TE Bvwg Erkenntnis 2021/7/23 W272 2243846-1

JUSLINE Entscheidung

Veröffentlicht am 23.07.2021
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Entscheidungsdatum

23.07.2021

Norm

AsylG 2005 §10 Abs1 Z4
AsylG 2005 §57
AsylG 2005 §7 Abs1 Z2
AsylG 2005 §7 Abs4
AsylG 2005 §8 Abs1 Z2
BFA-VG §9
B-VG Art133 Abs4
FPG §46
FPG §52 Abs2 Z3
FPG §52 Abs5
FPG §52 Abs9
FPG §53 Abs1
FPG §53 Abs3 Z1

Spruch


W272 2243846-1/7E

IM NAMEN DER REPUBLIK

Das Bundesverwaltungsgericht erkennt durch den Richter Mag. Alois BRAUNSTEIN, MBA als Einzelrichter über die Beschwerde von XXXX , geb. XXXX , StA. Russische Föderation, vertreten durch Rechtsanwältin Maga. Veronika SENGMÜLLER, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 10.05.2021, Zl. XXXX , zu Recht:

A)
I. Die Beschwerde gegen die Spruchpunkte I. – III. wird als unbegründet abgewiesen.

II. Der Beschwerde gegen Spruchpunkt IV. wird stattgegeben.

III. In Erledigung der Entscheidung werden die Spruchpunkte V. – VII des angefochtenen Bescheides ersatzlos behoben.

B)
Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.


Text


Entscheidungsgründe:

I. Verfahrensgang:

1. Der Beschwerdeführer, Staatsangehöriger der Russischen Föderation, reiste unter Umgehung der Grenzkontrollen gemeinsam mit seiner Familie in das österreichische Bundesgebiet ein und stellte am 14.04.2004 einen Antrag auf internationalen Schutz. Bei der Erstbefragung durch die Organe des öffentlichen Sicherheitsdienstes am selben Tag, gab der Beschwerdeführer als Fluchtgrund im Wesentlichen an, dass er gemeinsam mit seiner Familie seine Heimat verlassen habe, weil sie alle zusammen aus politischen Gründen verfolgt werden. Es sei ständig Krieg, sein Haus sei bereits zerstört und weil er Tschetschene sei, habe er auch keine Chancen bekommen eine Arbeit zu finden. Seine Tochter habe zudem schwerste psychische Probleme. Allein wegen seiner Abstammung als Tschetschene werde er von den russischen Soldaten und der Polizei verfolgt. Er sei bereits mehrfach willkürlich eingesperrt gewesen und gefoltert worden. Am 18.11.2004 erfolgte eine niederschriftliche Einvernahme durch das Bundesasylamt. Dabei gab er zusammengefasst an, dass er als Vater seine drei minderjährigen Kinder im gegenständlichen Verfahren vertrete. Er sei in Russland geboren, verheiratet und gehöre der tschetschenischen Volksgruppe an. Er habe elf Jahre die Grundschule und zwei Jahre die Berufsschule in seinem Heimatland besucht. Zuletzt habe er in Grozny gelebt. Seinen Militärdienst habe er von 1980-1982 als einfacher Soldat geleistet. Sein Bruder habe gegen die russische Armee gekämpft und als Krieg gewesen sei, sei seine Wohnung zerstört worden und er habe mit seiner Familie bei seiner Mutter gelebt. Jedes Mal sei er im Dorf von den Soldaten umzingelt, kontrolliert, mitgeschleppt und misshandelt worden, weil sie Informationen zu seinem Bruder haben wollten. Im Jahr 2002 sei sein Neffe erschossen worden.

Mit Bescheid des Bundesasylamtes vom 29.11.2004 wurde dem Antrag aufgrund der Kriegssituation und Verfolgungshandlungen aus politischen Gründen stattgegeben und dem Beschwerdeführer in Österreich internationaler Schutz gewährt. Dieser Bescheid erlangte mit 15.12.2004 Rechtskraft.

2. Mit Urteil des Landesgerichtes Salzburg vom 20.11.2018 wurde der Beschwerdeführer von dem gegen ihn erhobenen Strafantrag wegen des Vergehens der falschen Beweisaussage nach § 288 Abs. 1 freigesprochen.

3. Mit Kontrollmitteilung der Landespolizeidirektion Niederösterreich vom 08.01.2020 wurde das Bundesamt von einer Reise des Beschwerdeführers nach Istanbul in Kenntnis gesetzt. Mit Kontrollmitteilung vom 29.01.2020 wurde das Bundesamt von einer Reise des Beschwerdeführers nach Grosny, Tschetschenien in Kenntnis gesetzt. Beide Male gab er an, dass er das Land anschauen wolle und führte einmal € 9.000,- und das zweite Mal € 8.000,-als Bargeld mit.

Daraufhin leitete das Bundesamt ein Aberkennungsverfahren ein. Mit Schreiben vom 29.01.2020 setzte das Bundesamt die zuständige NAG-Behörde (Magistrat der Stadt Salzburg) in Kenntnis, dem Beschwerdeführer einen Aufenthaltstitel von Amts wegen zu erteilen, damit aufgrund maßgeblicher Lageänderung dem Beschwerdeführer der Status des Asylberechtigten aberkannt werden könne.

4. Mit 15.09.2020 wurde dem BF durch den Magistrat der Stadt Salzburg der Aufenthaltstitel „Daueraufenthalt EU“ ausgestellt.

5. Am 21.01.2021 wurde der Beschwerdeführer wegen Verdacht auf schwere Körperverletzung (Versuch) in Untersuchungshaft genommen. Das Bundesamt ersuchte die Stadt Salzburg um Verfahrensaussetzung, weil im Verurteilungsfall die Beurteilung der Asylaberkennung dem Bundesamt obliege.

6. Mit Urteil des Landesgerichtes Salzburg vom 15.04.2021, rechtskräftig am 19.04.2021 wurde der Beschwerdeführer wegen des Vergehens der Begehung einer mit Strafe bedrohten Handlung im Zustand voller Berauschung nach § 287 Abs. 1 StGB (§§ 15 Abs. 1, 269 Abs. 1 und §§ 15 Abs. 1, 83 Abs. 1 und 84 Abs. 2 StGB) zu einer Freiheitsstrafe von 6 Monaten bedingt auf 3 Jahre Probezeit verurteilt.

7. Die Stadt Salzburg übermittelte am 26.04.2021 dem Bundesamt auf Nachfrage eine Strafverfügung gegen den Beschwerdeführer vom 15.02.2021, die seit 05.03.2021 rechtskräftig ist. Gegen den Beschwerdeführer wurde wegen Verletzung einer Verwaltungsübertretung gemäß § 8 Abs. 2 COVID-19-Maßnahmengesetzt eine Geldstrafe von € 50,- verhängt.

Des Weiteren wurde mit Strafverfügung vom 22.02.2021 gegen den Beschwerdeführer wegen einer Verwaltungsübertretung gemäß § 81 Abs. 1 SPG und § 82 Abs. 1 SPG eine Gesamtgeldstrafe von € 400,- verhängt.

8. Am 05.04.2021 erging gegen den Beschwerdeführer ein Festnahmeauftrag und Durchsuchungsauftrag seiner Räumlichkeiten wegen Nichtbefolgung eines Ladungsbescheides. Nach Vorführung des Beschwerdeführers am selben Tag durch Organe des öffentlichen Sicherheitsdienstes erfolgte die niederschriftliche Einvernahme durch das Bundesamt im Aberkennungsverfahren.

Dabei gab der Beschwerdeführer zusammengefasst an, dass sich die Lage in seiner Heimat nicht geändert habe. Es sei nur Augenauswischerei und wäre dort mit Arbeit und Gesetzen alles in Ordnung, wäre er nicht hier. Das gelte auch für Meinungsfreiheit und Freiheit der Person. Der Beschwerdeführer sei verheiratet und habe vier Kinder, zwei Kinder wohnen noch bei ihm. Derzeit sei er arbeitslos, aber sein früherer Arbeitgeber habe ihm eine Arbeitsstelle am Mondsee angeboten. Er habe vor einigen Jahren Deutschkurse und Schweißkurse des AMS besucht und sei in keinem Verein aktiv. Seine Tochter habe eine Behinderung und Probleme bei der Arbeitssuche. Er habe viele tschetschenische Bekannte in Österreich, stehe aber auch im Kontakt mit den Nachbarn. In Tschetschenien leben seine Geschwister (zwei Brüder und fünf Schwestern), zu denen er auch von Österreich telefonischen Kontakt aufrecht halte und deren Familien. Außerdem habe er Verwandte in Belgien und Frankreich. Zuletzt sei er bei seinen Geschwistern im Jahr 2020 in der Russischen Föderation zu Besuch gewesen. Er sei mit dem Flugzeug und mit einem Visum sowie einen russischen Reisepass ein- und ausgereist.

Befragt zu seinen Rückkehrbefürchtungen gab er an, dass er nicht wisse, ober er am Leben bleibe oder im Gefängnis lande. In Russland herrsche überall Arbeitslosigkeit. Es sei alles möglich. Seine Kinder seien im österreichischen System integriert und es gebe keine Garantie, was passieren würde, wenn er nach Tschetschenien zurückkehre.

