TE Bvwg Erkenntnis 2021/8/11 G315 2230107-2

JUSLINE Entscheidung

Veröffentlicht am 11.08.2021
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Entscheidungsdatum

11.08.2021

Norm

BFA-VG §18 Abs2 Z1
BFA-VG §9
B-VG Art133 Abs4
FPG §46
FPG §52 Abs5
FPG §52 Abs9
FPG §53 Abs1
FPG §53 Abs3
FPG §55 Abs4

Spruch


G315 2230107-2/28E

IM NAMEN DER REPUBLIK!

Das Bundesverwaltungsgericht hat durch die Richterin Mag. Petra Martina SCHREY, LL.M. über die Beschwerde des XXXX , geb. XXXX , Staatsangehörigkeit Türkei, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 12.02.2020, Zl. XXXX , nach Durchführung einer öffentlichen mündlichen Verhandlung am 02.07.2020 zu Recht erkannt:

A)

Die Beschwerde wird als unbegründet abgewiesen.

B)

Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.



Text


Entscheidungsgründe:

I. Verfahrensgang:

1. Der Beschwerdeführer, ein Staatsangehöriger der Türkei, wurde am XXXX in XXXX in der Türkei geboren. Er reiste zunächst im Jahr 1989 in das Bundesgebiet ein, um bei seiner Familie zu leben. Nach einem Aufenthalt in der Türkei, während dessen er das Gymnasium besuchte und in Istanbul in einem Internat lebte, kehrte er im Jahr 1991 nach Österreich zurück und besuchte hier ein halbes Jahr lang die Hauptschule und dann den Polytechnischen Lehrgang.

Der Beschwerdeführer verfügt über einen von der XXXX ausgestellten unbefristet gültigen Aufenthaltstitel „Familiengemeinschaft mit Österreicher“. Einen Aufenthaltstitel „Daueraufenthalt EU“ hat er nicht beantragt. Das ursprünglich erteilte Niederlassungsrecht galt unbefristet und wurde bislang offenkundig nicht aberkannt.

Der Beschwerdeführer hat im Inland geheiratet und hat Kinder aus dieser Ehe. Der Beshwerdeführer lebt von seiner Familie getrennt. Ein Kind verstarb und das ältere Kind lebt mit der Mutter in XXXX .

Der BF ist in Österreich mehrere Dienstverhältnisse im Ausmaß von jeweils einigen Monaten eingegangen, hat jedoch überwiegend auf staatliche Leistungen, wie Arbeitslosengeld, Krankengeld und Notstandshilfe zurückgreifen müssen.

2. Der Beschwerdeführer wurde im Inland insgesamt neun Mal verurteilt. Im Einzelnen handelt es sich um folgende Verurteilungen:

Erste Verurteilung durch das LG F. STRAFSACHEN XXXX zur Zahl XXXX vom 10.11.1997, rechtskräftig seit 13.11.1997 wegen § 286 Abs. 1 StGB (Unterlassung oder Verhinderung einer mit Strafe bedrohten Handlung) zu einer Freiheitsstrafe im Ausmaß von 3 Monaten, bedingt nachgesehen für eine Probezeit von 3 Jahren, Vollzugsdatum:13.11.1997

Zweite Verurteilung durch das BG XXXX zur Zahl XXXX vom 01.02.1999, rechtskräftig seit 10.03.1999 wegen § 27/1 SMG (Unerlaubter Umgang mit Suchtmitteln) zu einer Freiheitsstrafe im Ausmaß von 1 Monat, bedingt nachgesehen für die Probezeit 3 Jahren und eine Zusatzstrafe gemäß §§ 31 und 40 STGB unter Bedachtnahme auf LG F.STRAFS. XXXX RK 13.11.1997, Vollzugsdatum: 13.06.2003

Dritte Verurteilung durch das LG F.STRAFSACHEN XXXX , zur Zahl XXXX vom 17.01.2000, rechtskräftig seit 20.01.2000 wegen § 15 27/1 U 2 SMG, §§ 15 StGB, 27/1 SMG zu einer Freiheitsstrafe im Ausmaß von 4 Monaten, bedingt nachgesehen für eine Probezeit von 3 Jahren, Vollzugsdatum: 13.06.2003

Vierte Verurteilung durch LG F.STRAFS. XXXX , zur Zahl XXXX vom 16.03.2001, rechtskräftig seit: 21.03.2001 wegen § 27 ABS 1 U 2/2 SMG, §§ PAR 15 StGB, PAR 27/1 SMG zu einer Freiheitsstrafe im Ausmaß von 6 Monaten, Vollzugsdatum: 13.06.2003

