.

Mit Schriftsatz vom 13. Dezember 2020 führte der Antragsteller schließlich die Nichtigkeitsbeschwerde und Berufung aus.

3. Aus Anlass der Ausführung der Nichtigkeitsbeschwerde und Berufung stellte der Antragsteller den vorliegenden, auf Art140 Abs1 Z1 litd B-VG gestützten Antrag.

3.1. In seinem (Partei-)Antrag ficht der Antragsteller zunächst §285 StPO an und bringt vor, die Bestimmung verletze Art6 EMRK, weil sie zu unbestimmt sei und ein Rechtsmittel gegen die Entscheidung des Gerichtes über den Antrag auf Verlängerung der Frist zur Ausführung der Nichtigkeitsbeschwerde nicht vorsehe. Im Übrigen bewirke die durch die Norm ermöglichte Auslegungspraxis eine Verletzung des Art6 EMRK.

3.2. Ebenso wegen Unbestimmtheit und mangelnder "Anfechtungsmöglichkeit" verstoße §9 StPO nach den Ausführungen des Antragstellers gegen Art6 EMRK. Die durch die Norm ermöglichte Auslegungspraxis führe zu einer Verletzung des Art6 EMRK.

3.3. Schließlich behauptet der Antragsteller, §58 StGB verstoße gegen Art6 EMRK, weil die angefochtene Bestimmung dem Telos des Art6 EMRK, ein Verfahren innerhalb angemessener Zeit zu beenden, entgegenstehe.

IV. Erwägungen

1. Zur Unzulässigkeit des Antrages, soweit er sich gegen die §§9 und 285 StPO richtet:

1.1. Der Verfassungsgerichtshof hat sich in einem auf Antrag eingeleiteten Verfahren gemäß Art140 B-VG auf die Erörterung der aufgeworfenen Fragen zu beschränken (VfSlg 12.592/1990, 12.691/1991, 13.471/1993, 13.704/1994). Er hat ausschließlich zu beurteilen, ob die angefochtenen Bestimmungen aus den in der Begründung des Antrages dargelegten Gründen verfassungswidrig sind. Gemäß §62 Abs1 Satz 2 VfGG hat der Antrag, ein Gesetz als verfassungswidrig aufzuheben, die gegen die Verfassungsmäßigkeit des Gesetzes sprechenden Bedenken im Einzelnen darzulegen. Dieses Erfordernis ist nach der ständigen Rechtsprechung des Verfassungsgerichtshofes nur dann erfüllt, wenn die Gründe der behaupteten Verfassungswidrigkeit – in überprüfbarer Art– präzise ausgebreitet werden, dh dem Antrag mit hinreichender Deutlichkeit zu entnehmen ist, mit welcher Verfassungsbestimmung die bekämpfte Gesetzesstelle in Widerspruch stehen soll und welche Gründe für diese Annahme sprechen (vgl zB VfSlg 11.150/1986, 11.888/1988, 13.710/1994, 13.851/1994, 14.802/1997).

Es genügt dabei nicht, dass im Antrag behauptet wird, dass die bekämpften Gesetzesstellen gegen eine oder mehrere – wenn auch näher bezeichnete – Verfassungsbestimmung(en) verstoßen; vielmehr muss konkret dargelegt werden, aus welchen Gründen den bekämpften Normen die behauptete Verfassungswidrigkeit anzulasten ist. Begnügt sich ein Antrag damit, den Verstoß gegen Verfassungsgebote zu behaupten, unterlässt er aber konkrete Darlegungen, warum die bekämpften Regelungen im Einzelnen gegen die genannten Verfassungsbestimmungen verstoßen, so ist der Antrag als unzulässig zurückzuweisen. Es ist nicht Aufgabe des Verfassungsgerichtshofes, pauschal vorgetragene Bedenken einzelnen Bestimmungen zuzuordnen und – gleichsam stellvertretend – das Vorbringen für den Antragsteller zu präzisieren (VfSlg 13.123/1992, 16.507/2002).

1.2. Der Antragsteller bringt sowohl gegen §9 StPO als auch gegen §285 StPO vor, der Inhalt der Normen sei zu unbestimmt und der Mangel der Möglichkeit eines Rechtsmittels führe dazu, dass das Erkenntnis des Verfassungsgerichtshofes vom 16. März 2000, G151/99, in Anwendung der angefochtenen Normen nicht befolgt würde.

