TE Bvwg Erkenntnis 2021/7/12 W189 1262611-3

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Veröffentlicht am 12.07.2021
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Entscheidungsdatum

12.07.2021

Norm

AsylG 2005 §10 Abs1 Z3
AsylG 2005 §57
AsylG 2005 §9 Abs1 Z1
AsylG 2005 §9 Abs4
BFA-VG §9
B-VG Art133 Abs4
FPG §52 Abs2 Z2
FPG §52 Abs9
FPG §55 Abs1
FPG §55 Abs1a
FPG §55 Abs2
FPG §55 Abs3

Spruch


W189 1262611-3/9E

IM NAMEN DER REPUBLIK

Das Bundesverwaltungsgericht erkennt durch die Richterin Mag. Irene RIEPL als Einzelrichterin über die Beschwerde des XXXX , geb. XXXX , StA. Russische Föderation, vertreten durch die Bundesagentur für Betreuungs- und Unterstützungsleistungen (BBU-GmbH), gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom XXXX , Zl. XXXX , zu Recht:

A)

I. Die Beschwerde gegen die Spruchpunkt I. – III. des angefochtenen Bescheides wird als unbegründet abgewiesen.

II. Der Beschwerde gegen Spruchpunkt IV. des angefochtenen Bescheides wird stattgegeben und gemäß § 9 BFA-VG wird festgestellt, dass eine Rückkehrentscheidung auf Dauer unzulässig ist, und gemäß §§ 54, 55 und 58 Abs. 1 AsylG 2005 wird XXXX der Aufenthaltstitel „Aufenthaltsberechtigung plus“ für die Dauer von 12 Monaten erteilt.

III. Der Beschwerde gegen die Spruchpunkte V., VI. und VII. des angefochtenen Bescheides wird stattgegeben und diese ersatzlos behoben.

B)

Die Revision ist gemäß Art 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.


Text


Entscheidungsgründe:

I. Verfahrensgang:

1. Erstes Asylverfahren

1.1. Der damals minderjährige BF und seine Eltern stellten nach illegaler Einreise in das Bundesgebiet am XXXX einen Asylantrag respektive Asylerstreckungsantrag.

1.2. Mit Bescheid des (damaligen) Bundesasylamtes vom XXXX , Zl. XXXX , wurde der Asylerstreckungsantrag des BF abgewiesen.

1.3. Die gegen diesen Bescheid eingebrachte Berufung wurde mit Erkenntnis des Asylgerichtshofs vom XXXX , Zl. XXXX , als unbegründet abgewiesen.

1.4. Mit Bescheid der Bundespolizeidirektion XXXX vom XXXX , Zl. XXXX , wurde der BF ausgewiesen.

1.5. Die dagegen eingebrachte Berufung wurde mit Berufungsbescheid der Sicherheitsdirektion XXXX vom XXXX , Zl. XXXX , abgewiesen.

2. Zweites Asylverfahren

2.1. Am XXXX stellte die Mutter des BF einen Folgeantrag auf internationalen Schutz für sich und ihre minderjährigen Kinder. Befragt nach dem Grund der neuerlichen Antragstellung gab sie an, dass sie erfahren habe, dass ihr Mann mit einer anderen Frau zusammenlebe und einen Sohn habe. Sie habe ihren Mann wegen fortgesetzter Gewaltausübung gegen sie angezeigt, weshalb er weggewiesen worden sie. Seine Eltern in XXXX würden ihr nun drohen, dass sie ihr die Kinder wegnehmen würden, wenn sie zurückkehre. Nach moslemischen Gesetzen sei dies möglich.

2.2. Mit Bescheid des Bundesasylamtes vom XXXX , Zl. XXXX , wurde dem BF – ebenso wie seiner Mutter und seinen Geschwistern – der Status des Asylberechtigten nicht gewährt, aber der Status des subsidiär Schutzberechtigten zuerkannt und eine befristete Aufenthaltsberechtigung erteilt.

2.3. Am XXXX erklärte die Mutter des BF, die Beschwerde hinsichtlich der Nichtgewährung des Status der Asylberechtigten zurückzuziehen.

3. Aberkennungsverfahren

3.1. Mit rechtskräftigem Urteil des Landesgerichts XXXX vom XXXX , Zl. XXXX , wurde der BF als Jugendlicher wegen des Vergehens der schweren Körperverletzung gemäß § 84 Abs. 5 Z 2 StGB sowie wegen des Verbrechens des Raubes gemäß § 142 Abs. 1 erster und zweiter Fall StGB unter Setzung einer dreijährigen Probezeit zu einer bedingt nachgesehenen Freiheitsstrafe von neun Monaten verurteilt. Es wurde ihm für die Dauer der Probezeit Bewährungshilfe angeordnet.

3.2. Mit rechtskräftigem Urteil des Landesgerichts XXXX vom XXXX , Zl. XXXX , wurde der BF als Jugendlicher wegen des Vergehens des Diebstahls durch Einbruch gemäß §§ 127, 129 Abs. 1 Z 2 StGB unter Setzung einer dreijährigen Probezeit zu einer bedingt nachgesehenen Freiheitsstrafe von XXXX Monaten verurteilt. Die Probezeit zum unter Punkt I.3.1. genannten Urteil wurde auf XXXX Jahre verlängert.

3.3. Der BF beantragte am XXXX beim (nunmehrigen) Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (in der Folge: BFA) die Verlängerung seiner befristeten Aufenthaltsberechtigung als subsidiär Schutzberechtigter.

3.4. Mit rechtskräftigem Urteil des Landesgerichts XXXX vom XXXX , Zl. XXXX , wurde der BF als Jugendlicher wegen des zweifachen Vergehens des unerlaubten Umgangs mit Suchtgiften gemäß §§ 27 Abs. 1 Z 1 erster Fall, 27 Abs. 1 Z 1 zweiter Fall, 27 Abs. 2 SMG und wegen des Vergehens des Diebstahls durch Einbruch gemäß §§ 127, 129 Abs. 1 Z 3 StGB zu einer Freiheitsstrafe von sieben Monaten verurteilt, wovon XXXX Monate unter Setzung einer Probezeit von drei Jahren bedingt nachgesehen wurden. Die Probezeit zum unter Punkt I.3.2. genannten Urteil wurde auf fünf Jahre verlängert.

3.5. Mit rechtskräftigem Urteil des Landesgerichts XXXX vom XXXX , Zl. XXXX , wurde der BF als Jugendlicher wegen des Vergehens des Diebstahls durch Einbruch gemäß §§ 127, 129 Abs. 1 Z 1 StGB zu einer Zusatzfreiheitsstrafe von vier Monaten verurteilt.

3.6. Mit Schreiben vom XXXX verständigte das BFA den BF vom Ergebnis der Beweisaufnahme, wonach der BF mehrmals straffällig wurde, weshalb aufgrund der negativen Zukunftsprognose ein Aberkennungstatbestand vorliege. Unter gleichzeitiger Übermittlung der Länderfeststellungen zur Lage in der Russischen Föderation wurde dem BF eine Frist von zwei Wochen für eine Stellungnahme gewährt.

3.7. Mit Schreiben vom XXXX gab der BF eine Stellungnahme ab, wonach er – im Wesentlichen – die begangenen Straftaten bereue, eine positive Zukunftsprognose bestehe und ihm eine Rückkehr in seinen Herkunftsstaat nicht möglich sei.

3.8. Mit dem nunmehr angefochtenen Bescheid des BFA vom XXXX wurde dem BF der mit Bescheid vom XXXX zuerkannte Status des subsidiär Schutzberechtigten gemäß § 9 Abs. 1 AsylG aberkannt (Spruchpunkt I.) und ihm die befristete Aufenthaltsberechtigung als subsidiär Schutzberechtigter entzogen (Spruchpunkt II.). Dem BF wurde ein Aufenthaltstitel gem. § 57 AsylG nicht erteilt (Spruchpunkt III.), eine Rückkehrentscheidung gegen ihn erlassen (Spruchpunkt IV.), die Zulässigkeit der Abschiebung in die Russische Föderation festgestellt (Spruchpunkt V.), dem BF eine Frist von 14 Tagen ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung für die freiwillige Ausreise gewährt (Spruchpunkt VI.), sowie gem. § 53 Abs. 1 iVm Abs. 3 Z 1 FPG gegen ihn ein sechsjähriges Einreiseverbot erlassen (Spruchpunkt VII.).

3.9. Mit Schriftsatz vom XXXX erhob der BF durch seinen Rechtsvertreter fristgerecht das Rechtsmittel der Beschwerde und führt im Wesentlichen unter näher genannten Gründen aus, dass die belangte Behörde ein mangelhaftes Ermittlungsverfahren geführt habe, eine mangelhafte Beweiswürdigung vorgenommen habe und der angefochtene Bescheid somit inhaltlich rechtswidrig sei.