Fünfte Verurteilung durch das LG XXXX zur Zahl XXXX vom 06.02.2008, rechtskräftig seit 12.02.2008 wegen § 28 a/1 (5. FALL) SMG (Suchtgifthandel) zu einer Freiheitsstrafe im Ausmaß von 2 Jahren, Vollzugsdatum 29.12.2011

Sechste Verurteilung durch das LG F. STRAFS. XXXX zur Zahl XXXX vom 30.03.2009, rechtskräftig seit 03.04.2009 wegen PAR 27 ABS 1/1 SMG zu einer Freiheitsstrafe im Ausmaß von 6 Monaten, Vollzugsdatum: 08.02.2013

Siebente Verurteilung durch das LG F. STRAFS. XXXX zur Zahl XXXX vom 01.08.2012, rechtskräftig seit 01.08.2012 wegen § 27 (1) Z 1 1.2. Fall (2) SMG, § 27 (1) Z 1 8.Fall (3) (5) SMG zu einer Freiheitsstrafe im Ausmaß von 8 Monaten, Vollzugsdatum: 08.10.2013

Achte Verurteilung durch das LG F. STRAFS. XXXX zur Zahl XXXX vom 20.08.2014, rechtskräftig seit 20.08.2014 wegen §§ 28a (1) 5. 6. Fall, 28a (3) 2. Fall SMG, § 27 (1) Z 1 8. Fall SMG, §§ 27 (1) Z 1 1. 2. Fall, 27 (2) SMG zu einer Freiheitsstrafe im Ausmaß von 3 Jahren, Vollzugsdatum: 21.06.2017

Neunte Verurteilung durch das LG F. STRAFS. XXXX zur Zahl XXXX vom 03.10.2019, rechtskräftig seit 03.10.2019 wegen § 28a (1) 5.6. Fall u (2) Z 1 u (3) 2.Fall SMG, § 27 (1) Z 1 1.2. Fall u (2) SMG (Datum der (letzten) Tat: 21.08.2019), zu einer Freiheitsstrafe im Ausmaß vom 2 Jahren

Am 25.2.2019 wurde der Beschwerdeführe wegen verschiedener in Rechtskraft erwachsener Verwaltungsstrafen wegen Delikten nach der StVO, dem KFG, dem FSG und am 11.7. 2019 wegen verschiedener in Rechtskraft erwachsener Delikte nach dem KFG bestraft.

3. Bereits im Jahr 2008 wurde dem Beschwerdeführer von der Bundespolizeidirektion Wien mitgeteilt, dass beabsichtigt sei, gegen ihn ein Aufenthaltsverbot zu erlassen und wurde ihm die Gelegenheit gegeben, sich schriftlich und mündlich zu äußern. In einer mündlichen Einvernahme vor der Bundespolizeidirektion Wien gab der Beschwerdeführer an, er habe vor, eine stationäre Therapie zu absolvieren und werde aktuell medikamentös wegen seiner Sucht behandelt. Er brachte eine Zusage für eine Therapie und Verschreibungen für eine Substitutionstherapie in Vorlage. Die Bundespolizeidirektion beließ es lediglich bei einer Verwarnung.

4. Am 18.10.2012 wurde der Beschwerdeführer neuerlich von der beabsichtigten Erlassung eines Aufenthaltsverbotes verständigt und wurde ihm Gelegenheit zu einer schriftlichen Stellungnahme gegeben. In dieser gab er an, dass er in der Türkei nicht strafrechtlich oder politisch verfolgt würde, jedoch müsse er die Wehrpflicht erfüllen und fürchte er, dass er das aufgrund seiner körperlichen und psychische Lage nicht überstehen werde.

5. Der Beschwerdeführer verbüßt zur Zeit die wider ihn verhängten Freiheitsstrafe in der Justizanstalt XXXX , wobei das errechnete Strafende auf den 21.08.2021 fällt. Die bedingte Entlassung des Beschwerdeführers gemäß § 46 Abs. 1 und 2 StGB iVm § 152 Abs. 1 Z. 2 StVG nach der Hälfte oder zwei Dritteln der zeitlichen Freiheitsstrafe wurde abgelehnt.

In dem von der belangten Behörde eingeleiteten Verfahren gab der Bechwerdeführer am 4.12.2019 eine schriftliche Stellungnahme ab, in welcher er im Wesentlichen vorbrachte, dass ihn die Trauer um seinen Sohn in der Drogenszene hielt und er in Haft eine freiwillige Therapie mache. Seine ganze Familie befinde sich in Österreich und er habe keine Bekannten mehr in der Türkei. Er sei mit einer Österreicherin verheiratet. Politisch werde er in der Türkei nicht verfolgt. Nach der Haft würde er sich eine Beschäftigung suchen, um seinen Lebensunterhalt zu finanzieren.