Zu den Gründen der Asylzuerkennung führte der Beschwerdeführer aus, dass er wegen des Krieges geflohen sei und Angst um seine Kinder gehabt habe. Für die Zukunft seiner Kinder habe er ausreisen müssen. Er habe nie aktiv am Krieg teilgenommen und die Widerstandskämpfer mit Kleidung und Essen unterstützt.

9. Das Bundesamt erkannte mit Bescheid vom 10.05.2021 (Annahmeverweigerung am 01.06.2021) dem Beschwerdeführer den mit Bescheid vom 29.11.2004 zuerkannte Status des Asylberechtigten gemäß § 7 Abs. 1 Z2 AsylG ab und stellte fest, dass dem Beschwerdeführer gemäß § 7 Abs. 4 AsylG die Flüchtlingseigenschaft kraft Gesetzes nicht mehr zukommt (Spruchpunkt I.). Gemäß § 8 Abs. 1 Z 3 AsylG wurde dem Beschwerdeführer der Status des subsidiär Schutzberechtigten nicht zuerkannt sowie ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen gemäß § 57 AsylG nicht erteilt (Spruchpunkt II.-III.). Gemäß § 10 Abs. 1 Z 4 AsylG iVm § 9 BFA-VG erlies das Bundesamt gegen den Beschwerdeführer gemäß § 52 Abs. 2 Z. 3, Abs. 5 FPG eine Rückkehrentscheidung und stellte gemäß § 52 Abs. 9 FPG fest, dass die Abschiebung des Beschwerdeführers in die Russische Föderation zulässig ist (Spruchpunkt IV.-V.). Es räumte ihm eine Frist für die freiwillige Ausreise von 14 Tagen ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung ein und erließ gemäß § 53 Abs. 1 iVm Abs. 3 Z 1 FPG ein auf die Dauer von 2 Jahren befristetes Einreiseverbot gegen den Beschwerdeführer (Spruchpunkt VI.-VII.).

Begründend führte das Bundesamt aus, dass der Grund für die Asylzuerkennung im Jahr 2004 gewesen sei, dass man dem Beschwerdeführer im zweiten Tschetschenienkrieg eine separatistische Einstellung unterstellt habe und es zu physischen Misshandlungen zur Preisgabe von Geheimnissen gekommen sei. Die Lage im Herkunftsstaat des Beschwerdeführers habe sich seit der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten maßgeblich und nachhaltig geändert. Der Fokus der Sicherheitskräfte liege auf der Bekämpfung von Rebellen und von IS-Sympathisanten bzw. –Rückkehrern. Zwar sei es in jüngerer Vergangenheit vereinzelt zu Übergriffen gegen Veteranen der Tschetschenienkriege bzw. Kritikern, die der Tradition der Republik Itschkeria zuzurechnen seien, gekommen, jedoch handle es sich hierbei offenkundig um Einzelfälle, von welchen der Beschwerdeführer bei lebensnaher Betrachtung der Gesamtumstände nicht betroffen sei. Eine pauschale Verfolgung von Teilnehmer der Tschetschenienkriege finde nicht statt. Der Beschwerdeführer müsse nicht befürchten im Rückkehrfall Opfer etwaiger gegen ihn persönlich gerichteter Verfolgungshandlungen zu werden. Außerdem habe der Beschwerdeführer im Jahr 2018 oder 2019 einen russischen Reisepass beantragt und sie im solcher auch ausgestellt worden. Darüber hinaus sei er im Jahr 2020 in seine Heimat gereist und habe sich insgesamt 27 Tage in Tschetschenien aufgehalten. Da der Beschwerdeführer strafgerichtlich verurteilt worden sei, komme ihm die Ablaufhemmung der Aberkennung nicht zu gute. Die Wiedereinreise in die Russische Föderation könne gefahrlos erfolgen. Bezüglich der Rückkehrentscheidung bejahte die Behörde ein Familienleben, brachte jedoch vor, dass aufgrund der strafrechtlichen Verurteilung, das öffentliche Interesse an der aufenthaltsbeendenden Maßnahme höher ist als das Privatinteresse des BF. Weiters sei gegen sämtliche Familienmitglieder ein Aberkennungsverfahren anhängig, sodass auch wechselseitige Besuche außerhalb des Schengenraumes möglich seien und aufgrund der Delinquenz des BF eine kurz- bis mittelfristige Trennung in Kauf zu nehmen sei. Auch die Voraussetzungen des § 52 Abs. 5 FPG liegen vor, da die Verwirklichung des Sachverhaltes gegeben sei, da der BF zu einer Freiheitsstrafe von sechs Monaten bedingt verurteilt worden ist und daher er eine schwerwiegende Gefahr für die öffentliche Ordnung und Sicherheit darstelle. Das Kindeswohl, des minderjährigen Sohnes, sei berücksichtigt worden und das Einreiseverbot, daher auf zwei Jahre reduziert.

Der Beschwerdeführer verweigerte am 01.06.2021 die Annahme des zugestellten Bescheides inkl. Beilagen.

10. Gegen diesen Bescheid erhob der Beschwerdeführer mit Schriftsatz vom 07.06.2021 fristgerecht Beschwerde. Dabei wird im Wesentlichen zusammengefasst vorgebracht, dass der Beschwerdeführer am Tag der Vernehmung vor dem Bundesamt (04.05.2021) schwer alkoholisiert und nicht in der Lage gewesen sei, der Vernehmung zu folgen. Aus Sicht des Beschwerdeführers seien die in dem Vernehmungsprotokoll getätigten Aussagen falsch, weil die starke Alkoholisierung noch während der Vernehmung bestanden habe. Er bestreite ausdrücklich, dass er sich im Jänner 2020 in Grosny aufgehalten habe und sei ausschließlich in die Türkei gefahren. Ebenso habe weder ein Visum noch einen russischen Reisepass. Seine Alkoholabhängigkeit habe er in der Einvernahme auch nur aus Scham bestritten und die Tatsache, dass die vernehmende Person danach fragte, zeige, dass es dem Beschwerdeführer offensichtlich schwer gefallen sei wegen seiner Alkoholisierung korrekte Angaben zu machen. Die belangte Behörde hätte die Befragung abbrechen und an einem anderen Tag fortsetzen müssen. Es sei offensichtlich gewesen, dass der Beschwerdeführer der Vernehmung nicht folgen und zusammenhängendes Vorbringen gekonnt habe. Die Alkoholisierung in der Vernehmung, aber auch die Alkoholkrankheit hätten zumindest im Rahmen der Beweiswürdigung Niederschlag finden müssen. Es bestehe beim Beschwerdeführer eine schwere Alkoholabhängigkeit und er sei deswegen ein stationärer Aufenthalt geplant gewesen, aber der Beschwerdeführer habe die geplante Alkoholentwöhnungsbehandlung aufgrund von Geldmängel abgesagt. Zudem sei es unrichtig, dass in der Heimat des Beschwerdeführers keine bewaffneten Konflikte mehr ausgetragen werden. Auch die Voraussetzungen zu Erteilung einer Rückkehrentscheidung legen nicht vor, weil der 59-jährige Beschwerdeführer an Alkoholsucht leide und es ihm unmöglich sei, in Tschetschenien eine neue Existenzgrundlage zu schaffen. Eine Behandlung seiner Alkoholsuch im Heimatstaat sei de facto unmöglich und es bestehe eine hohe Arbeitslosenquote bei den über 50-Jährigen. Der Beschwerdeführer lebe seit 17 Jahren rechtmäßig in Österreich und mit zwei seiner vier Kinder und der Ehegattin in einer Wohnung. Es bestehe ein Naheverhältnis zu seinen Kindern und zu seiner Frau, welches über das üblicherweise zwischen Verwandten dieser Art bestehende Verhältnis hinausgehe. Der Beschwerdeführer legte einen Versicherungsdatenauszug vom 24.02.2021 vor und beantragte die Stattgabe der Beschwerde.

11. Mit Übermittlung der Beschwerde und dem bezughabenden Verwaltungsakt an das Bundesverwaltungsgericht, gab das Bundesamt eine Stellungnahme ab: der Beschwerdeführer habe bei der Einvernahme vor dem Bundesamt nicht den Eindruck erweckt, er sei räumlich oder zeitlich desorientiert. Die Antworten, die die rechtsfreundliche Vertretung auf eine beträchtliche Alkoholisierung zu schieben versuche, seien nicht dergestalt, dass man von einer Einschränkung der Dispositionsfähigkeit ausgehen müsse. Außerdem sei festzuhalten, dass die rechtsfreundliche Vertretung des Beschwerdeführers – anders als der Unterfertigte sowie der Dolmetscher – bei der Einvernahme nicht dabei gewesen sei und mangels eigener Wahrnehmungen daher substanzlose Schutzbehauptungen des Beschwerdeführers wiederhole und versuche den Beweiswert der Einvernahme im Nachhinein zu schmälern. Das Bundesamt wies nochmals ausdrücklich hin, dass der Beschwerdeführer zum Zeitpunkt der Einvernahme räumlich und zeitlich orientiert gewesen sei und keine typischen Zeichen einer Alkoholisierung (Schwanken, Lallen, entsprechende Gestik und Mimik, etc.) gezeigt habe.

