TE Vfgh Erkenntnis 2021/10/7 E3649/2021

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Veröffentlicht am 07.10.2021
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Index

41/02 Staatsbürgerschaft, Pass- und Melderecht, Fremdenrecht, Asylrecht

Norm

EMRK Art2, Art3
AsylG 2005 §7, §8, §10, §57
FremdenpolizeiG 2005 §46, §52, §55
VfGG §7 Abs2

Leitsatz

Verletzung im Recht auf Leben und im Recht, nicht der Folter oder unmenschlicher oder erniedrigender Strafe oder Behandlung unterworfen zu werden durch die Nichtzuerkennung des Status einer subsidiär Schutzberechtigten (im Zuge der Aberkennung des Asylstatus) an eine Staatsangehörigen von Afghanistan; Verkennung der spätestens seit 20.07.2021 erkennbaren extremen Volatilität der Sicherheitslage begründet eine reale Gefahr der Verletzung der verfassungsgesetzlich gewährleisteten Rechte durch die später ergangene Entscheidung

Spruch

I. 1. Die Beschwerdeführerin ist durch das angefochtene Erkenntnis, soweit damit die Beschwerde gegen die Nichtzuerkennung des Status der subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Afghanistan und gegen die Nichterteilung eines Aufenthaltstitels aus berücksichtigungswürdigen Gründen abgewiesen wird, in den verfassungsgesetzlich gewährleisteten Rechten gemäß Art2 EMRK auf Leben sowie gemäß Art3 EMRK, nicht der Folter oder unmenschlicher oder erniedrigender Strafe oder Behandlung unterworfen zu werden, verletzt worden.

Das Erkenntnis wird insoweit aufgehoben.

2. Im Übrigen wird die Behandlung der Beschwerde abgelehnt.

II. Der Bund (Bundesminister für Inneres) ist schuldig, der Beschwerdeführerin zuhanden ihres Rechtsvertreters die mit € 2.856,– bestimmten Prozesskosten binnen 14 Tagen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.

Begründung

Entscheidungsgründe

I. Sachverhalt und Beschwerde

1. Die Beschwerdeführerin ist eine afghanische Staatsangehörige, die am 1. September 2015 einen Antrag auf internationalen Schutz gestellt hat. Mit Bescheid vom 13. Juli 2016 erkannte das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl der Beschwerdeführerin den Status der Asylberechtigten zu und stellte fest, dass ihr die Flüchtlingseigenschaft zukommt.

2. Am 4. Oktober 2018 reiste die Beschwerdeführerin mit ihrem Ehemann nach Afghanistan und hielt sich dort insgesamt 27 Monate auf. Die Beschwerdeführerin lebte in dieser Zeit bei einer Freundin in Kabul. Auch ihr Sohn hielt sich in dieser Zeit in Kabul auf. Bei ihrer Wiedereinreise in das Bundesgebiet nahm ihr die Grenzpolizei den Konventionsreisepass ab. Mit Bescheid vom 14. Mai 2021 erkannte ihr das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl den Status der Asylberechtigten gemäß §7 Abs1 Z2 AsylG 2005 ab und stellte fest, dass ihr die Flüchtlingseigenschaft kraft Gesetzes nicht mehr zukommt (Spruchpunkt I.). Ferner erkannte es der Beschwerdeführerin den Status der subsidiär Schutzberechtigten nicht zu (Spruchpunkt II.), erteilte keinen Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen (Spruchpunkt III.), erließ gegen die Beschwerdeführerin eine Rückkehrentscheidung (Spruchpunkt IV.), stellte fest, dass die Abschiebung nach Afghanistan zulässig ist (Spruchpunkt V.), und setzte eine 14-tägige Frist für die freiwillige Ausreise ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung (Spruchpunkt VI.).

3. Die dagegen erhobene Beschwerde wies das Bundesverwaltungsgericht nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung mit Erkenntnis vom 12. August 2021 hinsichtlich der Spruchpunkte I., II. und III. als unbegründet ab (Spruchpunkt A. I.) und verwies hinsichtlich der Spruchpunkte IV. bis VI. die Angelegenheit zur Erlassung eines neuen Bescheides an das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl zurück (Spruchpunkt A. II.). Das Bundesverwaltungsgericht führt zur Aberkennung des Status der Asylberechtigten mit näherer Begründung aus, dass die Beschwerdeführerin freiwillig in das Land, das sie aus Furcht vor Verfolgung verlassen habe, zurückgekehrt sei und sich dort rund zwei Jahre aufgehalten habe, sodass eine "Niederlassung" iSd Art1 Abschnitt C Z4 der Genfer Flüchtlingskonvention vorliege. Ein wichtiger Grund für ihren Aufenthalt sei nicht vorgelegen.