3.10. Am XXXX wurde der BF bedingt unter Anordnung von Bewährungshilfe und Setzung einer Probezeit von drei Jahren aus der Haft entlassen.

3.11. Das Bundesverwaltungsgericht führte am XXXX eine öffentliche, mündliche Verhandlung durch, an welcher der BF und seine Rechtsvertretung sowie die Mutter des BF als Zeugin teilnahmen. Die beigezogene Dolmetscherin für die Sprache Russisch wurde nicht benötigt. Der BF wurde ausführlich zu seiner Person befragt und es wurde ihm Gelegenheit gegeben, sich zu seinen Rückkehrbefürchtungen und der Integration im Bundesgebiet zu äußern, sowie zu den im Rahmen der Verhandlung in das Verfahren eingeführten Länderberichten Stellung zu nehmen.

II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:

1. Feststellungen (Sachverhalt)

1.1. Zur Person des BF

Der BF ist Staatsangehöriger der Russischen Föderation, der Religionsgemeinschaft der Muslime und der Volksgruppe der Tschetschenen zugehörig. Er spricht Deutsch als Hauptsprache. Seine Muttersprache Tschetschenisch beherrscht er auf elementarem Niveau. Er spricht nicht Russisch. Seine Identität steht fest.

Der BF hat gemeinsam mit seinen Eltern im Alter von etwa XXXX Jahren die Russische Föderation verlassen und ist in Österreich eingereist.

Der BF hat seit dem Jahr XXXX , als sich seine Mutter aufgrund fortgesetzter Gewaltausübung von seinem Vater scheiden ließ, keinen Kontakt mehr zu diesem. Sein Vater hält sich mutmaßlich in der Russischen Föderation auf. Der BF lebte von XXXX bis zu seiner Inhaftierung im Jahr XXXX aufgrund der Gewaltanwendung seines Vaters und der schlechten finanziellen Lage seiner Mutter gemeinsam mit seinen vier Geschwistern in Kinderheimen. Der BF und seine Geschwister besuchten in dieser Zeit regelmäßig ihre Mutter. Der BF hat die Pflichtschule im Jahr XXXX abgeschlossen. Er hat danach eine Lehre angefangen, aber nach ein paar Monaten abgebrochen. In weiterer Folge hat der BF Kurse besucht und jeweils für bis zu drei Monaten in verschiedenen Berufen geschnuppert.

Mit rechtskräftigem Urteil des Landesgerichts XXXX vom XXXX , Zl. XXXX , wurde der BF als Jugendlicher wegen des Vergehens der schweren Körperverletzung gemäß § 84 Abs. 5 Z 2 StGB sowie wegen des Verbrechens des Raubes gemäß § 142 Abs. 1 erster und zweiter Fall StGB unter Setzung einer dreijährigen Probezeit zu einer bedingt nachgesehenen Freiheitsstrafe von neun Monaten verurteilt. Es wurde ihm für die Dauer der Probezeit Bewährungshilfe angeordnet.

Mit rechtskräftigem Urteil des Landesgerichts XXXX vom XXXX , Zl. XXXX , wurde der BF als Jugendlicher wegen des Vergehens des Diebstahls durch Einbruch gemäß §§ 127, 129 Abs. 1 Z 2 StGB unter Setzung einer dreijährigen Probezeit zu einer bedingt nachgesehenen Freiheitsstrafe von XXXX Monaten verurteilt. Die Probezeit zum obgenannten Urteil wurde auf fünf Jahre verlängert.

Mit rechtskräftigem Urteil des Landesgerichts XXXX vom XXXX , Zl. XXXX , wurde der BF als Jugendlicher wegen des zweifachen Vergehens des unerlaubten Umgangs mit Suchtgiften gemäß §§ 27 Abs. 1 Z 1 erster Fall, 27 Abs. 1 Z 1 zweiter Fall, 27 Abs. 2 SMG und wegen des Vergehens des Diebstahls durch Einbruch gemäß §§ 127, 129 Abs. 1 Z 3 StGB zu einer Freiheitsstrafe von sieben Monaten verurteilt, wovon XXXX Monate unter Setzung einer Probezeit von drei Jahren bedingt nachgesehen wurden. Die Probezeit zum obgenannten Urteil wurde auf fünf Jahre verlängert. Der BF hat 1.) am XXXX eine fremde bewegliche Sache, nämlich ein Kinder-/Jugendrad unbekannten Wertes, durch Einbruch mit dem Vorsatz weggenommen, sich oder einen Dritten durch deren Zueignung unrechtmäßig zu bereichern, indem er das Fahrradschloss gewaltsam aufriss; 2.) am XXXX vorschriftswidrig Suchtgift erworben und besessen, indem er ein Gramm Cannabiskraut erwarb und bis zur Sicherstellung besaß, wobei er die Straftat ausschließlich zum persönlichen Gebrauch beging; 3.) gemeinsam mit einem Mittäter am XXXX vorschriftswidrig Suchtgift, nämlich eine nicht mehr feststellbare Menge Delta-9-THC und THCA-haltiges Cannabiskraut zum persönlichen Gebrauch erworben und besessen, indem sie gemeinsam einen Joint rauchten. Bei den Strafbemessungsgründen mildernd gewertet wurde die geständige Einlassung in der Hauptverhandlung, erschwerend waren hingegen das Zusammentreffen mehrerer Vergehen und zwei einschlägige Vorstrafen.

Mit rechtskräftigem Urteil des Landesgerichts XXXX vom XXXX , Zl. XXXX , wurde der BF als Jugendlicher wegen des Vergehens des Diebstahls durch Einbruch gemäß §§ 127, 129 Abs. 1 Z 1 StGB zu einer Zusatzfreiheitsstrafe von vier Monaten verurteilt. Der BF hat mit am XXXX einem Mittäter anderen fremde bewegliche Sachen durch Einbruch mit dem Vorsatz weggenommen, sich oder einen Dritten durch deren Zueignung unrechtmäßig zu bereichern, und zwar 1.) zwei Fahrräder im Gesamtwert von ca. EUR 1.400,-, indem sie unter Verwendung eines widerrechtlich erlangten Postschlüssels ins Mehrparteienhaus gelangten und dort eine Tür zu einem versperrten Waschraum aufbrachen, wo sie die Fahrräder an sich nahmen, die der Mittäter in der Folge über das Internet zu verkaufen versuchte; sowie 2.) ein Paar Schuhe unbekannten Wertes, indem der BF diese an sich nahm, nachdem er und der Mittäter unter Verwendung eines widerrechtlich erlangten Postschlüssels ins Mehrparteienhaus gelangt waren. Bei den Strafbemessungsgründen mildernd gewertet wurden das Geständnis und die Sicherstellung des Beutegutes, erschwerend waren hingegen die zwei einschlägigen Vorstrafen und das Zusammentreffen von Vergehen.

Der BF war vom XXXX bis XXXX in Haft. Seit seiner Haftentlassung lebt der BF mit seinem jüngsten Bruder bei seiner Mutter. Er wird seit seiner Inhaftierung vom Jugendcoaching und seit seiner Entlassung zudem von der Bewährungshilfe begleitet. Der BF besucht seit in diesem Rahmen seit Mitte XXXX einen Kurs im Bereich Metallverarbeitung und bemüht sich um einen festen Arbeitsplatz. Der BF plant, KFZ-Techniker zu werden oder alternativ im Hoch- und Tiefbau zu arbeiten. Der BF hat sich von jenem Teil seines Freundeskreises, der mit seiner Straffälligkeit in Verbindung stand, getrennt.

Der BF hat sich mit den Gründen seiner Inhaftierung befasst, das Unrecht seiner Taten erkannt und bereut sie. Es ist ihm bewusst, welche – auch fremdenrechtlichen – Konsequenzen ein Rückfall nach sich ziehen könnte.

Die Mutter und die Geschwister des BF leben in Österreich und verfügen über Aufenthaltstitel „Daueraufenthalt – EU“. Der BF hat in der XXXX eine Großmutter, zwei Tanten und einen Bruder mütterlicherseits sowie in der XXXX eine Urgroßmutter mütterlicherseits. Seine Mutter steht mit ihnen in regelmäßigem telefonischen Kontakt, der BF selbst redet jedoch nicht bzw. kaum mit ihnen, kennt sie aber. Zur Verwandtschaft väterlicherseits besteht kein Kontakt.

Der BF ist gesund, ledig und kinderlos.

1.2. Zu den Asylverfahren des BF und seiner Situation im Falle einer Rückkehr

Der Asylerstreckungsantrag des BF vom XXXX wurde mit Erkenntnis des Asylgerichtshofs vom XXXX , Zl. XXXX , abgewiesen.