12. Am 20.07.2021 erfolgte eine mündliche Verhandlung vor dem Bundesverwaltungsgericht. Der BF präzisierte seine Beschwerde dahingehend, dass er keinen anderen Aufenthaltstitel wünsche, sondern der Aufenthaltstitel „Daueraufenthalt EU“, aufrecht bleiben soll.

II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:

1. Feststellungen:

1.1. Zur Person des Beschwerdeführers:

Die Identität des Beschwerdeführers steht fest. Der volljährige Beschwerdeführer führt den Namen XXXX , ist Staatsangehöriger der Russischen Föderation, Angehöriger der tschetschenischen Volksgruppe und bekennt sich zum muslimischen Glauben. Er ist verheiratet und hat vier Kinder. Er spricht Tschetschenisch und Russisch auf muttersprachlichen Niveau. Außerdem spricht er Deutsch.

Der Beschwerdeführer wurde am XXXX in Tschetschenien, Grosny geboren und lebte zunächst im Dorf XXXX und zog 1991 nach Grosny, dort lebte er mit seiner Ehefrau und seinen Kindern bis zu seiner Ausreise im Jahr 2004. Er besuchte 10 Jahre die Grundschule und danach eine Handelsschule. Der Beschwerdeführer leistete als einfacher Soldat von 1980-1982 seinen Militärdienst. Er hat an keinen Kampfhandlungen während des Tschetschenienkrieges teilgenommen. Seinen Lebensunterhalt bestritt er selbständig als Arbeiter in einem großen Lebensmittelgeschäft und danach als Arbeiter in vielen verschiedenen Bereichen. Seine gesamte Familie lebte in unmittelbaren Bereich.

Der Beschwerdeführer hat derzeit familiäre Anknüpfungspunkte in Tschetschenien. Seine Geschwister leben noch in seiner Heimat. Drei Schwestern in Grosny, zwei Schwestern im Dorf XXXX . Ein Bruder in Grosny und der jüngste im Dorf, wo seine Eltern waren. Zwei Brüder leben noch in Russland, XXXX . Der BF war im Jahr 2014 und im Jänner 2020 in Grosny und besuchte seine Verwandten.

Der Beschwerdeführer ist gesund und arbeitsfähig. Der BF trinkt zeitweise viel Alkohol, einen Alkoholentzug machte der Beschwerdeführer bis dato nicht und ist deswegen nicht in medizinischer Behandlung. Der BF ging in Österreich verschiedene Arbeiten nach, teilweise bezog er soziale Unterstützung und Arbeitslosengeld. Derzeit arbeitet der BF als Dachdecker bzw. Spengler. Der BF lebt mit seiner Frau, seinem minderjährigen Sohn und einer Tochter mit Beeinträchtigung in einem gemeinsamen Haushalt. Er kümmert sich um seine im gemeinsamen Haushalt lebenden Kindern. Der BF hat Kontakt zu seinen beiden anderen Kindern. Der BF hat soziale Anknüpfungspunkte in Österreich. Der Beschwerdeführer hat freundschaftliche Bekannte aus der Tschetschenischen Community.

Der Beschwerdeführer ist kein begünstigter Drittstaatsangehöriger. Der BF besitzt den Aufenthaltstitel „Daueraufenthalt EU“ seit dem 15.09.2020. Sein Aufenthalt im Bundesgebiet war nie geduldet. Er ist nicht Zeuge in einem laufenden Strafverfahren. Er war weder Opfer von strafbaren Handlungen noch sonst Opfer von Gewalt.

Der Beschwerdeführer wurde insgesamt einmal rechtskräftig verurteilt sowie wurde ein Strafverfahren diversionell eingestellt und gegen ihn zwei Strafverfügungen ausgestellt:

Mit Beschluss des Bezirksgerichtes Salzburg wurde das Strafverfahren wegen § 83 Abs. 1 StGB diversionell eingestellt. Dem Beschwerdeführer wurde mit Strafantrag der StA Salzburg das Vergehen der Körperverletzung zur Last gelegt, weil er seine Ehefrau XXXX durch Versetzen von Schlägen in das Gesicht, was leichte Verletzungen zur Folge hatte, vorsätzlich am Körper verletzt hat. Der außergerichtliche Tatausgleich kam unter Vermittlung zustande. Der Beschwerdeführer übernahm die Verantwortung, die Verletzte verzichtete auf Schmerzensgeld und sie unterschrieben eine schriftliche Vereinbarung. Eine Bestrafung erschien weder aus spezial- noch aus generalpräventiven Gründen geboten und die Schuld des Beschwerdeführers war nicht als schwer anzusehen.

Mit Urteil des Landesgerichtes Salzburg vom 15.04.2021, rechtskräftig am 19.04.2021 wurde der Beschwerdeführer wegen des Vergehens der Begehung einer mit Strafe bedrohten Handlung im Zustand voller Berauschung nach § 287 Abs. 1 StGB (§§ 15 Abs. 1, 269 Abs. 1 und §§ 15 Abs. 1, 83 Abs. 1 und 84 Abs. 2 StGB) zu einer Freiheitsstrafe von 6 Monaten bedingt auf 3 Jahre Probezeit verurteilt. Der BF hatte sich am 20.01.2021 in Salzburg, wenn auch nur fahrlässig, durch den Genuss von Alkohol in einen die Zurechnungsfähigkeit ausschließenden Rausch versetzt und im Rausch zwei Polizeibeamten einen gezielten Schlag mit der Faust gegen den oberen Brustbereich versetzt. Er versuchte mit Gewalt eine Identitätsfeststellung zu verhindern, sowie versuchte die Beamten zu verletzen. Bei der Strafbemessung wurde mildernd gewertet, dass der BF bisher einen ordentlichen Lebenswandel hatte, ein umfassendes und reumütiges Geständnis ablegte und sich bei den Beamten entschuldigte. Erschwerend war kein Umstand.

Mit Strafverfügung vom 15.02.2021, die seit 05.03.2021 rechtskräftig ist, wurde gegen den Beschwerdeführer wegen Verletzung einer Verwaltungsübertretung gemäß § 8 Abs. 2 COVID-19-Maßnahmengesetzt eine Geldstrafe von € 50,- verhängt. Der BF hat am 20.02.2021 ein Verkehrsmittel, ohne eine den Mund- und Nasenbereich abdeckende und eng anliegende mechanische Schutzvorrichtung getragen zu haben, benutzt.

Mit Strafverfügung vom 22.02.2021 wurde gegen den Beschwerdeführer wegen einer Verwaltungsübertretung gemäß § 81 Abs. 1 SPG und § 82 Abs. 1 SPG eine Gesamtgeldstrafe von € 400,- verhängt. Der BF hat am 20.02.2021 im öffentlichen Verkehrsmittel randaliert und dadurch die Busfahrt gestört, sodass diese Fahrt unterbrochen wurde. Der BF hat trotz Abmahnung Organe der öffentlichen Aufsicht angeschrien und mit seinen Händen bzw. Zeigefinger vor dem Gesicht der einschreitenden Beamten herumgestikuliert.

Vom BF geht keine Gefahr für die öffentliche Sicherheit oder Ordnung in Österreich aus.

1.2. Zu den Fluchtgründen des Beschwerdeführers:

Mit Bescheid vom 29.11.2004 erkannte das Bundesasylamt dem Beschwerdeführer Asyl zu.

Der Beschwerdeführer war nie Widerstandskämpfer während es ersten oder zweiten Tschetschenienkrieges. Er war aufgrund der Tätigkeit seines Bruders als Kämpfer gegen die russische Militärmacht in die Aufmerksamkeit der russischen Behörden geraten. Sein Haus wurde zerstört und aufgrund der Kämpfe waren sein Leben und das seiner Kinder und seiner Frau gefährdet.

Die Umstände, aufgrund deren der BF als Flüchtling anerkannt worden ist, bestehen nicht mehr. Die Umstände für die Zuerkennung von Asyl und Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft haben sich wesentlich geändert.

Dem Beschwerdeführer droht in der Russischen Föderation keine Verfolgung wegen seiner Religions- oder Volksgruppenzugehörigkeit, weder in der Teilrepublik Tschetschenien, noch in einem anderen Teil der Russischen Föderation.

Den Beschwerdeführern droht im Falle der Rückkehr in die Russische Föderation auch keine Verfolgung wegen seines Antrags auf internationalen Schutz in Österreich und/oder wegen seines mehrjährigen Aufenthalts außerhalb der Russische Föderation.

Dem Beschwerdeführer droht in der Russischen Föderation keine konkrete und individuelle physische und/oder psychische Gewalt. Er war weder von staatlicher Seite noch durch Privatpersonen auf Grund seiner Rasse, seiner Volksgruppen- und/oder Religionszugehörigkeit, politischer Tätigkeit oder Zugehörigkeit zu einer sonstigen Gruppe einer Verfolgung ausgesetzt noch droht ihm eine solche im Falle der Rückkehr.

Dem Beschwerdeführer droht im Falle der Rückkehr in die RUSSISCHE FÖDERATION weder von staatlicher Seite noch durch Privatpersonen Verfolgung wegen seines Antrags auf internationalen Schutz in Österreich oder wegen seines mehrjährigen Aufenthalts außerhalb der Russischen Föderation.