Die Voraussetzungen für die Zuerkennung des Status der subsidiär Schutzberechtigten erachtet das Bundesverwaltungsgericht für nicht gegeben. Auf Grund ihrer persönlichen Situation – die Beschwerdeführerin habe auch vor ihrer ersten Einreise in das Bundesgebiet durchgehend in Kabul gelebt und verfüge dort über ein familiäres und soziales Netzwerk, das sie im Falle ihrer Rückkehr unterstützen könne – sei es der Beschwerdeführerin auch mit Blick auf die angespannte Versorgungslage und die Sicherheitslage, die trotz Verschlechterung noch als ausreichend zu bewerten sei, zumutbar, nach Kabul zurückzukehren. Die sich verschlechternde Sicherheitslage habe noch kein Ausmaß erreicht, das eine Rückkehr für jede Person unzumutbar mache.

4. Gegen den Spruchpunkt A. I. des Erkenntnisses richtet sich die vorliegende, auf Art144 Abs1 B-VG gestützte Beschwerde, in der die Verletzung in näher bezeichneten verfassungsgesetzlich gewährleisteten Rechten behauptet und die kostenpflichtige Aufhebung des angefochtenen Erkenntnisses beantragt wird. Begründend führt die Beschwerde ua aus, dass das Bundesverwaltungsgericht aktuelle Länderberichte außer Acht gelassen und damit sein Erkenntnis mit Willkür belastet habe.

5. Der Verfassungsgerichtshof führte zu dieser Beschwerde im Hinblick auf §19 Abs3 Z4 VfGG kein weiteres Verfahren durch.

II. Erwägungen

A. Soweit sich die – zulässige – Beschwerde gegen die Abweisung der Beschwerde durch das Bundesverwaltungsgericht hinsichtlich der Nichtzuerkennung des Status der subsidiär Schutzberechtigten und der Nichterteilung eines Aufenthaltstitels aus berücksichtigungswürdigen Gründen richtet, ist sie auch begründet:

1. Das gemäß Art2 EMRK verfassungsgesetzlich gewährleistete Recht auf Leben wird durch ein Erkenntnis des Verwaltungsgerichtes verletzt, wenn es auf einer Art2 EMRK widersprechenden Rechtsgrundlage oder auf einer diesem Grundrecht widersprechenden Auslegung des Gesetzes beruht sowie auch bei groben Verfahrensfehlern.

In gleicher Weise verletzt ein Erkenntnis des Verwaltungsgerichtes das gemäß Art3 EMRK verfassungsgesetzlich gewährleistete Recht, nicht der Folter oder unmenschlicher oder erniedrigender Strafe oder Behandlung unterworfen zu werden, wenn eine Entscheidung des Verwaltungsgerichtes in Anwendung eines der genannten Verfassungsvorschrift widersprechenden Gesetzes ergangen ist, wenn sie auf einer dem genannten Grundrecht widersprechenden Auslegung des Gesetzes beruht oder wenn dem Verwaltungsgericht grobe Verfahrensfehler unterlaufen sind (vgl VfSlg 13.897/1994, 15.026/1997, 15.372/1998, 16.384/2001, 17.586/2005).

Der Verfassungsgerichtshof geht in Übereinstimmung mit dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (s etwa EGMR 7.7.1989, Fall Soering, EuGRZ1989, 314 [319]; 30.10.1991, Fall Vilvarajah ua, ÖJZ1992, 309 [309]; 6.3.2001, Fall Hilal, ÖJZ2002, 436 [436 f.]) davon aus, dass die Entscheidung eines Vertragsstaates, einen Fremden in welcher Form immer außer Landes zu schaffen, unter dem Blickwinkel des Art3 EMRK erheblich werden und demnach die Verantwortlichkeit des Staates nach der EMRK begründen kann, wenn stichhaltige Gründe für die Annahme glaubhaft gemacht worden sind, dass der Fremde konkret Gefahr liefe, in dem Land, in das er gebracht werden soll, Folter oder unmenschlicher oder erniedrigender Strafe oder Behandlung unterworfen zu werden (vgl VfSlg 13.314/1992, 13.837/1994, 14.119/1995, 14.998/1997). Nichts anderes ist im Hinblick auf Art2 EMRK anzunehmen, wenn dem Fremden im Zielland mit hoher Wahrscheinlichkeit die Tötung droht (s etwa EGMR 8.11.2005, Fall Bader ua, NLMR 2005/6, 273 [274]; 23.3.2016 [GK], Fall F.G., NLMR 2016/2, 105 [105 f.]).