Nach Stellung eines Folgeantrags am XXXX wurde der Mutter des BF mit Bescheid des Bundesasylamtes vom XXXX , Zl. XXXX , gemäß § 8 Abs. 1 AsylG der Status der subsidiär Schutzberechtigten zuerkannt, da aufgrund der Trennung von ihrem Ehemann im Falle einer Rückkehr in den Herkunftsstaat die reale Gefahr bestehe, dass ihr ihre Kinder entzogen werden würden. Mit Bescheid vom selben Tag, Zl. XXXX , wurde dem BF im Familienverfahren gemäß § 8 Abs. 1 iVm § 34 Abs. 3 AsylG der Status des subsidiär Schutzberechtigten zuerkannt.

Der Mutter des BF wurde nach Gewährung eines Aufenthaltstitels „Daueraufenthalt – EU“ durch den XXXX am XXXX mit Bescheid des BFA vom XXXX aufgrund des Wegfalls der Umstände der Status der subsidiär Schutzberechtigten aberkannt.

Mit dem gegenständlich angefochtenen Bescheid wurde dem volljährigen BF der Status des subsidiär Schutzberechtigten aberkannt, da ihm dieser lediglich im Rahmen des Familienverfahrens gemäß § 34 AsylG zuerkannt worden war und keine individuellen Gründe bestehen.

Dem BF ist die Rückkehr zu seiner Verwandtschaft mütterlicherseits in XXXX zumutbar.

Im Falle einer Rückkehr würde er in keine existenzgefährdende Notlage geraten bzw. es würde ihm nicht die notdürftigste Lebensgrundlage entzogen werden. Er läuft nicht Gefahr, grundlegende und notwendige Lebensbedürfnisse wie Nahrung, Kleidung sowie Unterkunft nicht befriedigen zu können und in eine ausweglose Situation zu geraten.

Im Falle einer Abschiebung in den Herkunftsstaat ist der BF nicht in seinem Recht auf Leben gefährdet, der Folter oder unmenschlicher oder erniedrigender Strafe oder Behandlung unterworfen oder von der Todesstrafe bedroht.

Außergewöhnliche Gründe, die eine Rückkehr ausschließen, konnten nicht festgestellt werden.

1.3. Zur maßgeblichen Situation in der Russischen Föderation

1.3.1. Sicherheitslage in Dagestan

Die Sicherheitslage in Dagestan ist zwar angespannt, hat sich in jüngerer Zeit aber verbessert (AA 13.2.2019). Gründe für den Rückgang der Gewalt sind die konsequente Politik der Repression radikaler Elemente und das rigide Vorgehen der Sicherheitskräfte, aber auch die Abwanderung islamistischer Kämpfer in die Kampfgebiete nach Syrien und in den Irak (ÖB Moskau 12.2019).

Die russische Teilrepublik Dagestan im Nordkaukasus gilt seit einigen Jahren als Brutstätte von Terrorismus. Mehr als 1.000 Kämpfer aus dem Land sollen sich dem sog. Islamischen Staat in Syrien und im Irak angeschlossen haben. Terroristen aus Dagestan sind auch in anderen Teilen Russlands und im Ausland aktiv. Viele Radikale aus Dagestan sind außerdem in den Nahen Osten ausgereist. In den Jahren 2013 und 2014 brachen ganze salafistische Familien dorthin auf. Die russischen Behörden halfen den Radikalen damals sogar bei der Ausreise. Vor den Olympischen Spielen in Sotschi wollte Russland möglichst viele Gefährder loswerden (Deutschlandfunk 28.6.2017). Den russischen Sicherheitskräften werden schwere Menschenrechtsverletzungen bei der Durchführung der Anti-Terror-Operationen in Dagestan vorgeworfen. Das teils brutale Vorgehen der Sicherheitsdienste, gekoppelt mit der noch immer instabilen sozialwirtschaftlichen Lage in Dagestan, schafft wiederum weiteren Nährboden für die Radikalisierung innerhalb der dortigen Bevölkerung. So werden von den Sicherheitskräften mitunter auch Imame verhaftet, die dem Salafismus anhängen sollen. Aus der Perspektive der Sicherheitsdienste sollen ihre Moscheen als Rekrutierungsstätten für IS-Anhänger dienen, für einen Teil der muslimischen Bevölkerung stellen diese Maßnahmen jedoch ungebührliche Schikanen dar. Es kommt nach wie vor zu Zusammenstößen zwischen den Sicherheitskräften und Extremisten. Die Extremisten gehörten zunächst zum 2007 gegründeten sogenannten Kaukasus-Emirat, bekundeten jedoch vermehrt ihre Loyalität gegenüber dem sog. IS. Auch operativ ist der sog. IS im Nordkaukasus in Erscheinung getreten. Einige Angriffe auf Polizisten bzw. Polizeieinrichtungen wurden unter dem Deckmantel des sog. IS ausgeführt; im Dezember 2015 bekannte sich der sog. IS zu einem Anschlag auf eine historische Festung in Derbent. Inwieweit der sog. IS nach der territorialen Niederlage im Nahen Osten entsprechende Ressourcen verschieben wird, um im Nordkaukasus weitere terroristische Umtriebe zu entfalten oder die regionale Zweigstelle weiterhin zu Propagandazwecken nutzen wird, um seinen globalen Einfluss zu unterstreichen, wird von den russischen Sicherheitskräften genau verfolgt (ÖB Moskau 12.2019).

Im Jahr 2018 gab es mindestens 49 Opfer des bewaffneten Konflikts in Dagestan, davon wurden 36 Personen getötet und 13 verletzt. Die meisten getöteten Personen sind, wie 2017, unter den Aufständischen zu finden, nämlich 27. Von den Exekutivkräften wurden drei getötet und elf verletzt. Sechs Zivilisten wurden getötet und zwei verletzt. Im Vergleich zu 2017, als es 55 Opfer gab, sank die Gesamtopferzahl um 10,9% (Caucasian Knot 30.8.2019).

2019 wurden in Dagestan neun Personen getötet [Anm.: durch Addieren aller Quartalsberichte von Caucasian Knot] (Caucasian Knot 9.9.2019, Caucasian Knot 14.9.2019, Caucasian Knot 18.12.2019, Caucasian Knot 11.3.2020). Diese neun Personen wurden alle im ersten Halbjahr 2019 getötet (Caucasian Knot 30.8.2019).

Laut dem Leiter des dagestanischen Innenministeriums gab es bei der Bekämpfung des Aufstands in Dagestan einen Durchbruch. Die Aktivitäten der Gruppen, die in der Republik aktiv waren, sind seinen Angaben zufolge praktisch komplett unterbunden worden. Nach acht Mitgliedern des Untergrunds, die sich Berichten zufolge im Ausland verstecken, wird gefahndet. Trotzdem besteht laut Analysten und Journalisten weiterhin die Möglichkeit von Anschlägen durch einzelne Täter (ACCORD 19.6.2019).

Quellen:

?        AA - Auswärtiges Amt (13.2.2019): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Russischen Föderation, https://www.ecoi.net/en/file/local/1458482/4598_1551701623_auswaertiges-amt-bericht-ueber-die-asyl-und-abschiebungsrelevante-lage-in-der-russischen-foederationstand-dezember-2018-13-02-2019.pdf, Zugriff 10.3.2020

?        ACCORD – Austrian Centre for Country of Origin and Asylum Research and Documentation (19.6.2019): Themendossier Sicherheitslage in Dagestan, Zeitachse von Angriffen, https://www.ecoi.net/de/laender/russische-foederation/themendossiers/sicherheitslage-in-dagestanzeitachse-von-angriffen/#Toc489358424, Zugriff 19.3.2020

?        Caucasian Knot (30.8.2019): In 2018, the count of conflict victims in Northern Caucasus dropped by 38%, https://www.eng.kavkaz-uzel.eu/articles/reduction_number_victims_2018/, Zugriff 19.3.2020

?        Caucasian Knot (9.9.2019): 21 people fell victim to armed conflict in Northern Caucasus in Q1 of 2019, https://www.eng.kavkaz-uzel.eu/articles/48385/, Zugriff 19.3.2020

?        Caucasian Knot (14.9.2019): In Quarter 2 of 2019, 10 people fell victim to armed conflict in Northern Caucasus, https://www.eng.kavkaz-uzel.eu/articles/48465/, Zugriff 19.3.2020

?        Caucasian Knot (18.12.2019): In 3rd quarter of 2019, seven persons fell victim to armed conflict in Northern Caucasus, https://www.eng.kavkaz-uzel.eu/articles/49431/, Zugriff 19.3.2020