1.3. Zu einer möglichen Rückkehr des Beschwerdeführers in seinen Herkunftsstaat:

Dem Beschwerdeführer ist eine Rückkehr in die Russische Föderation nach XXXX oder in eine Metropole wie Moskau möglich und zumutbar.

Der Beschwerdeführer wird in keine existenzgefährdende Notlage geraten bzw. es würde ihm nicht die notdürftigste Lebensgrundlage entzogen werden. Er läuft nicht Gefahr, grundlegende und notwendige Lebensbedürfnisse wie Nahrung, Kleidung sowie Unterkunft nicht befriedigen zu können und in eine ausweglose Situation zu geraten. Außerdem kann er staatliche Leistungen in Anspruch nehmen, eine Arbeit annehmen, Unterkunft zu nehmen. Der BF würde auch durch seine Kinder unterstützt werden.

Der Beschwerdeführer ist mit den russischen und tschetschenischen Gepflogenheiten vertraut.

Im Falle einer Abschiebung in den Herkunftsstaat ist der Beschwerdeführer nicht in seinem Recht auf Leben gefährdet, der Folter oder unmenschlicher oder erniedrigender Strafe oder Behandlung unterworfen oder von der Todesstrafe bedroht.

Insbesondere besteht im Fall einer Überstellung in die Russische Föderation keine Gefahr, dass der Beschwerdeführer aufgrund seines Alkoholkonsums bzw. seines Gesundheitszustandes in einen lebensbedrohlichen Zustand gerät, bzw. sein Gesundheitszustand sich in einem lebensbedrohlichen Ausmaß verschlechtert. Der Beschwerdeführer leidet an keinen schweren physischen oder psychischen akut lebensbedrohlichen und zudem im Herkunftsstaat nicht behandelbaren Erkrankungen, die eine Rückkehr in die Russische Föderation unzulässig macht.

Weiters ist der BF nicht gefährdet an einer schweren Form des COVID-19 Virus zu erkranken oder gar den Tod zu erleiden. Er hat Zugang zu den medizinischen Einrichtungen in der Russischen Föderation. Die Lage der COVID-Neuinfizierten ist mit ca. 24.400 pro Tag und 753 Toten pro Tag angespannt, aber nicht so, dass der BF mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit den Tod erleiden würde. Er hat die Möglichkeit eine Impfung anzunehmen.

XXXX

1.5. Zur Situation in der Russischen Föderation:

Länderinformation der Staatendokumentation zur Russischen Föderation aus dem COI-CMS (Country of Origin Information-Content Management System) vom 10.06.2021:

1.5.1. Politische Lage

Die Russische Föderation hat ca. 143 Millionen Einwohner (GIZ 1.2021c; vgl. CIA 5.2.2021). Russland ist eine Präsidialdemokratie mit föderativem Staatsaufbau (GIZ 1.2021a; vgl. EASO 3.2017). Der Präsident verfügt über weitreichende exekutive Vollmachten, insbesondere in der Außen- und Sicherheitspolitik (GIZ 1.2021a; vgl. EASO 3.2017, AA 21.10.2020c). Er ernennt auf Vorschlag der Staatsduma den Vorsitzenden der Regierung, die stellvertretenden Vorsitzenden und die Minister, und entlässt sie (GIZ 1.2021a). Wladimir Putin ist im März 2018 bei der Präsidentschaftswahl mit 76,7% im Amt bestätigt worden (Standard.at 19.3.2018; vgl. FH 4.3.2020). Die Wahlbeteiligung lag der russischen Nachrichtenagentur TASS zufolge bei knapp 67% und erfüllte damit nicht ganz die Erwartungen der Präsidialadministration (Standard.at 19.3.2018). Putins wohl stärkster Widersacher Alexej Nawalny durfte nicht bei der Wahl kandidieren. Er war zuvor in einem von vielen als politisch motiviert eingestuften Prozess verurteilt worden und rief daraufhin zum Boykott der Abstimmung auf, um die Wahlbeteiligung zu drücken (Presse.at 19.3.2018; vgl. FH 3.3.2021). Oppositionelle Politiker und die Wahlbeobachtergruppe Golos hatten mehr als 2.400 Verstöße gezählt, darunter mehrfach abgegebene Stimmen und die Behinderung von Wahlbeobachtern. Wähler waren demnach auch massiv unter Druck gesetzt worden, an der Wahl teilzunehmen. Auch die Wahlkommission wies auf mutmaßliche Manipulationen hin (Tagesschau.de 19.3.2018). Wahlbetrug ist weit verbreitet, was insbesondere im Nordkaukasus deutlich wird (BTI 2020). Präsident Putin kann dem Ergebnis zufolge nach vielen Jahren an der Staatsspitze weitere sechs Jahre das Land führen (Tagesschau.de 19.3.2018; vgl. OSCE/ODIHR 18.3.2018).

Die Verfassung wurde per Referendum am 12.12.1993 mit 58% der Stimmen angenommen. Sie garantiert die Menschen- und Bürgerrechte. Das Prinzip der Gewaltenteilung ist zwar in der Verfassung verankert, jedoch verfügt der Präsident über eine Machtfülle, die ihn weitgehend unabhängig regieren lässt. Er ist Oberbefehlshaber der Streitkräfte, trägt die Verantwortung für die Innen- und Außenpolitik und kann die Gesetzesentwürfe des Parlaments blockieren. Die Regierung ist dem Präsidenten untergeordnet, der den Premierminister mit Zustimmung der Staatsduma ernennt. Das Zweikammerparlament, bestehend aus Staatsduma und Föderationsrat, ist in seinem Einfluss stark beschränkt. Am 15. Januar 2020 hat Putin in seiner jährlichen Rede zur Lage der Nation eine Neuordnung des politischen Systems vorgeschlagen und eine Reihe von Verfassungsänderungen angekündigt. Dmitri Medwedjew hat den Rücktritt seiner Regierung erklärt. Sein Nachfolger ist der Leiter der russischen Steuerbehörde Michail Mischustin. In dem neuen Kabinett sind 15 von 31 Regierungsmitgliedern ausgewechselt worden (GIZ 1.2021a). Die Verfassungsänderungen ermöglichen Wladimir Putin, für zwei weitere Amtszeiten als Präsident zu kandidieren (GIZ 1.2021a; vgl. FH 3.3.2021), dies gilt aber nicht für weitere Präsidenten (FH 3.3.2021). Die Volksabstimmung über eine umfassend geänderte Verfassung fand am 1. Juli 2020 statt, nachdem sie aufgrund der Corona-Pandemie verschoben worden war. Bei einer Wahlbeteiligung von ca. 65% der Stimmberechtigten stimmten laut russischer Wahlkommission knapp 78% für und mehr als 21% gegen die Verfassungsänderungen. Neben der sogenannten Nullsetzung der bisherigen Amtszeiten des Präsidenten, durch die der amtierende Präsident 2024 und theoretisch auch 2030 zwei weitere Male kandidieren darf, wird das staatliche Selbstverständnis der Russischen Föderation in vielen Bereichen neu definiert. Der neue Verfassungstext beinhaltet deutlich sozialere und konservativere Inhalte als die Ursprungsverfassung aus dem Jahre 1993 (GIZ 1.2021a). Nach dem Referendum kam es zu Protesten von einigen hundert Personen in Moskau. Bei dieser nicht genehmigten Demonstration wurden 140 Personen festgenommen. Auch in St. Petersburg gab es Proteste (MDR 16.7.2020).

Der Föderationsrat ist als 'obere Parlamentskammer' das Verfassungsorgan, das die Föderationssubjekte auf föderaler Ebene vertritt. Er besteht aus 178 Abgeordneten (GIZ 1.2021a): Jedes Föderationssubjekt entsendet je einen Vertreter aus Exekutive und Legislative in den Föderationsrat. Die Staatsduma mit 450 Sitzen wird für fünf Jahre gewählt (GIZ 1.2021a; vgl. AA 21.10.2021c). Es gibt eine Fünfprozentklausel (GIZ 1.2021a).

Zu den wichtigen Parteien der Russischen Föderation gehören: die Regierungspartei Einiges Russland (Jedinaja Rossija) mit 1,9 Millionen Mitgliedern; Gerechtes Russland (Sprawedliwaja Rossija) mit 400.000 Mitgliedern; die Kommunistische Partei der Russischen Föderation (KPRF) mit 150.000 Mitgliedern, welche die Nachfolgepartei der früheren KP ist; die Liberaldemokratische Partei (LDPR) mit 185.000 Mitgliedern, die populistisch und nationalistisch ausgerichtet ist; die Wachstumspartei (Partija Rosta), die sich zum Neoliberalismus bekennt; Jabloko, eine demokratisch-liberale Partei mit 55.000 Mitgliedern; die Patrioten Russlands (Patrioty Rossii), links-zentristisch mit 85.000 Mitgliedern und die Partei der Volksfreiheit (PARNAS), eine demokratisch-liberale Partei mit 58.000 Mitgliedern (GIZ 1.2021a). Die Zusammensetzung der Staatsduma nach Parteimitgliedschaft gliedert sich wie folgt: Einiges Russland (343 Sitze), Kommunistische Partei Russlands (42 Sitze), Liberaldemokratische Partei Russlands (39 Sitze), Gerechtes Russland (23 Sitze), Vaterland-Partei (1 Sitz), Bürgerplattform (1 Sitz) (RIA Nowosti 23.9.2016; vgl. Global Security 21.9.2016, FH 3.3.2021). Die sogenannte Systemopposition stellt die etablierten Machtverhältnisse nicht in Frage und übt nur moderate Kritik am Kreml (SWP 11.2018). Die nächste Duma-Wahl steht im Herbst 2021 an (Standard.at 1.1.2021).