6. Mit dem hier angefochtenen und im Spruch näher bezeichneten Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 12.02.2020 wurde wider den Beschwerdeführer nach Durchführung eines Ermittlungsverfahrens unter Einräumung des Parteiengehörs auf schriftlichem Weg gemäß § 52 Abs. 5 FPG 2005 iVm § 9 BFA-VG eine Rückkehrentscheidung erlassen (Spruchpunkt I.) sowie gemäß § 52 Abs. 9 FPG 2005 festgestellt, dass die Abschiebung des Beschwerdeführers in die Türkei gemäß § 46 FPG 2005 zulässig sei (Spruchpunkt II.) und gemäß § 55 Abs. 4 FPG 2005 keine Frist für die freiwillige Ausreise eingeräumt (Spruchpunkt III.). Einer Beschwerde gegen die Rückkehrentscheidung wurde gemäß § 18 Abs. 2 Z. 1 BFA-VG die aufschiebende Wirkung aberkannt (Spruchpunkt IV.). Gemäß § 53 Abs. 1 und 3 FPG 2005 wurde wider den Beschwerdeführer ein auf die Dauer von fünf Jahren befristetes Einreiseverbot erlassen (Spruchpunkt V.).

Begründend führte das Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl im Wesentlichen aus, der Beschwerdeführer sei wegen des Verbrechens des Suchtgifthandels und weiterer Delikten mehrfach rechtskräftig verurteilt worden. Der weitere Aufenthalt des Beschwerdeführers im Bundesgebiet stelle aufgrund seines bisherigen Verhaltens und den von ihm verübten Delikten eine gegenwärtige und schwere Gefahr für die öffentliche Ordnung und Sicherheit dar.

Der Beschwerdeführer habe ein seher schwerwiegendes Verbrechen begangen, das keinesfalls als „Ausrutscher“ oder ein „einmaliges Ereignis“ bezeichnet werden könne. Es bestehe die Gefahr, dass der Beschwerdeführer zur Finanzierung seines Lebensunterhalts wieder Straftaten begehen werde. Aus dem Gesamtverhalten lasse sich ableiten, dass der Beschwerdeführer dem österreichischen Rechtsstaat gegenüber ablehnend eingestellt und nur auf seinen persönlichen Vorteil bedacht ist. Es sei nicht ersichtlich, weshalb der Beschwerdeführer nunmehr sein bisheriges Fehlverhalten korrigieren und sich in Zukunft besser verhalten sollte.

In Anbetracht der Strafffälligkeit erweise sich ein Eingriff in die in Österreich bestehenden familiären Bindungen des Beschwerdeführers als zulässig und notwendig.

In einer Gesamtbeurteilung erweise sich ein Einreiseverbot in der Dauer von acht Jahren als gerechtfertigt und notwendig.

7. Mit Verfahrensanordnung vom 12.02.2020 wurde dem Beschwerdeführer gemäß § 52 Abs. 1 BFA-VG amtswegig eine Rechtsberatungsorganisation für das Beschwerdeverfahren beigegeben.

8. Zunächst wurde das Verfahren der Gerichtsabteilung L524 mit Aktenvermerk vom 2.4.2020 eingestellt, da die Beschwerde nicht ordnungsgemäß eingebacht wurde.

9. Die gegenständliche Beschwerde, welche am 11.3.2020 beim Bundesverwaltungsgericht eingebracht wurde und in der Gerichtsabteilung L526 am 3.4.2020 einlangte, richtet sich gegen den dem Beschwerdeführer am 15.02.2020 in der Justizanstalt Simmering zugestellten Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl.

In dieser wird inhaltliche Rechtswidrigkeit des angefochtenen Bescheids sowie Verletzung von Verfahrensvorschriften moniert und beantragt, den angefochtenen Bescheid ersatzlos aufzuheben.