?        Caucasian Knot (11.3.2020): Infographics. Statistics of victims in Northern Caucasus in Quarter 4 of 2019 under the data of Caucasian Knot, https://www.eng.kavkaz-uzel.eu/articles/50267/, Zugriff 19.3.2020

?        Deutschlandfunk (28.6.2017): Anti-Terrorkampf in Dagestan. Russische Methoden, https://www.deutschlandfunk.de/anti-terrorkampf-in-dagestan-russische-methoden.724.de.html?dram:article_id=389824, Zugriff 19.3.2020

1.3.2. Rechtsschutz und Justizwesen in Dagestan

In Dagestan hat sich der Rechtspluralismus – das Nebeneinander von russischem Recht, Gewohnheitsrecht (Adat) und Scharia-Recht – bis heute erhalten. Mit der Ausbreitung des Salafismus im traditionell sufistisch geprägten Dagestan in den 90er Jahren nahm auch die Einrichtung von Scharia-Gerichten zu. Grund für die zunehmende und inzwischen weit verbreitete Akzeptanz des Scharia-Rechts war bzw. ist u.a. das dysfunktionale und korrupte staatliche Justizwesen, das in hohem Maße durch Ämterkauf und Bestechung geprägt ist. Die verschiedenen Rechtssphären durchdringen sich durchaus: Staatliche Rechtsschutzorgane und Scharia-Gerichte agieren nicht losgelöst voneinander, sondern nehmen aufeinander Bezug. Auch die Blutrache wird im von traditionellen Clan-Strukturen geprägten Dagestan angewendet. Zwar geht die Regionalregierung dagegen vor, doch sind nicht alle Clans bereit, auf die Institution der Blutrache zu verzichten (AA 13.2.2019).

Quellen:

?        AA - Auswärtiges Amt (13.2.2019): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Russischen Föderation, https://www.ecoi.net/en/file/local/1458482/4598_1551701623_auswaertiges-amt-bericht-ueber-die-asyl-und-abschiebungsrelevante-lage-in-der-russischen-foederationstand-dezember-2018-13-02-2019.pdf, Zugriff 10.3.2020

1.3.3. Korruption

Korruption gilt in Russland als wichtiger Teil des gesellschaftlichen Systems. Obwohl Korruption in Russland endemisch ist, kann im Einzelfall nicht generalisiert werden. Zahlreiche persönliche Faktoren bezüglich Geber und Nehmer von informellen Zahlungen sind zu berücksichtigen, genauso wie strukturell vorgegebene Einflüsse der jeweiligen Region. Im alltäglichen Kontakt mit den Behörden fließen informelle Zahlungen, um widersprüchliche Bestimmungen zu umgehen und Dienstleistungen innerhalb nützlicher Frist zu erhalten. Korruption stellt eine zusätzliche Einnahmequelle von Staatsbeamten dar. Das Justizsystem und das Gesundheitswesen werden in der Bevölkerung als besonders korrupt wahrgenommen. Im Justizsystem ist zwischen stark politisierten Fällen, einschließlich solchen, die Geschäftsinteressen des Staates betreffen, und alltäglichen Rechtsgeschäften zu unterscheiden. Nicht alle Rechtsinstitutionen sind gleich anfällig für Korruption. Im Gesundheitswesen gehören informelle Zahlungen für offiziell kostenlose Dienstleistungen zum Alltag. Bezahlt wird für den Zugang zu Behandlungen oder für Behandlungen besserer Qualität. Es handelt sich generell um relativ kleine Beträge. Seit 2008 laufende Anti-Korruptionsmaßnahmen hatten bisher keinen Einfluss auf den endemischen Charakter der Korruption (SEM 15.7.2016).

Korruption ist sowohl im öffentlichen Leben als auch in der Geschäftswelt weit verbreitet, und ein zunehmender Mangel an Rechenschaftspflicht ermöglicht es Bürokraten, ungestraft Straftaten zu begehen. Analysten bezeichnen das politische System als Kleptokratie, in der die regierende Elite das öffentliche Vermögen plündert (FH 4.3.2020). Obwohl das Gesetz Strafen für behördliche Korruption vorsieht, bestätigt die Regierung, dass das Gesetz nicht effektiv umgesetzt wird, und viele Beamte in korrupte Praktiken involviert sind (USDOS 11.3.2020; vgl. EASO 3.2017). Korruption ist sowohl in der Exekutive als auch in der Legislative und Judikative auf allen hierarchischen Ebenen weit verbreitet (USDOS 11.3.2020; vgl. EASO 3.2017, BTI 2018). Zu den Formen der Korruption zählen die Bestechung von Beamten, missbräuchliche Verwendung von Finanzmitteln, Diebstahl von öffentlichem Eigentum, Schmiergeldzahlungen im Beschaffungswesen, Erpressung und die missbräuchliche Verwendung der offiziellen Position, um an persönliche Begünstigungen zu kommen. Behördliche Korruption ist zudem auch in anderen Bereichen weiterhin verbreitet: im Bildungswesen, beim Militärdienst, im Gesundheitswesen, im Handel, beim Wohnungswesen, bei Pensionen und Sozialhilfe, im Gesetzesvollzug und im Justizwesen (USDOS 11.3.2020).

Der Kampf der Justiz gegen Korruption steht mitunter im Verdacht einer Instrumentalisierung aus wirtschaftlichen bzw. politischen Gründen (ÖB Moskau 12.2019; vgl. BTI 2018). Eines der zentralen Themen der Modernisierungsagenda ist die Bekämpfung der Korruption und des Rechtsnihilismus. Im Zeichen des Rechtsstaats durchgeführte Reformen, wie die Einsetzung eines Richterrats, um die Selbstverwaltung der Richter zu fördern, die Verabschiedung neuer Prozessordnungen und die deutliche Erhöhung der Gehälter hatten jedoch wenig Wirkung auf die Abhängigkeit der Justiz von Weisungen der Exekutive und die dort herrschende Korruption. Im Februar 2012 erfolgte der Beitritt Russlands zur OECD-Konvention zur Korruptionsbekämpfung (GIZ 7.2020a).

Dagestan ist eine der ärmsten Regionen Russlands, bis zu 70% des Budgets stammen aus Subventionen aus Moskau. Auch in Dagestan ist die Gesellschaft in Clans aufgebaut. Nirgendwo sonst in Russland ist der Clan so stark wie in Dagestan, weshalb systemische Korruption in dieser Republik nicht überrascht (WI 25.2.2018). Das staatliche Justizwesen ist in hohem Maße durch Ämterkauf und Bestechung geprägt (AA 13.2.2019). Zum ersten Mal in der Geschichte der Russischen Föderation wurden Anfang 2018 der Premierminister Dagestans, seine Stellvertreter und der ehemalige Bildungsminister wegen schwerer Korruptionsvorwürfe festgenommen und sofort nach Moskau geflogen. Alle vier stehen im Verdacht, Haushaltsmittel aus Sozialprogrammen in großem Umfang veruntreut zu haben (WI 25.2.2018).

Quellen:

?        AA - Auswärtiges Amt (13.2.2019): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Russischen Föderation, https://www.ecoi.net/en/file/local/1458482/4598_1551701623_auswaertiges-amt-bericht-ueber-die-asyl-und-abschiebungsrelevante-lage-in-der-russischen-foederation-stand-dezember-2018-13-02-2019.pdf , Zugriff 11.3.2020

?        BTI – Bertelsmann Transformation Index (2018): BTI 2018 Country Report – Russia, https://www.btiproject.org/fileadmin/files/BTI/Downloads/Reports/2018/pdf/BTI_2018_Russia.pdf , Zugriff 11.3.2020

?        EASO – European Asylum Support Office (3.2017): COI-Report Russian Federation - State Actors of Protection, http://www.ecoi.net/file_upload/1226_1489999668_easocoi-russia-state-actors-ofprotection.pdf , Zugriff 11.3.2020

?        FH – Freedom House (4.3.2020): Jahresbericht zu politischen Rechten und bürgerlichen Freiheiten im Jahr 2019 - Russland, https://www.ecoi.net/de/dokument/2025879.html , Zugriff 5.3.2020

?        GIZ – Deutsche Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit GmbH (7.2020a): Russland, Geschichte und Staat, https://www.liportal.de/russland/geschichte-staat/#c17836 , Zugriff 17.7.2020

?        ÖB Moskau (12.2019): Asylländerbericht Russische Föderation, https://www.ecoi.net/en/file/local/2025975/RUSS_%C3%96B_Bericht_2019_12.pdf , Zugriff 11.3.2020

?        SEM – Staatssekretariat für Migration (15.7.2016): Focus Russland. Korruption im Alltag, insbesondere in Tschetschenien, https://www.sem.admin.ch/dam/data/sem/internationales/herkunftslaender/europa-gus/rus/RUS-korruption-d.pdf , Zugriff 11.3.2020