Russland ist eine Föderation, die aus 85 Föderationssubjekten (einschließlich der international nicht anerkannten Annexion der Republik Krim und der Stadt föderalen Ranges Sewastopol) mit unterschiedlichem Autonomiegrad besteht. Die Föderationssubjekte (Republiken, Autonome Gebiete, Autonome Kreise, Gebiete, Regionen und Föderale Städte) verfügen über jeweils eine eigene Legislative und Exekutive (GIZ 1.2021a; vgl. AA 21.10.2020c). Die Gouverneure der Föderationssubjekte werden auf Vorschlag der jeweils stärksten Fraktion der regionalen Parlamente vom Staatspräsidenten ernannt. Dabei wählt der Präsident aus einer Liste dreier vorgeschlagener Kandidaten den Gouverneur aus (GIZ 1.2021a).

Es gibt acht Föderationskreise (Nordwestrussland, Zentralrussland, Südrussland, Nordkaukasus, Wolga, Ural, Sibirien, Ferner Osten), denen jeweils ein Bevollmächtigter des Präsidenten vorsteht. Der Staatsrat der Gouverneure tagt unter Leitung des Präsidenten und gibt der Exekutive Empfehlungen zu aktuellen politischen Fragen und zu Gesetzesprojekten. Nach der Eingliederung der Republik Krim und der Stadt Sewastopol in die Russische Föderation wurde am 21.3.2014 der neunte Föderationskreis Krim gegründet. Die konsequente Rezentralisierung der Staatsverwaltung führt seit 2000 zu politischer und wirtschaftlicher Abhängigkeit der Regionen vom Zentrum. Diese Tendenzen wurden bei der Abschaffung der Direktwahl der Gouverneure in den Regionen und der erneuten Unterordnung der regionalen und kommunalen Machtorgane unter das föderale Zentrum („exekutive Machtvertikale“) deutlich (GIZ 1.2021a).

Bei den in einigen Regionen stattgefundenen Regionalwahlen am 8.9.2019 hat die Regierungspartei Einiges Russland laut Angaben der Wahlleitung in den meisten Regionen ihre Mehrheit verteidigt. Im umkämpften Moskauer Stadtrat verlor sie allerdings viele Mandate (Zeit Online 9.9.2019). Hier stellt die Partei nur noch 25 von 45 Vertretern, zuvor waren es 38. Die Kommunisten, die bisher fünf Stadträte stellten, bekommen 13 Sitze. Die liberale Jabloko-Partei bekommt vier und die linksgerichtete Partei Gerechtes Russland drei Sitze (ORF 18.9.2019). Die beiden letzten Parteien waren bisher nicht im Moskauer Stadtrat vertreten. Zuvor sind zahlreiche Oppositionskandidaten von der Wahl ausgeschlossen worden, was zu den größten Protesten seit Jahren geführt hat (Zeit Online 9.9.2019), bei denen mehr als 1.000 Demonstranten festgenommen wurden (Kleine Zeitung 28.7.2019). Viele von den Oppositionskandidaten haben zu einer 'smarten Abstimmung' aufgerufen. Die Bürgersollten Jeden wählen – nur nicht die Kandidaten der Regierungspartei. Bei den für die russische Regierung besonders wichtigen Gouverneurswahlen gewannen die Kandidaten der Regierungspartei überall (Zeit Online 9.9.2019).

Neben den bis Juli 2021 verlängerten wirtschaftlichen Sanktionen wegen des andauernden Ukraine-Konfliktes (Presse.com 10.12.2020) haben sich die EU-Außenminister wegen der Inhaftierung des Kremlkritikers Alexej Nawalny auf neue Russland-Sanktionen geeinigt. Die Strafmaßnahmen umfassen Vermögenssperren und EU-Einreiseverbote gegen Verantwortliche für die Inhaftierung Nawalnys (Cicero 22.2.2021).

Tschetschenien

Die Einwohnerzahl Tschetscheniens liegt bei ca. 1,5 Millionen. Laut Aussagen des Republikoberhauptes Ramsan Kadyrow sollen rund 600.000 Tschetschenen außerhalb der Region leben – die Hälfte davon in der Russischen Föderation, die andere Hälfte im Ausland. Experten zufolge hat ein Teil von ihnenTschetschenien während der Kriege nach dem Zerfall der Sowjetunion verlassen, beim anderen Teil handelt es sich um Siedlungsgebiete außerhalb Tschetscheniens. Diese entstanden bereits vor über einem Jahrhundert, teilweise durch Migration aus dem Russischen in das Osmanische Reich, und zwar über Anatolien bis in den arabischen Raum. Was die Anzahl von Tschetschenen in anderen russischen Landesteilen anbelangt, so ist es aufgrund der öffentlichen Datenlage schwierig, verlässliche Aussagen zu treffen (ÖB Moskau 6.2020).

In Tschetschenien gilt Ramsan Kadyrow als Garant Moskaus für Stabilität. Mit Duldung der russischen Staatsführung hat er in der Republik ein autoritäres Herrschaftssystem geschaffen, das vollkommen auf seine eigene Person ausgerichtet ist und weitgehend außerhalb des föderalen Rechtsrahmens funktioniert (ÖB Moskau 6.2020; vgl. AA 2.2.2021, FH 3.3.2021). Fraglich bleibt auch die föderale Kontrolle über die tschetschenischen Sicherheitskräfte, deren faktische Loyalität vorrangig dem Oberhaupt der Republik gilt. Ramsan Kadyrow wurde bei den Wahlen vom 18. September 2016 laut offiziellen Angaben bei hoher Wahlbeteiligung mit überwältigender Mehrheit für eine weitere Amtszeit von fünf Jahren gewählt. Unabhängige Medien berichteten über Unregelmäßigkeiten bei den Wahlen, in deren Vorfeld Human Rights Watch über massive Druckausübung auf Kritiker des derzeitigen Machthabers berichtet hatte. Das tschetschenische Oberhaupt bekundet immer wieder seine absolute Loyalität gegenüber dem Kreml (ÖB Moskau 6.2020). In Tschetschenien regiert Kadyrow unangefochten autoritär. Gegen vermeintliche Extremisten und deren Angehörige, aber auch gegen politische Gegner, wird rigoros vorgegangen (ÖB Moskau 6.2020; vgl. AA 2.2.2021). Um die Kontrolle über die Republik zu behalten, wendet Kadyrow unterschiedliche Formen von Gewalt an, wie z.B. Entführungen, Folter und außergerichtliche Tötungen (FH 3.3.2021; vgl. AA 2.2.2021). Dies kann manchmal auch außerhalb Russlands stattfinden. Kadyrow wird verdächtigt, die Ermordung von unliebsamen Personen, die ins Ausland geflohen sind, angeordnet zu haben (FH 3.3.2021).

Während der mittlerweile über zehn Jahre andauernden Herrschaft des amtierenden Republikführers Ramsan Kadyrow gestaltete sich Tschetscheniens Verhältnis zur Russischen Föderation ambivalent. Einerseits ist Kadyrow bemüht, die Zugehörigkeit der Republik zu Russland mit Nachdruck zu bekunden, tschetschenischen Nationalismus mit russischem Patriotismus zu verbinden, Russlands Präsidenten in der tschetschenischen Hauptstadt Grosny als Staatsikone auszustellen und sich als „Fußsoldat Putins“ zu präsentieren. Andererseits hat er das Föderationssubjekt Tschetschenien so weit in einen Privatstaat verwandelt, dass in der Umgebung des russischen Präsidenten die Frage gestellt wird, inwieweit sich die von Wladimir Putin ausgebaute 'föderale Machtvertikale' dorthin erstreckt. Zu Kadyrows Eigenmächtigkeit gehört auch eine Außenpolitik, die sich vor allem an den Mittleren Osten und die gesamte islamische Welt richtet. Kein anderer regionaler Führer beansprucht eine vergleichbare, über sein eigenes Verwaltungsgebiet und die Grenzen Russlands hinausreichende Rolle. Kadyrow inszeniert Tschetschenien als Anwalt eines russischen Vielvölker-Zusammenhalts, ist aber längst zum 'inneren Ausland' Russlands geworden. Deutlichster Ausdruck dieser Entwicklung ist ein eigener Rechtszustand, in dem islamische und gewohnheitsrechtliche Regelungssysteme sowie die Willkür des Republikführers in Widerspruch zur Gesetzgebung Russlands geraten (SWP 3.2018).