1.3. Soweit sich diese Bedenken nicht ohnedies nur gegen den Vollzug durch die Strafgerichte richten, bezieht sich das Vorbringen des Antragstellers pauschal auf die §§9 und 285 StPO. Damit entspricht der Antrag, soweit er sich auf die §§9 und 285 StPO bezieht, nicht der Anforderung des §62 Abs1 VfGG, dass die gegen die Verfassungsmäßigkeit eines Gesetzes sprechenden Bedenken im Einzelnen und konkret darzulegen sind.

1.3.1. §285 StPO enthält verfahrensrechtliche Bestimmungen über die Ausführung einer Nichtigkeitsbeschwerde gegen das Urteil eines Landesgerichtes als Schöffengericht, die die formalen Erfordernisse einschließlich der Frist (Abs1), die Verlängerung der Frist im Falle extremen Umfanges (Abs2), die verfahrensrechtliche Behandlung eines solchen Verlängerungsantrages (Abs3), die Bestimmungen über die Zustellung der Nichtigkeitsbeschwerde sowie die Gegenausführung zu einer solchen (Abs4) und endlich die Zustellung einer Gegenäußerung und die Übermittlung des Aktes an den Obersten Gerichtshof (Abs5) erfassen.

1.3.2. Auch §9 StPO enthält unterschiedliche Bestimmungen. §9 Abs1 StPO wiederholt das allgemeine, dem Art6 Abs1 EMRK entspringende (Beschleunigungs-)Gebot, ein Strafverfahren in angemessener Frist zu beenden. Ferner umfasst Abs2 ein besonderes Beschleunigungsgebot in Haftsachen (zu alldem Kier, §9, in: Fuchs/Ratz [Hrsg.], Wiener Kommentar zur Strafprozessordnung, rdb.at, Stand 1.12.2008, Rz 2 ff., 46 ff.).

1.4. Schon die Struktur und der jeweils unterschiedliche Regelungsgegenstand der angefochtenen Bestimmungen erfordern daher mit Blick auf §62 Abs1 VfGG eine nähere Darlegung und Zuordnung der Bedenken. Schon aus diesem Grund erweist sich daher der Antrag, soweit er die §§9 und 285 StPO betrifft, als unzulässig.

2. Soweit sich der Antrag gegen §58 StGB richtet, wird seine Behandlung abgelehnt:

2.1. Der Verfassungsgerichtshof kann die Behandlung eines Antrages gemäß Art140 Abs1 Z1 litd B-VG ablehnen, wenn er keine hinreichende Aussicht auf Erfolg hat (Art140 Abs1b B-VG; vgl VfGH 24.2.2015, G13/2015).

Der Verfassungsgerichtshof hat sich in einem auf Antrag eingeleiteten Verfahren zur Prüfung der Verfassungsmäßigkeit eines Gesetzes gemäß Art140 B-VG auf die Erörterung der geltend gemachten Bedenken zu beschränken (vgl VfSlg 12.691/1991, 13.471/1993, 14.895/1997, 16.824/2003). Er hat sohin ausschließlich zu beurteilen, ob die angefochtene Bestimmung aus den in der Begründung des Antrages dargelegten Gründen verfassungswidrig ist (VfSlg 15.193/1998, 16.374/2001, 16.538/2002, 16.929/2003).

2.2. Der Antragsteller behauptet, §58 StGB verstoße gegen Art6 EMRK, weil die angefochtene Bestimmung dem Telos des Art6 EMRK, ein Verfahren innerhalb angemessener Zeit zu beenden, entgegenstehe.