?        USDOS – United States Department of State (11.3.2020): Jahresbericht zur Menschenrechtslage im Jahr 2019 – Russland, https://www.ecoi.net/de/dokument/2026343.html , Zugriff 12.3.2020

?        WI – Warsaw Institute (25.2.2019): Federal clean-up in Dagestan, https://warsawinstitute.org/federal-clean-dagestan/ , Zugriff 11.3.2020

1.3.4. Allgemeine Menschenrechtslage in Dagestan

Dagestan ist hinsichtlich persönlicher Freiheiten besser gestellt als Tschetschenien, bleibt allerdings eine der ärmsten Regionen Russlands, in der die Sicherheitslage zwar angespannt ist, sich in jüngerer Zeit aber verbessert hat. Mit der Bekämpfung des islamistischen Untergrunds gehen zahlreiche Menschenrechtsverletzungen durch lokale und föderale Sicherheitsbehörden einher, darunter Entführungen und Verschwindenlassen. Vom Vorgehen der Sicherheitsbehörden wegen Verdachts auf Extremismus sind nicht nur Menschenrechtsorganisationen, sondern uch NGOs im sozialen/humanitären Bereich betroffen. Die Menschenrechtslage gilt in Dagestan jedoch grundsätzlich als besser als im benachbarten Tschetschenien. NGOs in Dagestan treffen sich mit Opfern von Menschenrechtsverletzungen, recherchieren vor Ort und strengen Verfahren gegen Mitglieder der Sicherheitskräfte wegen Foltervorwürfen an. Die NGO „Komitee zur Verhinderung von Folter“ arbeitet mit den Sicherheitsbehörden in Dagestan in Sachen Strafvollzug zusammen (AA 13.2.2019). Die Haltung der Behörden in Dagestan ist milder gegenüber der Presse und den Institutionen der Zivilgesellschaft, die auch ein höheres Maß an Protestaktivität aufweisen als andere russische Regionen. Darüber hinaus sind Regierungs- und regierungsnahe Strukturen in Dagestan gegenüber Aktivisten etwas toleranter als in anderen Teilen Russlands. Während Demonstrationen verboten und aufgelöst werden können, werden jedoch manche Demonstrationen toleriert. Wenn dies nicht der Fall ist, gibt es starken Widerstand von Aktivisten, die die Entscheidungen der Behörden mit rechtlichen Schritten erfolgreich anfechten. Obwohl es registrierte NGOs und spezifische Projekte gibt, ist die Zivilgesellschaft eher durch soziale Bewegungen und Initiativen vertreten. Nur wenige Organisationen in Dagestan arbeiten ausschließlich im Bereich der Menschenrechte. Zu denen, die dies tun, gehört Memorial. Eine andere Menschenrechtsorganisation - „Patientenmonitor“ - arbeitet daran, die Rechte von Patienten zu schützen, die in staatlichen Einrichtungen behandelt werden. Die Hauptschwierigkeiten der Menschen bestehen darin, ambulant kostenlose Medikamente zu erhalten, Medikamente und Dienstleistungen in stationären Einrichtungen zu erhalten sowie Analysen und diagnostische Tests durchzuführen. „Patientenmonitor“ bietet Menschen, deren Rechte nicht beachtet werden, kostenlose Rechtshilfe und bekämpft Korruption in medizinischen Einrichtungen. Auch Umweltaktivisten sind in Dagestan aktiv (CSIS 1.2020).

Den russischen Sicherheitskräften werden auch in Dagestan schwere Menschenrechtsverletzungen bei der Durchführung von Anti-Terror-Operationen vorgeworfen. Die Situation für mutmaßliche Unterstützer ist eine ähnliche wie in Tschetschenien. Entführungen und Fälle plötzlichen Verschwindenlassens von Personen, Folter und außergerichtliche Tötungen kommen in Dagestan ebenso vor. Bei der Vorgehensweise bei Verhaftungen von Verdächtigen im Zuge der Terrorbekämpfung sind mitunter auch Menschenrechtsverletzungen zu verzeichnen. Auf Verwandte und Sympathisanten der Rebellen werden auch Entführungen, Misshandlungen und die Zerstörung ihrer Häuser als Druckmittel angewendet. Das teils brutale Vorgehen der Sicherheitsdienste, gekoppelt mit der noch immer instabilen sozialwirtschaftlichen Lage in Dagestan, schafft wiederum weiteren Nährboden für die Radikalisierung innerhalb der dortigen Bevölkerung (ÖB Moskau 12.2019). Bezüglich der Beobachtungslisten von Wahabiten wird berichtet, dass diese zwar offiziell abgeschafft wurden, inoffiziell aber weiter geführt werden (ÖB Moskau 12.2019, vgl. ICG 5.7.2018).

Die Behörden wenden zur Terrorismusbekämpfung unterschiedliche Methoden an, darunter Installierungen von Videokameras in Moscheen, Massenverhaftungen von Gläubigen beim Verlassen der Moscheen und langfristige Registrierung ihrer Daten (ÖB Moskau 12.2019, vgl. ICG 5.7.2018).

Quellen:

?        AA - Auswärtiges Amt (13.2.2019): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Russischen Föderation, https://www.ecoi.net/en/file/local/1458482/4598_1551701623_auswaertiges-amt-bericht-ueber-die-asyl-und-abschiebungsrelevante-lage-in-der-russischen-foederationstand-dezember-2018-13-02-2019.pdf, Zugriff 11.3.2020

?        CSIS – Center for Strategic and International Studies (1.2020): Civil Society in the North Caucasus, https://csis-prod.s3.amazonaws.com/s3fs-public/publication/200124_North_Caucasus.pdf?jRQ1tgMAXDNlViIbws_LnEIEGLZPjfyX, Zugriff 9.3.2020

?        ICG – International Crisis Group (5.7.2018): Dagestan’s Abandoned Counter-insurgency Experiment, https://www.crisisgroup.org/europe-central-asia/caucasus/russianorth-caucasus/counterinsurgency-north-caucasus-i-dagestans-abandoned-experiment, Zugriff 11.3.2020

?        ÖB Moskau (12.2019): Asylländerbericht Russische Föderation, https://www.ecoi.net/en/file/local/2025975/RUSS_%C3%96B_Bericht_2019_12.pdf, Zugriff 11.3.2020

1.3.5. Bewegungsfreiheit

In der Russischen Föderation herrscht Bewegungsfreiheit sowohl innerhalb des Landes als auch bei Auslandsreisen, ebenso bei Emigration und Repatriierung (US DOS 13.3.2019). In einigen Fällen schränkten die Behörden diese jedoch ein. Die meisten Russen können jederzeit ins Ausland reisen, aber ca. vier Millionen Mitarbeiter, die mit dem Militär- und Sicherheitsdienst verbunden sind, wurden nach den im Jahr 2014 erlassenen Regeln vom Auslandsreiseverkehr ausgeschlossen (US DOS 11.3.2020, vgl. FH 4.3.2020).

Tschetschenen steht, genauso wie allen russischen Staatsbürgern [auch Inguschen, Dagestaner etc.], das in der Verfassung verankerte Recht der freien Wahl des Wohnsitzes und des Aufenthalts in der Russischen Föderation zu. Mit dem Föderationsgesetz von 1993 wurde ein Registrierungssystem geschaffen, nach dem Bürger den örtlichen Stellen des Innenministeriums ihren gegenwärtigen Aufenthaltsort [temporäre Registrierung] und ihren Wohnsitz [permanente Registrierung] melden müssen. Voraussetzung für eine Registrierung ist die Vorlage des In landspasses und nachweisbarer Wohnraum. Nur wer eine Bescheinigung seines Vermieters vorweist, kann sich registrieren lassen (AA 13.2.2019). Einige regionale Behörden schränken die Registrierung vor allem von ethnischen Minderheiten und Migranten aus dem Kaukasus und Zentralasien ein (FH 4.3.2020).

Personen aus dem Nordkaukasus können grundsätzlich problemlos in andere Teile der Russischen Föderation reisen. Die tschetschenische Diaspora in allen russischen Großstädten ist stark angewachsen; 200.000 Tschetschenen sollen allein in Moskau leben. Sie treffen allerdings immer noch auf anti-kaukasische Einstellungen (AA 13.2.2019, vgl. ADC Memorial, CrimeaSOS, Sova Center for Information and Analysis, FIDH 2017).