Ein Abkommen von September 2018 über die Abtretung von umstrittenem Territorium von Inguschetien an Tschetschenien hatte politische Unruhen in Inguschetien zur Folge (ÖB Moskau 12.2019). Der Konflikt um die Grenzziehung flammt immer wieder auf. Im März 2019 wurden Proteste in Inguschetien gewaltsam aufgelöst, wobei manche Teilnehmer körperlich gegen die Polizei Widerstand leisteten. 33 Personen wurden festgenommen (HRW 14.1.2020). Die Proteste hatten außerdem den Rücktritt des inguschetischen Präsidenten Junus-bek Jewkurow im Juni 2019 zur Folge (ÖB Moskau 12.2019). Jewkurows Nachfolger ist Machmud-Ali Kalimatow (NZZ 29.6.2019).

1.5.2. Sicherheitslage

Wie verschiedene Anschläge mit zahlreichen Todesopfern in den letzten Jahren gezeigt haben, kann es in Russland, auch außerhalb der Kaukasus-Region, zu Anschlägen kommen (AA 7.4.2021a; vgl. GIZ 1.2021d, EDA 7.4.2021). Die russischen Behörden halten ihre Warnung vor Anschlägen aufrecht und rufen weiterhin zu besonderer Vorsicht auf (AA 7.4.2021a; vgl. EDA 7.4.2021). Trotz verschärfter Sicherheitsmaßnahmen kann das Risiko von Terrorakten nicht ausgeschlossen werden. Die russischen Sicherheitsbehörden weisen vor allem auf eine erhöhte Gefährdung durch Anschläge gegen öffentliche Einrichtungen und größere Menschenansammlungen hin (Untergrundbahn, Bahnhöfe und Züge, Flughäfen etc.) (EDA 7.4.2021).

Russland tritt als Protagonist internationaler Terrorismusbekämpfung auf und begründet damit seinen Militäreinsatz in Syrien. Vom Beginn des zweiten Tschetschenienkriegs 1999 bis ins Jahr 2013 sah es sich mit 75 größeren Terroranschlägen auf seinem Staatsgebiet konfrontiert, die Hunderte Zivilisten das Leben kosteten. Verantwortlich dafür war eine über Tschetschenien hinausgehende Aufstandsbewegung im Nordkaukasus. Die gewaltsamen Zwischenfälle am Südrand der Russischen Föderation gingen 2014 um 46% und 2015 um weitere 51% zurück. Auch im Global Terrorism Index, der die Einwirkung des Terrorismus je nach Land misst, spiegelt sich diese Entwicklung wider. Nach der Militärintervention in Syrien Ende September 2015 erklärte der sogenannte Islamische Staat (IS) Russland den Dschihad und übernahm die Verantwortung für den Abschuss eines russischen Passagierflugzeugs über dem ägyptischen Sinai mit 224 Todesopfern (SWP 4.2017). Seitdem war der Kampf gegen die Terrormiliz zu einer Parole russischer Außen- und Sicherheitspolitik geworden, auch wenn der russische Militäreinsatz in Syrien gewiss nicht nur von diesem Ziel bestimmt ist, sondern die Großmachtrolle Russlands im Mittleren Osten stärken sollte (SWP 4.2017; vgl. Deutschlandfunk 29.9.2020). Der Einsatz in Syrien ist der größte und längste Auslandseinsatz des russischen Militärs seit dem Zusammenbruch der Sowjetunion. Zunächst sollten nur die Luftstreitkräfte die syrische Armee unterstützen. Bodentruppen wurden erst später und in geringerem Maße mobilisiert - in Form von Spezialeinheiten und schließlich am Ende des Feldzugs als Militärpolizei. Es gab auch Berichte über den Einsatz privater paramilitärischer Strukturen (DW 29.9.2020). Hier ist vor allem die 'Gruppe Wagner' zu nennen. Es handelt sich hierbei um einen privaten russischen Sicherheitsdienstleister, der nicht nur in Syrien, sondern auch in der Ukraine und in Afrika im Einsatz ist. Mithilfe solcher privaten Sicherheitsdienstleister lässt sich die Zahl von Verlusten des regulären russischen Militärs gering halten (BPB 8.2.2021), und der teure Einsatz sorgt dadurch in der russischen Bevölkerung kaum für Unmut (DW 29.9.2020).

In den letzten Jahren rückte eine weitere Tätergruppe in Russland ins Zentrum der Medienaufmerksamkeit, nämlich Islamisten aus Zentralasien. Die Zahl der Zentralasiaten, die beim sog. IS kämpften, wurde auf einige Tausend geschätzt (Deutschlandfunk 28.6.2017). Erst im Oktober 2020 wurden bei Spezialoperationen zentralasiatische Dschihadisten in Südrussland getötet und weitere in Moskau und St. Petersburg festgenommen (SN 15.10.2020).

Nordkaukasus

Die Sicherheitslage im Nordkaukasus hat sich verbessert, wenngleich das nicht mit einer nachhaltigen Stabilisierung gleichzusetzen ist (ÖB Moskau 6.2020; vgl. AA 2.2.2021). In internationalen sicherheitspolitischen Quellen wird die Lage im Nordkaukasus mit dem Begriff 'low level insurgency' umschrieben (SWP 4.2017).

Ein Risikomoment für die Stabilität in der Region ist die Verbreitung des radikalen Islamismus. Innerhalb der extremistischen Gruppierungen verschoben sich etwa ab 2014 die Sympathien zur regionalen Zweigstelle des sogenannten Islamischen Staates (IS), der mittlerweile das Kaukasus-Emirat praktisch vollständig verdrängt hat. Dabei sorgen nicht nur Propaganda und Rekrutierung des sogenannten IS im Nordkaukasus für Besorgnis der Sicherheitskräfte. So wurden Mitte Dezember 2017 im Nordkaukasus mehrere Kämpfer getötet, die laut Angaben des Anti-Terrorismuskomitees dem sogenannten IS zuzurechnen waren. Das rigide Vorgehen der Sicherheitskräfte, aber auch die Abwanderung islamistischer Kämpfer in die Kampfgebiete in Syrien und in den Irak, haben dazu geführt, dass die Gewalt im Nordkaukasus in den vergangenen Jahren deutlich zurückgegangen ist. 2018 wurde laut dem Inlandsgeheimdienst FSB die Anzahl terroristisch motivierter Verbrechen mehr als halbiert. Auch 2019 nahm die Anzahl bewaffneter Vorfälle im Vergleich zum Vorjahr weiter ab. Jedoch stellt ein Sicherheitsrisiko für Russland die Rückkehr terroristischer Kämpfer nordkaukasischer Provenienz aus Syrien und dem Irak dar. Laut diversen staatlichen und nicht-staatlichen Quellen ist davon auszugehen, dass die Präsenz militanter Kämpfer aus Russland in den Krisengebieten Syrien und Irak mehrere Tausend Personen umfasste. Gegen IS-Kämpfer, die aus den Krisengebieten im Nahen Osten nach Russland zurückkehren, wird gerichtlich vorgegangen (ÖB Moskau 6.2020).

Als Epizentrum der Gewalt im Kaukasus galt lange Zeit Tschetschenien. Die Republik ist in der Topographie des bewaffneten Aufstands mittlerweile aber zurückgetreten; angeblich sind dort nur noch kleinere Kampfverbände aktiv. Dafür kämpften Tschetschenen in zunehmender Zahl an unterschiedlichen Fronten außerhalb ihrer Heimat – etwa in der Ostukraine sowohl aufseiten pro-russischer Separatisten als auch auf der ukrainischen Gegenseite sowie in Syrien und im Irak (SWP 4.2015). In Tschetschenien konnte der Kriegszustand überwunden und ein Wiederaufbau eingeleitet werden. In einem Prozess der 'Tschetschenisierung' wurde die Aufstandsbekämpfung im zweiten Tschetschenienkrieg an lokale Sicherheitskräfte delegiert, die sogenannten Kadyrowzy. Diese auf den ersten Blick erfolgreiche Strategie steht aber kaum für eine nachhaltige Befriedung (SWP 4.2017).

Die russische Teilrepublik Dagestan im Nordkaukasus gilt seit einigen Jahren als Brutstätte von Terrorismus. Mehr als 1.000 Kämpfer aus dem Land sollen sich dem sog. Islamischen Staat in Syrien und im Irak angeschlossen haben. Terroristen aus Dagestan sind auch in anderen Teilen Russlands und im Ausland aktiv. Viele Radikale aus Dagestan sind außerdem in den Nahen Osten ausgereist. In den Jahren 2013 und 2014 brachen ganze salafistische Familien dorthin auf. Die russischen Behörden halfen den Radikalen damals sogar bei der Ausreise. Vor den Olympischen Spielen in Sotschi wollte Russland möglichst viele Gefährder loswerden (Deutschlandfunk 28.6.2017). Den russischen Sicherheitskräften werden schwere Menschenrechtsverletzungen bei der Durchführung der Anti-Terror-Operationen in Dagestan vorgeworfen. Das teils brutale Vorgehen der Sicherheitsdienste, gekoppelt mit der noch immer instabilen sozialwirtschaftlichen Lage in Dagestan, schafft wiederum weiteren Nährboden für die Radikalisierung innerhalb der dortigen Bevölkerung (ÖB Moskau 6.2020). Laut dem Leiter des dagestanischen Innenministeriums gab es bei der Bekämpfung des Aufstands in Dagestan einen Durchbruch. Die Aktivitäten der Gruppen, die in der Republik aktiv waren, sind seinen Angaben zufolge praktisch komplett unterbunden worden. Nach acht Mitgliedern des Untergrunds, die sich Berichten zufolge im Ausland verstecken, wird gefahndet. Trotzdem besteht laut Analysten und Journalisten weiterhin die Möglichkeit von Anschlägen durch einzelne Täter (ACCORD 13.1.2020).