2.3. Das Vorbringen des Antrages lässt die behaupteten Verfassungswidrigkeiten als so wenig wahrscheinlich erkennen, dass er keine hinreichende Aussicht auf Erfolg hat:

2.3.1. Nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte dienen Verjährungsfristen mehreren wichtigen Zwecken, nämlich der Gewährleistung von Rechtssicherheit und Endgültigkeit, dem Schutz potenzieller Angeklagter vor veralteten Ansprüchen, die möglicherweise schwer zu kontern sind, und der Verhinderung von Ungerechtigkeiten, die entstehen könnten, wenn Gerichte über Ereignisse auf Grundlage von Beweisen, die auf Grund des Zeitablaufs unzuverlässig und unvollständig geworden sein könnten, entscheiden müssten (EGMR 22.10.1996, Fall Stubbings ua, Appl 22.083/93 und 22.095/93 [Z51]; 9.1.2013, Fall Oleksandr Volkov, Appl 21.722/11 [Z137]). Nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte steht zwar nicht fest, wie lange Verjährungsfristen zu sein haben. Ein gänzliches Fehlen einer Verjährungsfrist (im dort behandelten Fall der disziplinarrechtlichen Entlassung eines Richters) stelle jedoch eine ernsthafte Bedrohung des Grundsatzes der Rechtssicherheit dar (EGMR, Fall Oleksandr Volkov, Z139).

2.3.2. Das StGB sieht in den §§57 und 58 ein nach Strafdrohungen abgestuftes, mitunter auch von prozessualen Erwägungen getragenes System der Verjährung der Strafbarkeit vor (Marek, Vor §§57–60 StGB, in: Höpfel/Ratz [Hrsg.], Wiener Kommentar zum Strafgesetzbuch, rdb.at, Stand 1.6.2018, Rz 3). Dass §58 StGB für bestimmte Fälle, insbesondere für ein laufendes Verfahren (Abs3 Z2), die Hemmung der Verjährungsfrist vorsieht (Marek, §58 StGB, in: Höpfel/Ratz [Hrsg.], Wiener Kommentar zum Strafgesetzbuch, rdb.at, Stand 1.6.2018, Rz 18 ff.), kommt nicht dem gänzlichen Fehlen einer Verjährungsfrist gleich.

2.3.3. Vereinzelte Fälle überlanger Verfahrensdauer, in denen die Verjährung als Folge der langen Verfahrensdauer gehemmt ist, bedeuten noch keinen Verstoß des Regelungssystems an sich gegen Art6 EMRK. Solche vereinzelten Fälle betreffen den Vollzug der Gesetze durch die Strafverfolgungsbehörden, führen jedoch nicht zur Verfassungswidrigkeit des Gesetzes (vgl VfSlg 16.773/2002), zumal ein strukturelles Problem in der Verfahrensordnung nicht erkennbar ist und vom Antragsteller auch nicht dargetan wurde (vgl EGMR 26.10.2000 [GK], Fall Kudla, Appl 30.210/96; 28.1.2010, Fall Rambauske, Appl 45.369/07).

2.4. Demgemäß wurde beschlossen, von einer Behandlung des Antrages, soweit er sich gegen §58 StGB richtet, abzusehen (§19 Abs3 Z1 iVm §31 letzter Satz VfGG).

3. Hinsichtlich des – mit nachträglichem Schriftsatz vom 4. Juni 2021 gestellten – Ablehnungsantrages ist der Antragsteller auf die ständige Rechtsprechung des Verfassungsgerichtshofes hinzuweisen (vgl etwa VfSlg 9462/1982, 11.699/1988; VfGH 22.9.2016, E1954/2016 ua), wonach das Verfassungsgerichtshofgesetz für Verfahrensparteien nicht die Möglichkeit vorsieht, ein Mitglied des Verfassungsgerichtshofes abzulehnen (§12 Abs1 VfGG).

V. Ergebnis

1. Der Antrag auf Aufhebung der §§9 und 285 StPO wird zurückgewiesen.

2. Die Behandlung des Antrages auf Aufhebung des §58 StGB wird abgelehnt.

3. Der Ablehnungsantrag wird zurückgewiesen.

         Diese Entscheidung konnte gemäß §19 Abs3 Z2 lite VfGG bzw §19 Abs3 Z1 iVm §31 letzter Satz VfGG ohne mündliche Verhandlung in nichtöffentlicher Sitzung getroffen werden.

Schlagworte

VfGH / Parteiantrag, VfGH / Bedenken, VfGH / Ablehnung, Strafprozessrecht, Strafrecht, Verfahrensbeschleunigung, Fristen, Verjährung

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:VFGH:2021:G385.2020

Zuletzt aktualisiert am

02.12.2021
Quelle: Verfassungsgerichtshof VfGH, http://www.vfgh.gv.at
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