Bei der Einreise werden die international üblichen Pass- und Zollkontrollen durchgeführt. Personen ohne reguläre Ausweisdokumente wird in aller Regel die Einreise verweigert. Russische Staatsangehörige können grundsätzlich nicht ohne Vorlage eines russischen Reisepasses, Inlandspasses (wie Personalausweis) oder anerkannten Passersatzdokuments wieder in die Russische Föderation einreisen. Russische Staatsangehörige, die kein gültiges Personaldokument vorweisen können, müssen eine Verwaltungsstrafe zahlen, erhalten ein vorläufiges Personaldokument und müssen bei dem für sie zuständigen Meldeamt die Ausstellung eines neuen Inlandspasses beantragen (AA 13.2.2019).

Personen, die innerhalb des Landes reisen, können dies nicht ohne ihren Inlandsreisepass (US DOS 11.3.2020, vgl. FH 4.3.2020). Der Inlandspass ermöglicht auch die Abholung der Pension vom Postamt, die Arbeitsaufnahme und die Eröffnung eines Bankkontos (AA 21.5.2018, vgl. FH 4.3.2020).

Nach Angaben des Leiters der Pass- und Visa-Abteilung im tschetschenischen Innenministerium haben alle 770.000 Bewohner Tschetscheniens, die noch die alten sowjetischen Inlandspässe hatten, neue russische Inlandspässe erhalten (AA 13.2.2019).

Quellen:

?        AA - Auswärtiges Amt (13.2.2019): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Russischen Föderation, https://www.ecoi.net/en/file/local/1458482/4598_1551701623_auswaertiges-amt-bericht-ueber-die-asyl-und-abschiebungsrelevante-lage-in-der-russischen-foederationstand-dezember-2018-13-02-2019.pdf, Zugriff 16.3.2020

?        ADC Memorial, CrimeaSOS, SOVA Center for Information and Analysis, FIDH (International Federation for Human Rights) (2017): Racism, Discrimination and Fight Against “Extremism” in Contemporary Russia and its Controlled Territories. Alternative Report on the Implementation of the UN Convention on the Elimination of All Forms of Racial Discrimination by the Russian Federation, https://www.fidh.org/IMG/pdf/cerdengen.pdf, Zugriff 16.3.2020

?        FH – Freedom House (4.3.2020): Jahresbericht zu politischen Rechten und bürgerlichen Freiheiten im Jahr 2019 - Russland, https://www.ecoi.net/de/dokument/2025879.html, Zugriff 5.3.2020

?        US DOS – United States Department of State (11.3.2020): Jahresbericht zur Menschenrechtslage im Jahr 2019 – Russland, https://www.ecoi.net/de/dokument/2026343.html, Zugriff 16.3.2020

1.3.6. Grundversorgung im Nordkaukasus

Die nordkaukasischen Republiken stechen unter den Föderationssubjekten Russlands durch einen überdurchschnittlichen Grad der Verarmung und der Abhängigkeit vom föderalen Haushalt hervor. Die Haushalte Dagestans, Inguschetiens und Tschetscheniens werden zu über 80% von Moskau finanziert (GIZ 7.2020a; vgl. ÖB Moskau 12.2018), obwohl die föderalen Zielprogramme für die Region mittlerweile ausgelaufen sind. Dennoch hat sich die wirtschaftliche Lage im Nordkaukasus in den letzten Jahren einigermaßen stabilisiert. Wenngleich die föderalen Transferzahlungen wichtig bleiben, konnten in den vergangenen Jahren dank des massiven Engagements der Föderalen Behörden, insbesondere des Nordkaukasus-Ministeriums, signifikante Fortschritte bei der sozio-ökonomischen Entwicklung der Region erzielt werden (ÖB Moskau 12.2019).

Quellen:

?        GIZ – Deutsche Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit GmbH (7.2020a): Russland, Geschichte und Staat, https://www.liportal.de/russland/geschichte-staat/#c17836 , Zugriff 17.7.2020

?        ÖB Moskau (12.2019): Asylländerbericht Russische Föderation, https://www.ecoi.net/en/file/local/2025975/RUSS_%C3%96B_Bericht_2019_12.pdf , Zugriff 18.3.2020

1.3.7. Sozialbeihilfen

Die Russische Föderation hat ein reguläres Sozialversicherungs-, Wohlfahrts- und Rentensystem. Leistungen hängen von der spezifischen Situation der Personen ab; eine finanzielle Beteiligung der Profitierenden ist nicht notwendig. Alle Leistungen stehen auch Rückkehrern offen (IOM 2018).

Das soziale Sicherungssystem wird von vier Institutionen getragen: dem Rentenfonds, dem Sozialversicherungsfonds, dem Fonds für obligatorische Krankenversicherung und dem staatlichen Beschäftigungsfonds (GIZ 7.2020c).

Der Sozialversicherungsfonds finanziert das Mutterschaftsgeld (bis zu 18 Wochen), Kinder- und Krankengeld. Das Krankenversicherungssystem umfasst eine garantierte staatliche Minimalversorgung, eine Pflichtversicherung und eine freiwillige Zusatzversicherung. Vom staatlichen Beschäftigungsfonds wird das Arbeitslosengeld (maximal ein Jahr lang) ausgezahlt. Alle Sozialleistungen liegen auf einem niedrigen Niveau (GIZ 7.2020c).

Eine Person kann sich bei den Arbeitsagenturen der Föderalen Behörde für Arbeit und Beschäftigung (Rostrud) arbeitslos melden und Arbeitslosenhilfe beantragen. Daraufhin wird die Arbeitsagentur innerhalb von zehn Tagen einen Arbeitsplatz anbieten. Sollte der/die BewerberIn diesen zurückweisen, wird er/sie als arbeitslos registriert. Arbeitszentren gibt es überall im Land. Arbeitslosengeld wird auf Grundlage des durchschnittlichen Gehalts des letzten Beschäftigungsverhältnisses kalkuliert. Die Mindesthöhe pro Monat beträgt 850 Rubel (12 €) und die Maximalhöhe 4.900 Rubel (70 €). Gelder werden monatlich ausgezahlt. Die Voraussetzung ist jedoch die notwendige Neubewertung (normalerweise zwei Mal im Monat) der Bedingungen durch die Arbeitsagenturen. Die Leistungen können unter verschiedenen Umständen auch beendet werden. Arbeitssuchende, die sich bei der Föderalen Behörde für Arbeit und Beschäftigung registriert haben, haben das Recht an kostenlosen Fortbildungen teilzunehmen und so ihre Qualifikationen zu verbessern. Ebenfalls bieten private Schulen, Trainingszentren und Institute Schulungen an. Diese sind jedoch nicht kostenlos (IOM 2018).

Quellen:

•        GIZ – Deutsche Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit GmbH (7.2020c): Russland, Gesellschaft, https://www.liportal.de/russland/gesellschaft/#c18140 , Zugriff 17.7.2020

•        IOM – International Organisation of Migration (2018): Länderinformationsblatt Russische Föderation, https://milo.bamf.de/milop/livelink.exe/fetch/2000/702450/698578/704870/698619/18364377/Russland_%2D_Country_Fact_Sheet_2018%2C_deutsch.pdf?nodeid=20101366&vernum=-2 , Zugriff 18.3.2020

1.3.8. Rückkehr

Die Rückübernahme russischer Staatsangehöriger aus Österreich nach Russland erfolgt in der Regel im Rahmen des Abkommens zwischen der Europäischen Gemeinschaft und der Russischen Föderation über die Rückübernahme. Der Rückübernahme geht, wenn die betroffene Person in Österreich über kein gültiges Reisedokument verfügt, ein Identifizierungsverfahren durch die russischen Behörden voraus. Wird dem Rücknahmeersuchen stattgegeben, wird für diese Person von der Russischen Botschaft in Wien ein Heimreisezertifikat ausgestellt. Wenn die zu übernehmende Person im Besitz eines gültigen Reisedokuments ist, muss kein Rücknahmeersuchen gestellt werden. Bei Ankunft in der Russischen Föderation mussten sich bislang alle Rückkehrer beim Föderalen Migrationsdienst (FMS) ihres beabsichtigten Wohnortes registrieren. Dies gilt generell für alle russische Staatsangehörige, wenn sie innerhalb von Russland ihren Wohnort wechseln. 2016 wurde der FMS allerdings aufgelöst und die entsprechenden Kompetenzen in das Innenministerium verlagert. Die Zusammenarbeit zwischen föderalen und regionalen Behörden bei der innerstaatlichen Migration scheint verbesserungsfähig. Bei der Rückübernahme eines russischen Staatsangehörigen, nach dem in der Russischen Föderation eine Fahndung läuft, wird die ausschreibende Stelle über die Überstellung informiert und diese Person kann, falls ein Haftbefehl aufrecht ist, in Untersuchungshaft genommen werden (ÖB Moskau 12.2019).