[Anmerkung Staatendokumentation:] Bitte vergleichen Sie hierzu auch alle Kapitel zur Allgemeinen Menschenrechtslage (einschließlich der Kapitel zu Tschetschenien, Dagestan und Dschihadistische Kämpfer und ihre Unterstützer, Kämpfer des ersten und zweiten Tschetschenien-Krieges, Kritiker allgemein).

Im Jahr 2020 liegt die Gesamtopferzahl des Konfliktes im gesamten Nordkaukasus [Anm.: durch Addieren aller verfügbaren Quartals- und Monatsberichte von Caucasian Knot] bei 56 Personen, davon wurden 45 getötet und 11 verwundet. 42 der Getöteten gehören bewaffneten Gruppierungen an, alle anderen Getöteten und Verwundeten sind den Exekutivkräften zuzurechnen. In Tschetschenien sind im Jahr 2020 insgesamt 18 Personen getötet und zwei verwundet worden. 15 der Getöteten gehören bewaffneten Gruppierungen an, alle anderen Getöteten und Verwundeten sind den Exekutivkräften zuzurechnen. In Dagestan sind im Jahr 2020 insgesamt neun Personen getötet und eine verwundet worden. Alle Getöteten gehören bewaffneten Gruppierungen an, die verwundete Person ist den Exekutivkräften zuzurechnen. Drei Getötete gab es in Kabardino-Balkarien und einen Getöteten in Inguschetien (Caucasian Knot 2.7.2020a, Caucasian Knot 2.7.2020b, Caucasian Knot 27.10.2020, Caucasian Knot 24.12.2020, Caucasian Knot 20.2.2021).

1.5.3. Rechtsschutz / Justizwesen

Es gibt in der Russischen Föderation Gerichte für Verfassungs-, Zivil-, Verwaltungs- und Strafrecht. Es gibt den Verfassungsgerichtshof, den Obersten Gerichtshof, föderale Gerichtshöfe und die Staatsanwaltschaft. Die Staatsanwaltschaft ist verantwortlich für Strafverfolgung und hat die Aufsicht über die Rechtmäßigkeit der Handlungen von Regierungsbeamten. Strafrechtliche Ermittlungen werden vom Ermittlungskomitee geleitet (EASO 3.2017). Die russischen Gerichte sind laut Verfassung unabhängig, allerdings kritisieren sowohl internationale Gremien (EGMR – Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte, EuR – Europäischer Rat) als auch nationale Organisationen (Ombudsperson, Menschenrechtsrat) regelmäßig Missstände im russischen Justizwesen. Einerseits kommt es immer wieder zu politischen Einflussnahmen auf Prozesse, andererseits beklagen viele Bürger die schleppende Umsetzung von Urteilen bei zivilrechtlichen Prozessen (ÖB Moskau 6.2020). Der Judikative mangelt es auch an Unabhängigkeit von der Exekutive, und berufliches Weiterkommen in diesem Bereich ist an die Einhaltung der Präferenzen des Kremls gebunden (FH 3.3.2021). Auch Korruption ist im Justizsystem ein Problem (EASO 3.2017, BTI 2020)

Das russische Justizsystem ist institutionell abhängig von den Untersuchungsbeamten, die häufig die Urteile bestimmen. Politisch wichtige Fälle werden vom Kreml überwacht, und Richter haben nicht genug Autonomie, um den Ausgang zu bestimmen (ÖB Moskau 6.2020). Die Personalkommission des Präsidenten und die Vorsitzenden des Gerichts kontrollieren die Ernennung und Wiederernennung der Richter des Landes, die eher aus dem Justizsystem befördert werden, als unabhängige Erfahrungen als Anwälte zu sammeln. Änderungen der Verfassung, die im Jahr 2020 verabschiedet wurden, geben dem Präsidenten die Befugnis, mit Unterstützung des Föderationsrates, Richter am Verfassungsgericht und am Obersten Gerichtshof zu entfernen, was die ohnehin mangelnde Unabhängigkeit der Justiz weiter schädigt (FH 3.3.2021).

In Strafprozessen kommt es nur sehr selten zu Freisprüchen der Angeklagten. Am 1. Oktober 2019 trat eine Reform des russischen Gerichtswesens in Kraft, mit der eigene Gerichte für Berufungs-und Kassationsverfahren geschaffen wurden sowie die Möglichkeit von Sammelklagen eingeführt wurde. Wenngleich diese Reformen ein Schritt in die richtige Richtung sind, bleiben grundlegende Mängel des russischen Gerichtswesens bestehen (z.B. de facto „Schuldvermutung“ im Strafverfahren, informelle Einflussnahme auf die Richter etc.). Laut einer Umfrage des Lewada-Zentrums über das Vertrauen der Bevölkerung in die staatlichen Institutionen von Ende 2018, rangieren die Gerichte, die Staatsanwaltschaft und die Polizei eher im unteren Bereich. 33% der Befragten zweifeln daran, dass man den Gerichten vertrauen kann, 25% sind überzeugt, dass die Gerichte das Vertrauen der Bevölkerung nicht verdienen, und nur 28% geben an, ihnen zu vertrauen. Der Kampf der Justiz gegen Korruption steht mitunter im Verdacht einer Instrumentalisierung aus wirtschaftlichen bzw. politischen Gründen (ÖB Moskau 6.2020).

2010 ratifizierte Russland das 14. Zusatzprotokoll der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK), das Änderungen im Individualbeschwerdeverfahren vorsieht. Das 6. Zusatzprotokoll über die Abschaffung der Todesstrafe ist zwar unterschrieben, wurde jedoch nicht ratifiziert. Der russische Verfassungsgerichtshof (VfGH) hat jedoch das Moratorium über die Todesstrafe im Jahr 2009 bis zur Ratifikation des Protokolls verlängert, sodass die Todesstrafe de facto abgeschafft ist. Auch das Römer Statut des Internationalen Strafgerichtshofs wurde von Russland nicht ratifiziert. Spannungsgeladen ist das Verhältnis der russischen Justiz zu den Urteilen des EGMR. Moskau sieht im EGMR ein politisiertes Organ, das zur Untergrabung der Souveränität Russlands missbraucht werde (ÖB Moskau 6.2020). Im Juli 2015 stellte der russische Verfassungsgerichtshof klar, dass bei einer der russischen Verfassung widersprechenden Konventionsauslegung seitens des EGMR das russische Rechtssystem aufgrund der Vorrangstellung des Grundgesetzes gezwungen sein wird, auf die buchstäbliche Befolgung der Entscheidung des Straßburger Gerichtes zu verzichten. Diese Position des Verfassungsgerichtshofs wurde im Dezember 2015 durch ein Föderales Gesetz unterstützt (ÖB Moskau 6.2020; vgl. AA 2.2.2021, USDOS 11.3.2020). Im Juli 2020 wurde diese Rechtsposition auch in der Verfassung verankert und dem russischen Verfassungsgerichtshof das Recht eingeräumt, Urteile zwischenstaatlicher Organe nicht umzusetzen, wenn diese in ihrer Auslegung der Bestimmungen zwischenstaatlicher Verträge nicht mit der russischen Verfassung im Einklang stehen (ÖB Moskau 6.2020; vgl. AA 2.2.2021). Die Venedig-Kommission des Europarates gab eine Stellungnahme zu den damaligen Entwürfen für Verfassungsänderungen ab. Die Kommission bekräftigte ihre Ansicht, dass die Befugnis des Verfassungsgerichts, ein Urteil des EGMR für nicht vollstreckbar zu erklären, den Verpflichtungen Russlands aus der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) widerspricht (HRW 13.1.2021). Mit Ende 2019 waren beim EGMR 15.050 Anträge aus Russland anhängig. Im Jahr 2019 wurde die Russische Föderation in 186 Fällen wegen Verletzungen der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) verurteilt. Besonders zahlreich sind Konventionsverstöße gegen das Recht auf Freiheit und Sicherheit, das Recht auf ein faires Verfahren und wegen unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung (ÖB Moskau 6.2020).

Am 10.2.2017 fällte das Verfassungsgericht eine Entscheidung zu Artikel 212.1 des Strafgesetzbuchs, der wiederholte Verstöße gegen das Versammlungsrecht als Straftat definiert. Die Richter entschieden, die Abhaltung einer nicht genehmigten friedlichen Versammlung allein stelle noch keine Straftat dar. Am 22.2.2017 überprüfte das Oberste Gericht das Urteil gegen den Aktivisten Ildar Dadin, der wegen seiner friedlichen Proteste eine Freiheitsstrafe auf Grundlage von Artikel 212.1. erhalten hatte, und ordnete seine Freilassung an. Im Juli 2017 trat eine neue Bestimmung in Kraft, wonach die Behörden Personen die russische Staatsbürgerschaft aberkennen können, wenn sie diese mit der „Absicht“ angenommen haben, die 'Grundlagen der verfassungsmäßigen Ordnung des Landes anzugreifen'. NGOs kritisierten den Wortlaut des Gesetzes, der nach ihrer Ansicht Spielraum für willkürliche Auslegungen bietet (AI 22.2.2018). Bei den Protesten im Zuge der Kommunal- und Regionalwahlen in Moskau im Juli und August 2019, bei denen mehr als 2.600 Menschen festgenommen wurden, wurde teils auf diesen Artikel (212.1) zurückgegriffen (AI 16.4.2020).