Bei der verfassungsrechtlichen Unbedenklichkeit der Rechtsgrundlagen des angefochtenen Erkenntnisses könnte das Bundesverwaltungsgericht die Beschwerdeführerin in den gemäß Art2 und 3 EMRK verfassungsgesetzlich gewährleisteten Rechte unter anderem verletzen, wenn das Erkenntnis auf einer den genannten Grundrechten widersprechenden Auslegung des Gesetzes beruht.

2. Das Bundesverwaltungsgericht hat bei seiner Entscheidung hinsichtlich der Nichtzuerkennung des Status der subsidiär Schutzberechtigten eine Art2 und 3 EMRK zuwiderlaufende Anwendung des §8 Abs1 AsylG 2005 vorgenommen (vgl VfGH 30.9.2021, E3445/2021):

2.1. Gemäß §8 Abs1 AsylG 2005 ist einem Fremden, dem der Status des Asylberechtigten aberkannt worden ist, der Status des subsidiär Schutzberechtigten zuzuerkennen, wenn eine Zurückweisung, Zurückschiebung oder Abschiebung des Fremden in seinen Herkunftsstaat eine reale Gefahr einer Verletzung von Art2 oder 3 EMRK oder der Protokolle Nr 6 oder Nr 13 zur EMRK bedeuten oder für ihn als Zivilperson eine ernsthafte Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen Konfliktes mit sich bringen würde.

2.2. Das Bundesverwaltungsgericht legt seinen Feststellungen zur Lage in Afghanistan das Länderinformationsblatt der Staatendokumentation in der zuletzt am 2. August 2021 aktualisierten Fassung zugrunde und verneint auf dieser Informationsbasis mit Blick auf die persönlichen Umstände der Beschwerdeführerin eine besondere, mit Blick auf Art2 und 3 EMRK drohende Gefahr im Falle der Rückkehr nach Afghanistan, weil sich die Sicherheitslage zum Entscheidungszeitpunkt noch nicht in einem Ausmaß verschlechtert habe, das eine Rückkehr für jede Person unzumutbar erscheinen lasse.

Bereits im Länderinformationsblatt vom 11. Juni 2021 wird nicht nur von einer vielfach befürchteten massiven Verschlechterung der Sicherheitslage im Falle des Abzuges internationaler Truppen berichtet, sondern auch darüber, dass sich die Sicherheitslage nach dem erfolgten Truppenabzug tatsächlich stetig verschlechtert habe. In diesem Sinne halten die genannten Länderinformationen ausdrücklich fest, dass auf Grund des US-Truppenabzuges der Beginn "eine[r] neue[n] Phase des Konflikts und des Blutvergießens", der "Zusammenbruch der afghanischen Regierung" und die "Übernahme durch die Taliban" zu befürchten sei, und verweisen in diesem Zusammenhang darauf, dass die "Luftwaffe, vor allem die der Amerikaner, […] in den vergangenen Jahren entscheidend dazu beigetragen [hat], den Vormarsch der Taliban aufzuhalten". Die Kampfhandlungen zwischen Taliban und Regierungstruppen hätten seit dem Abzug der internationalen Truppen im April stark zugenommen, die Taliban "den Druck in allen Regionen des Landes verstärkt" und "seit Beginn des Truppenabzugs am 1.5.2021 bis Anfang Juni mindestens zwölf Distrikte erobert". Zudem gebe es einen "Anstieg von tödlichen Selbstmordattentaten in städtischen Gebieten, die der islamistischen Gruppe angelastet würden" (vgl VfGH 24.9.2021, E3047/2021).

In der Kurzinformation der Staatendokumentation vom 19. Juli 2021 wird zudem darüber berichtet, dass "die Taliban 223 der 407 Distrikte in Afghanistan" kontrollierten. Zudem seien "[n]ur in vier Provinzen […] die Distriktzentren noch vollständig in Regierungshand". Weiters seien im Juli "[w]ichtige Grenzübergänge zu Turkmenistan und Iran, beide in der Provinz Herat[,] sowie zu Usbekistan in der Provinz Balkh" durch die Taliban erobert worden. Darüber hinaus komme es "weiterhin zu Angriffen auf und gezielten Tötungen von Zivilisten" (vgl VfGH 30.9.2021, E3445/2021).