Zur allgemeinen Situation von Rückkehrern, insbesondere im Nordkaukasus, kann festgestellt werden, dass sie vor allem vor wirtschaftlichen und sozialen Herausforderungen stehen. Dies betrifft etwa bürokratische Schwierigkeiten bei der Beschaffung von Dokumenten, die oft nur mit Hilfe von Schmiergeldzahlungen überwunden werden können. Die wirtschaftlichen und sozialen Herausforderungen betreffen weite Teile der russischen Bevölkerung und können somit nicht als spezifisches Problem von Rückkehrern bezeichnet werden. Besondere Herausforderungen ergeben sich für Frauen aus dem Nordkaukasus, zu deren Bewältigung von Problemen zivilgesellschaftliche Initiativen unterstützend tätig sind. Eine allgemeine Aussage über die Gefährdungslage von Rückkehrern in Bezug auf mögliche politische Verfolgung durch die russischen bzw. die nordkaukasischen Behörden kann nicht getroffen werden, da dies stark vom Einzelfall abhängt. Im Normalfall sind Rückkehrer aber nicht immer mit Diskriminierung seitens der Behörden konfrontiert (ÖB Moskau 12.2019).

Rückkehrende werden grundsätzlich nicht als eigene Kategorie oder schutzbedürftige Gruppe aufgefasst. Folglich gibt es keine individuelle Unterstützung durch den russischen Staat. Rückkehrende haben aber wie alle anderen russischen StaatsbürgerInnen Anspruch auf Teilhabe am Sozialversicherungs-, Wohlfahrts- und Rentensystem, solange sie die jeweiligen Bedingungen erfüllen. Es gibt auch finanzielle und administrative Unterstützung bei Existenzgründungen. Beispielsweise können Mikrokredite für Kleinunternehmen bei Banken beantragt werden. Einige Regionen bieten über ein Auswahlverfahren spezielle Zuschüsse zur Förderung von Unternehmensgründungen an (IOM 2018).

Neben der allgemeinen Unterstützung bei der freiwilligen Rückkehr haben Rückkehrer die Möglichkeit, eines der vom österreichischen Innenministerium unterstützten Reintegrationsprogramme in ihrem Heimatland in Anspruch zu nehmen. Diese freiwilligen Rückkehrer erhalten eine umfassende Beratung und eine Reintegrationsleistung vor Ort (besteht im Wesentlichen aus einer Sachleistung), welche eine erneute Existenzgrundlage im Herkunftsland ermöglichen und somit eine Nachhaltigkeit der Rückkehr fördern soll (ÖB Moskau 12.2019).

Quellen:

•        IOM – International Organisation of Migration (2018): Länderinformationsblatt Russische Föderation, https://milo.bamf.de/milop/livelink.exe/fetch/2000/702450/698578/704870/698619/18364377/Russland_%2D_Country_Fact_Sheet_2018%2C_deutsch.pdf?nodeid=20101366&vernum=-2, Zugriff 10.3.2020

•        ÖB Moskau (12.2018): Asylländerbericht Russische Föderation, https://www.ecoi.net/en/file/local/2001768/RUSS_%C3%96B_Bericht_2018_12.pdf, Zugriff 10.3.2020

2. Beweiswürdigung

2.1. Zur Person des BF

Dass die Identität des BF feststeht, hat bereits das BFA im angefochtenen Bescheid festgestellt und blieb unbestritten.

Die Feststellungen zur Religionsgruppen- und Volksgruppenzugehörigkeit des BF folgt seinen unbedenklichen Angaben bzw. denen seiner Eltern in den asylrechtlichen Vorverfahren. Dass der BF gänzlich auf Deutsch kommuniziert, hat er in der mündlichen Beschwerdeverhandlung bewiesen. Soweit er dort jedoch auch angab, „nur ein paar Wörter“ auf Tschetschenisch zu verstehen, ist dies insoweit nicht vollständig glaubhaft, da der BF jedenfalls bis zu seinem XXXX Lebensjahr bei seinen Eltern aufwuchs, die sich zweifellos primär in ihrer Muttersprache Tschetschenisch mit dem BF unterhielten, zumal sie selbst erst die deutsche Sprache erlernen mussten. Dies bestätigte die Mutter des BF auch in der mündlichen Beschwerdeverhandlung. Glaubhaft ist allerdings, dass der BF in den folgenden Jahren, die er in verschiedenen Kinderheimen verbrachte, seine Muttersprache zu einem Gutteil verlernte, sodass er sie inzwischen nur mehr auf elementarem Niveau beherrscht. Dass der BF die russische Sprache nicht beherrscht, ist wiederum glaubhaft, zumal – wie sich aus dem Akteninhalt unzweifelhaft ergibt – er bereits als Kleinkind mit seinen Eltern nach Österreich kam und somit in Russland nicht die Schule besucht hat.

Die Feststellungen zum fehlenden Kontakt des BF zu seinem Vater und den Gründen dafür, zu seinem langjährigen Aufenthalt in Kinderheimen, den Besuchen bei seiner Mutter, seiner Schulbildung und seinen daran anschließenden abgebrochenen Ausbildungen folgen den plausiblen und lebensnahen Ausführungen des BF in der mündlichen Beschwerdeverhandlung sowie auch seiner Mutter als Zeugin, dem unzweifelhaften Akteninhalt zum Asylfolgeverfahren des BF und seiner Mutter, einem Auszug aus dem Zentralen Melderegister sowie – in Hinblick auf die Schulbildung – auch jedenfalls dem genannten Strafurteil vom XXXX .

Die Feststellungen zu den strafgerichtlichen Verurteilungen des BF beruhen auf den Urteilen und kriminalpolizeilichen Meldungen und Berichten, die im Akt aufliegen, sowie einer Strafregisterauskunft.

Die Feststellung zum Zeitraum der Inhaftierung des BF beruht auf seiner Aussage in der mündlichen Beschwerdeverhandlung sowie wiederum der Strafregisterauskunft. Dass er seither mit seinem jüngsten Bruder bei seiner Mutter lebt, haben sowohl er als auch seine Mutter als Zeugin glaubhaft in der Verhandlung ausgeführt und ergibt sich ebenso aus dem Melderegisterauszug. Die Feststellungen zum Jugendcoaching und zur Bewährungshilfe des BF, seiner derzeitigen Ausbildung, seinen Berufswünschen und der Trennung von jenen Freunden, die mit seiner Straffälligkeit in Verbindung standen, sind Folge seiner wiederum glaubhaften, lebensnahen Angaben in der mündlichen Verhandlung und der Strafregisterauskunft.

Für das erkennende Gericht ergibt sich kein Zweifel daran, dass der noch junge BF sich mit den Gründen seiner Inhaftierung befasst und das Unrecht seiner Taten erkannt hat und diese bereut. Der BF hat in der mündlichen Verhandlung – zumal vor dem Hintergrund seiner schwierigen Vorgeschichte – plausibel und offenkundig einsichtig erzählt, wie es dazu kam, dass er in die Kriminalität abrutschte, wann und weshalb er seinen falschen Lebensweg bemerkte und welche Schritte er bereits gesetzt hat und in Zukunft noch folgen sollen, um wieder ein ordentliches Leben zu führen (s. insb. Verhandlungsprotokoll S. 8 f). Das erkennende Gericht geht aufgrund der Ausführungen des BF in der Verhandlung auch davon aus, dass sich dieser bewusst ist, dass es sich um seine letzte Chance zur Besserung handelt und welche – auch fremdenrechtlichen – Konsequenzen ein Rückfall haben könnte.

Die Feststellungen über den Aufenthalt und den Aufenthaltstitel der Mutter und Geschwister des BF ergeben sich aus dem unzweifelhaften Akteninhalt. Die Feststellungen über die Verwandtschaft des BF auf mütterlicher Seite und zum Kontakt zu dieser beruhen auf den Ausführungen der Mutter des BF in der mündlichen Verhandlung, wobei durchaus glaubhaft ist, dass der BF selbst mangels Interesse bzw. mangels guter Sprachkenntnisse nicht bzw. kaum mit seiner Verwandtschaft spricht. Dass der BF diese Verwandten aber kennt, ergibt sich ebenso glaubhaft aus den Aussagen seiner Mutter, wonach sie mit ihnen videotelefoniert und sie sich daher gegenseitig sehen. Dass kein Kontakt zur Verwandtschaft väterlicherseits besteht, hat der BF glaubhaft in der Verhandlung angegeben, zumal er seit vielen Jahren keinen Kontakt zu seinem Vater hat.

Dass der BF gesund, ledig und kinderlos ist, hat er schließlich ebenso in der mündlichen Verhandlung zu Protokoll gegeben bzw. wurde nichts Gegenteiliges vorgebracht.