Die Strafverfolgungs- oder Strafzumessungspraxis unterscheidet nicht nach Merkmalen wie ethnischer Zugehörigkeit, Religion oder Nationalität. Es gibt jedoch Hinweise auf selektive Strafverfolgung, die auch sachfremd, etwa aus politischen Gründen oder wirtschaftlichen Interessen, motiviert sein kann (AA 2.2.2021).

Repressionen Dritter, die sich gezielt gegen bestimmte Personen oder Personengruppen wegen ihrer ethnischen Zugehörigkeit, Religion, Nationalität oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe richten, äußern sich hauptsächlich in homophoben, fremdenfeindlichen oder antisemitischen Straftaten, die vonseiten des Staates nur in einer Minderheit der Fälle zufriedenstellend verfolgt und aufgeklärt werden (AA 2.2.2021).

Tschetschenien und Dagestan

Das russische föderale Recht gilt für die gesamte Russische Föderation, einschließlich Tschetscheniens und Dagestans. Neben dem russischen föderalen Recht spielen sowohl Adat als auch Scharia eine wichtige Rolle in Tschetschenien. Republiksoberhaupt Ramsan Kadyrow unterstreicht die Bedeutung, die der Einhaltung des russischen Rechts zukommt, verweist zugleich aber auch auf den Stellenwert des Islams und der tschetschenischen Tradition (EASO 9.2014).

Das Adat ist eine Art Gewohnheitsrecht, das soziale Normen und Regeln festschreibt. Dem Adat-Recht kommt in Zusammenhang mit der tschetschenischen Lebensweise eine maßgebliche Rolle zu. Allgemein gilt, dass das Adat für alle Tschetschenen gilt, unabhängig von ihrer Clanzugehörigkeit. Das Adat deckt nahezu alle gesellschaftlichen Verhältnisse in Tschetschenien ab und regelt die Beziehungen zwischen den Menschen. Im Laufe der Jahrhunderte wurden diese Alltagsregeln von einer Generation an die nächste weitergegeben. Das Adat ist in Tschetschenien in Ermangelung einer Zentralregierung bzw. einer funktionierenden Gesetzgebung erstarkt. Daher dient das Adat als Rahmen für die gesellschaftlichen Beziehungen. In der tschetschenischen Gesellschaft ist jedoch auch die Scharia von Bedeutung. Die meisten Tschetschenen sind sunnitische Muslime und gehören der sufistischen Glaubensrichtung des sunnitischen Islams an [Anm. d. Staatendokumentation: für Informationen bezüglich Sufismus vgl.: ÖIF Monographien (2013): Glaubensrichtungen im Islam]. Der Sufismus enthält unter anderem auch Elemente der Mystik. Eine sehr kleine Minderheit der Tschetschenen sind Salafisten (EASO 9.2014). Die Scharia-Gerichtsbarkeit bildet am Südrand der Russischen Föderation eine Art „alternative Justiz“. Sie steht zwar in Widerspruch zur Gesetzgebung Russlands, wird aber, mit Einverständnis der involvierten Parteien, für die Rechtsprechung auf lokaler Ebene eingesetzt (SWP 4.2015). Tendenzen zur verstärkten Verwendung von Scharia-Recht haben in den letzten Jahren zugenommen. Somit herrscht in Tschetschenien ein Rechtspluralismus aus russischem Recht, traditionellen Gewohnheitsrecht (Adat), einschließlich der Tradition der Blutrache, und Scharia-Recht. Hinzu kommt ein Geflecht an Loyalitäten, das den Einzelnen bindet. Nach Ansicht von Kadyrow stehen Scharia und traditionelle Werte über den russischen Gesetzen (AA 2.2.2021). Somit bewegt sich die Republik Tschetschenien in Wirklichkeit außerhalb der Gerichtsbarkeit des russischen Rechtssystems, auch wenn sie theoretisch darunter fällt. Dies legt den Schluss nahe, dass sowohl Scharia als auch Adat zur Anwendung kommen und es unterschiedliche Auffassungen bezüglich der Frage gibt, welches der beiden Rechtssysteme einen stärkeren Einfluss auf die Gesellschaft ausübt. Formal gesehen hat das russische föderale Recht Vorrang vor Adat und Scharia (EASO 9.2014). Die Einwohner Tschetscheniens sagen jedoch, dass das fundamentale Gesetz in Tschetschenien 'Ramsan sagt' lautet, was bedeutet, dass Kadyrows gesprochene Aussagen einflussreicher sind als die Rechtssysteme und ihnen möglicherweise sogar widersprechen (CSIS 1.2020).

Die Tradition der Blutrache hat sich im Nordkaukasus in den Clans zur Verteidigung von Ehre, Würde und Eigentum entwickelt. Dieser Brauch impliziert, dass Personen am Täter oder dessen Verwandten Rache für die Tötung eines ihrer eigenen Verwandten üben. Er kommt heutzutage noch vereinzelt vor. Die Blutrache ist durch gewisse traditionelle Regeln festgelegt und hat keine zeitliche Begrenzung (ÖB Moskau 6.2020). Nach wie vor gibt es Clans, die Blutrache praktizieren (AA 2.2.2021).

In Einklang mit den Prinzipien des Föderalismus ist das tschetschenische Parlament autorisiert, Gesetze innerhalb der Zuständigkeit eines Föderationssubjektes zu erlassen. Laut Artikel 6 der tschetschenischen Verfassung überwiegt das föderale Gesetz gegenüber dem tschetschenischen im Bereich der ausschließlichen Zuständigkeit der Föderalen Regierung, wie beispielsweise Gerichtswesen und auswärtige Angelegenheiten, aber auch bei geteilten Zuständigkeiten wie Minderheitenrechten und Familiengesetzgebung. Bei Themen im Bereich der ausschließlichen Zuständigkeit der Republik überwiegt das tschetschenische Gesetz. Die tschetschenische Gesetzgebung besteht aus einem Höchstgericht und 15 Distrikt- oder Stadtgerichten sowie Friedensgerichten, einem Militärgericht und einem Schiedsgericht. Die formale Qualität der Arbeit der Judikative ist vergleichbar mit anderen Teilen der Russischen Föderation, jedoch wird ihre Unabhängigkeit stärker angegriffen als anderswo, da Kadyrow und andere lokale Beamte Druck auf Richter ausüben (EASO 3.2017). So musste zum Beispiel im Mai 2016 der Vorsitzende des Obersten Gerichts Tschetscheniens nach Kritik von Kadyrow zurücktreten, obwohl die Ernennung/Entlassung der Richter grundsätzlich in die föderalen Kompetenzen fällt (ÖB Moskau 6.2020). Die föderalen Behörden haben nur begrenzte Möglichkeiten, politische Entscheidungen in Tschetschenien zu treffen, wo das tschetschenische Republiksoberhaupt Ramsan Kadyrow im Gegenzug für das Halten der Republik in der Russischen Föderation unkontrollierte Macht erlangt hat (FH 3.3.2021).

Die Bekämpfung von Extremisten geht laut Aussagen von lokalen NGOs mit rechtswidrigen Festnahmen, Sippenhaft, Kollektivstrafen, spurlosem Verschwinden, Folter zur Erlangung von Geständnissen, fingierten Straftaten, außergerichtlichen Tötungen und Geheimgefängnissen, in denen gefoltert wird, einher. Die strafrechtliche Verfolgung der Menschenrechtsverletzungen ist unzureichend (AA 2.2.2021; vgl. ÖB Moskau 6.2020). Es gibt ein Gesetz, das die Verwandten von Terroristen zur Zahlung für erfolgte Schäden bei Angriffen verpflichtet. Menschenrechtsanwälte kritisieren dieses Gesetz als kollektive Bestrafung. Angehörige von Terroristen können auch aus Tschetschenien vertrieben werden (USDOS 11.3.2020; vgl. ÖB Moskau 6.2020). Grundsätzlich können Tschetschenen an einen anderen Ort in der Russischen Föderation außerhalb Tschetscheniens flüchten und dort leben, solange sie nicht neuerlich ins Blickfeld der tschetschenischen Sicherheitskräfte rücken (ÖB Moskau 6.2020). Recherchen oder Befragungen von Opfern vor Ort durch NGOs sind nicht möglich; bestimmte Gruppen genießen keinen effektiven Rechtsschutz (AA 2.2.2021), hierzu gehören neben Journalisten und Menschenrechtsaktivisten (ÖB Moskau 6.2020) auch Oppositionelle, Regimekritiker und Frauen, welche mit den Wertvorstellungen ihrer Familie in Konflikt geraten, Angehörige der LGBTI-Gemeinschaft und diejenigen, die sich mit Republiksoberhaupt Kadyrow bzw. seinem Clan überworfen haben. Kadyrow äußert regelmäßig Drohungen gegen Oppositionspolitiker, Mensche

Quelle: Bundesverwaltungsgericht BVwg, https://www.bvwg.gv.at
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