2.3. Der Verfassungsgerichtshof ist der Auffassung, dass auf Grundlage der im angefochtenen Erkenntnis abgedruckten länderberichtlichen Informationen vom 11. Juni 2021, insbesondere aber auf Grund der Kurzinformation der Staatendokumentation vom 19. Juli 2021 (vgl in der Folge auch die Kurzinformation der Staatendokumentation vom 2. August 2021) und der breiten medialen Berichterstattung spätestens ab 20. Juli 2021, dh auch zum Zeitpunkt der angefochtenen Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichtes von einer extremen Volatilität der Sicherheitslage in Afghanistan auszugehen war, sodass jedenfalls eine Situation vorliegt, die die Beschwerdeführerin bei einer Rückkehr nach Afghanistan einer realen Gefahr einer Verletzung ihrer verfassungsrechtlich gewährleisteten Rechte gemäß Art2 und 3 EMRK aussetzt (zur Bedeutung dieses Umstandes für die Beurteilung des Vorliegens einer realen Gefahr im Sinne des Art2 und 3 EMRK siehe statt vieler VfSlg 19.466/2011, 20.296/2018, 20.358/2019; VfGH 6.10.2020, E2406/2020).

2.4. Indem das Bundesverwaltungsgericht somit von einer im Hinblick auf Art2 und 3 EMRK zulässigen Rückkehrsituation der Beschwerdeführerin ausgegangen ist, verstößt die Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichtes, soweit sie sich auf die Nichtzuerkennung des Status der subsidiär Schutzberechtigten und daran anknüpfend auf die Nichterteilung eines Aufenthaltstitels aus berücksichtigungswürdigen Gründen bezieht, gegen das Recht auf Leben gemäß Art2 EMRK sowie das Recht gemäß Art3 EMRK, nicht der Folter oder unmenschlicher oder erniedrigender Strafe oder Behandlung unterworfen zu werden, und ist insoweit aufzuheben.

B. Im Übrigen wird die Behandlung der Beschwerde abgelehnt:

1. Der Verfassungsgerichtshof kann die Behandlung einer Beschwerde ablehnen, wenn von der Entscheidung die Klärung einer verfassungsrechtlichen Frage nicht zu erwarten ist (Art144 Abs2 B-VG). Ein solcher Fall liegt vor, wenn zur Beantwortung der maßgebenden Fragen spezifisch verfassungsrechtliche Überlegungen nicht erforderlich sind.

2. Die Beschwerde rügt die Verletzung in näher bezeichneten verfassungsgesetzlich gewährleisteten Rechten. Die gerügten Rechtsverletzungen wären im vorliegenden Fall aber nur die Folge einer – allenfalls grob – unrichtigen Anwendung des einfachen Gesetzes. Spezifisch verfassungsrechtliche Überlegungen sind zur Beantwortung der aufgeworfenen Fragen nicht anzustellen.

III. Ergebnis

1. Die Beschwerdeführerin ist somit durch das angefochtene Erkenntnis, soweit damit die Beschwerde gegen die Nichtzuerkennung des Status der subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Afghanistan und gegen die Nichterteilung eines Aufenthaltstitels aus berücksichtigungswürdigen Gründen abgewiesen wird, in den verfassungsgesetzlich gewährleisteten Rechten gemäß Art2 EMRK auf Leben sowie gemäß Art3 EMRK, nicht der Folter oder unmenschlicher oder erniedrigender Strafe oder Behandlung unterworfen zu werden, verletzt worden.

Das Erkenntnis ist daher in diesem Umfang aufzuheben.

2. Im Übrigen wird von der Behandlung der Beschwerde abgesehen.

3. Diese Entscheidung konnte gemäß §19 Abs3 Z4 VfGG bzw §19 Abs3 Z1 iVm §31 letzter Satz VfGG ohne mündliche Verhandlung in nichtöffentlicher Sitzung getroffen werden.

4. Die Kostenentscheidung beruht auf §88 VfGG. In den zugesprochenen Kosten ist Umsatzsteuer in der Höhe von € 436,– sowie eine Eingabengebühr gemäß §17a VfGG in der Höhe von € 240,– enthalten.

5. Damit erübrigt sich ein Abspruch über den Antrag, der Beschwerde die aufschiebende Wirkung zuzuerkennen.

Schlagworte

Asylrecht, Rückkehrentscheidung, Entscheidungsbegründung

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:VFGH:2021:E3649.2021

Zuletzt aktualisiert am

29.11.2021
Quelle: Verfassungsgerichtshof VfGH, http://www.vfgh.gv.at
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