2.2. Zu den Asylverfahren des BF und seiner Situation im Falle einer Rückkehr

Die Feststellungen zu den Asylzuerkennungs- und Asylaberkennungsverfahren des BF und seiner Mutter beruhen auf dem unstrittigen Akteninhalt.

Wie bereits oben festgestellt und gewürdigt, hat der BF in XXXX eine breite Verwandtschaft mütterlicherseits. Zwar steht der BF nicht in direktem Kontakt mit ihnen, aber seine Mutter telefoniert regelmäßig – mehrmals die Woche – mit ihren Verwandten. Die Familienbande sind daher auch nach der langen Ortsabwesenheit offenkundig immer noch sehr eng. Es sind im Verfahren keine Anhaltspunkte dafür hervorgekommen, dass der BF im Falle einer Rückkehr auf dieses soziale Netz und die damit verbundene Unterstützung und Unterkunft nicht zugreifen könnte. Da nichts Gegenteiliges vorgebracht wurde (vgl. auch Verhandlungsprotokoll S. 14 unten), kann davon ausgegangen werden, dass die Verwandtschaft in XXXX auch über eine Existenzgrundlage verfügt und folglich unterstützungsfähig ist. Der BF kann zudem auf staatliche Sozialleistungen wie Arbeitslosenunterstützung zurückgreifen. Im Übrigen ist der BF selbst gesund, verfügt über Schulbildung und ist arbeitsfähig, auch wenn er bislang keine größere Arbeitserfahrung aufweist. Insgesamt stellt sich die bloß elementare Kenntnis der tschetschenischen Sprache als einziger potentieller Hinderungsgrund dar. Da der BF aber bereits in seiner Kindheit diese Sprache gelernt hat und sie lediglich in den folgenden Jahren verlernt hat, muss davon ausgegangen werden, dass der noch junge, lernfähige BF, der immer noch über elementare Sprachkenntnisse verfügt, diese Sprache vergleichsweise schnell wieder erlernen und auch verbessern könnte, zumal ihn seine Mutter und seine Verwandtschaft, die selbst diese Sprache sprechen, dabei unterstützen können. Vor dem Hintergrund des sozialen Netzwerkes, das den BF – auch mit seinen zunächst nur elementaren Sprachkenntnissen – in der Zwischenzeit unterstützen und somit seine Existenz sichern könnte, stellt sich die geringe Sprachkenntnis daher nicht als maßgebliches Rückkehrhindernis dar. Nach (Wieder-)Erlernen der Sprache könnte der BF sodann mittelfristig – etwa durch Arbeit im angrenzenden Tschetschenien – auch selbst zur Sicherung seiner Existenz beitragen bzw. für diese selbst aufkommen. In weiterer Folge steht auch dem Erlernen der russischen Sprache nichts entgegen. Zudem stellen die perfekten Deutschkenntnisse des BF eine beruflich verwertbare Qualifikation dar. Da der BF aus einer tschetschenischen Familie stammt und seine Eltern einen Gutteil ihres Lebens vor ihrer Einreise in das Bundesgebiet dort bzw. in XXXX – d.h. im nordöstlichen Kaukasusgebiet – verbrachten, wird er sich auch in den dort gültigen Gewohnheiten und Werten zurechtfinden, zumal im Verfahren nichts Gegenteiliges vorgebracht wurde. Es sind somit keine Gründe dafür hervorgekommen, dass der BF im Falle einer Rückkehr in eine völlig ausweglose Lage geraten würde.

Diese Erwägungen gelten auch in Betrachtung einer durch die COVID-19-Pandemie bedingten, allfällig schwierigeren wirtschaftlichen Gesamtlage, da damit nicht derartige Einschränkungen einhergehen, dass einer Person in der Ausgangslage des BF jegliche Existenzgrundlage entzogen wäre. Dies, zumal in Russland bereits Impfstoffe zur Verfügung stehen, sodass mittelfristig mit einem Wegfall derartiger Einschränkungen zu rechnen ist. Auch gehört der BF selbst keiner medizinischen Risikogruppe an.

Dass im Falle einer Abschiebung in den Herkunftsstaat der BF in seinem Recht auf Leben gefährdet, der Folter oder unmenschlicher oder erniedrigender Strafe oder Behandlung unterworfen oder von der Todesstrafe bedroht wäre, ist anhand der Länderberichte nicht objektivierbar.

Sonstige außergewöhnliche Gründe, die einer Rückkehr entgegenstehen, hat der BF nicht angegeben und sind auch vor dem Hintergrund der zitierten Länderberichte nicht hervorgekommen.

2.3. Zur maßgeblichen Situation in der Russischen Föderation

Die Feststellungen zur Situation im Herkunftsstaat ergeben sich aus dem im Länderinformationsblatt der Staatendokumentation zur Russischen Föderation vom 04.09.2020 wiedergegebenen und zitierten Länderberichten, die in ihren verfahrensmaßgeblichen Ausführungen weiterhin aktuell sind. Diese gründen sich auf den jeweils angeführten Berichten angesehener staatlicher und nichtstaatlicher Einrichtungen. Angesichts der Seriosität der Quellen und der Plausibilität ihrer Aussagen besteht für das Bundesverwaltungsgericht kein Grund, an der Richtigkeit der Angaben zu zweifeln, zumal ihnen nicht substantiiert entgegengetreten wurde. Die konkret den Feststellungen zugrundeliegenden Quellen wurden unter Punkt II.1.3. zitiert.

3. Rechtliche Beurteilung

Zum Spruchteil A)

3.1. Zur Beschwerde gegen die Spruchpunkte I. und II. des angefochtenen Bescheides

3.1.1. Gemäß § 9 Abs. 1 Z 1 AsylG 2005 ist einem Fremden der Status eines subsidiär Schutzberechtigten von Amts wegen mit Bescheid abzuerkennen, wenn die Voraussetzungen für die Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten (§ 8 Abs. 1) nicht (1. Fall) oder nicht mehr (2. Fall) vorliegen.

Gemäß § 9 Abs. 1 Z 2 und 3 leg.cit. sind weitere Aberkennungsgründe, wenn der Fremde den Mittelpunkt seiner Lebensbeziehungen in einem anderen Staat hat oder er die Staatsangehörigkeit eines anderen Staates erlangt hat und eine Zurückweisung, Zurückschiebung oder Abschiebung des Fremden in seinen neuen Herkunftsstaat keine reale Gefahr einer Verletzung von Art. 2 EMRK, Art. 3 EMRK oder der Protokolle Nr. 6 oder Nr. 13 zur Konvention oder für ihn als Zivilperson keine ernsthafte Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen Konfliktes mit sich bringen würde.

Gemäß Abs. 4 leg.cit. ist die Aberkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten mit dem Entzug der Aufenthaltsberechtigung als subsidiär Schutzberechtigter zu verbinden. Der Fremde hat nach Rechtskraft der Aberkennung Karten, die den Status des subsidiär Schutzberechtigten bestätigen, der Behörde zurückzustellen.

3.1.2. Zur richtlinienkonformen Interpretation

Artikel 16 Abs. 1 und 2 der Richtlinie 2011/95/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13. Dezember 2011 über Normen für die Anerkennung von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen als Personen mit Anspruch auf internationalen Schutz, für einen einheitlichen Status für Flüchtlinge oder für Personen mit Anrecht auf subsidiären Schutz und für den Inhalt des zu gewährenden Schutzes (in der Folge: Status-RL), über das Erlöschen des subsidiären Schutzes lauten:

„(1) Ein Drittstaatsangehöriger oder ein Staatenloser hat keinen Anspruch auf subsidiären Schutz mehr, wenn die Umstände, die zur Zuerkennung des subsidiären Schutzes geführt haben, nicht mehr bestehen oder sich in einem Maße verändert haben, dass ein solcher Schutz nicht mehr erforderlich ist.

(2) Bei Anwendung des Absatzes 1 berücksichtigen die Mitgliedstaaten, ob sich die Umstände so wesentlich und nicht nur vorübergehend verändert haben, dass die Person, die Anspruch auf subsidiären Schutz hat, tatsächlich nicht länger Gefahr läuft, einen ernsthaften Schaden zu erleiden.“

Art. 19 Abs. 1 und 4 lauten:

„(1) Bei Anträgen auf internationalen Schutz, die nach Inkrafttreten der Richtlinie 2004/83/EG gestellt wurden, erkennen die Mitgliedstaaten einem Drittstaatsangehörigen oder einem Staatenlosen den von einer Regierungs- oder Verwaltungsbehörde, einem Gericht oder einer gerichtsähnlichen Behörde zuerkannten subsidiären Schutzstatus ab, beenden diesen oder lehnen seine Verlängerung a

Quelle: Bundesverwaltungsgericht BVwg, https://www.bvwg.gv.at
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