In der Sache bringt der Beschwerdeführer im Wege seiner ehemaligen Rechtsvertretung zusammengefasst vor, die Ehefrau sei mit den Kindern nach XXXX ausgewandert; ein Kind sei dort erschossen worden. Der Beschwerdeführer sei seit langem drogenkrank und die strafgerichtlichen Verurteilungen stünden allesamt in Verbindung mit seiner Suchtkrankheit. Der Beschwerdeführer werde regelmäßig in Haft von seiner Familie (gemeint sind wohl die in Österreich lebenden Eltern und Geschwister) besucht. Er sei auf die Hilfe seiner Familie angewiesen und umgekehrt. Die Geschwister hätten durch ihren Beruf wenig Möglichkeit, sich um die Eltern zu kümmern, der Beschwerdeführer, der an der selben Adresse mit den Eltern lebe, helfe diesen im täglichen Leben. Aufgrund seiner Suchterkrankung würde der Beschwerdeführer in der Türkei, wo er alleine leben müsste, wahrscheinlich niemals in der Lage sein, für sich selbst zu sorgen. Den Eltern und Geschwistern sei nicht zuzumuten, dass sie mit ihm in die Türkei reisen. In Bezug auf das Verfahren wurde bemängelt, dass der Beschwerdeführer nicht im Rahmen einer Einvernahme persönlich gehört wurde. Er sei auch nicht zum Privat- und Familienleben befragt worden. Die Behörde habe auch keine ausreichenden Länderinformationen eingeholt. Die Behörde hatte auch feststellen müssen, dass der Beschwerdeführer psychisch und körperlich schwer belastet ist. Die Behörde hätte auch Eltern und Geschwister einvernehmen können. Der Beschwerdeführer befinde sich seit mehr als dreißig Jahren in Österreich und verfüge über ein intensives Privat- und Familienleben. Er spreche sehr gut Deutsch.

Die Behörde hätte ferner in Betracht ziehen müssen, dass der Beschwerdeführer unter eine Ausnahmebestimmung zum Grundsatz, dass türkische Gerichte nur für Straftaten zuständig sind, die auch in der Türkei begangen wurden, nämlich etwa im Fall von Drogenhandel, falle. Dazu wurde eine Anfragebeantwortung vom 13.12.2018 zitiert.

Ferner wurde ausgeführt, dass die medizinische Versorgung nicht ausreichend sei, da der Beschwerdeführer über keine Krankenversicherung verfüge.

Zu dem über den Beschwerdeführer verhängten Einreiseverbot wird im Wesentlichen vorgebracht, es sei der Umstand, dass der Beschwerdeführer seine Delikte beging, um seine Drogensucht zu finanzieren, nicht beleuchtet worden. Eine Vielzahl von Delikten habe das Stadium des Verbrechens nicht erreicht oder es es beim Versuch geblieben. Vom Strafgericht sei gewürdigt worden, dass der Beschwerdeführer seine Delikte als Drogenkranker begangen habe.

Der Beschwerdeführer habe immer wieder als Hilfsarbeiter gearbeitet, sei aber letztlich als eine kranke Person zu bezeichnen und sei durch das Scheitern seiner Beziehung und den Tod seines Sohnes noch stärker aus der Bahn geworfen worden.

Auf die Anwendung des Beschlusses Nr. 1/80 des Assoziationsrates vom 19.09.1980 über die Entwicklung der Assoziation berief sich der Beschwerdeführer nicht.

Der Beschwerdeführer beantragte die Behebung des Spruchpunktes IV., die ersatzlose Behebung des Bescheides, in eventu den Ausspruch, dass eine Rückkehr auf Dauer unzulässig sei, in eventu Spruchpunkt V. ersatlos zu beheben, in eventu die Dauer des Einreiseverbotes herabzusetzen. Unter einem wurde die Durchführung einer mündlichen Verhandlung vor dem Bundesverwaltungsgericht begehrt.

10. Zur Vorbereitung der für den 02.07.2020 anberaumten mündlichen Verhandlung wurden der rechtsfreundlichen Vertretung des Beschwerdeführers mit Note des Bundesverwaltungsgerichtes vom 02.06.2020 aktuelle Länderdokumentationsunterlagen zur allgemeinen Lage in der Türkei zur Wahrung des Parteiengehörs übermittelt und die Möglichkeit eingeräumt, dazu innerhalb einer Frist schriftlich oder in der Verhandlung mündlich Stellung zu nehmen.

11. Am 02.07.2020 wurde vor dem Bundesverwaltungsgericht eine mündliche Verhandlung im Beisein des Beschwerdeführers und seiner rechtsfreundlichen Vertretung durchgeführt. Im Verlauf dieser Verhandlung wurde dem Beschwerdeführer Gelegenheit gegeben, seinen Standpunkt umfassend darzulegen und es wurden insbesondere seine strafgerichtlichen Verurteilungen erörtert. Ferner wurde der Beschwerdeführer zur Rückkehrsituation befragt und es wurden die aktuellen Länderberichte erörtert. Zum Vorbringen in Bezug auf eine Doppelbestrafung wurde ein Artikel über das neue türkische Strafgesetzbuch übergeben und eine Stellungnahme innerhalb einer Frist von vierzehn Tagen freigestell.

Darüber hinaus wurden die vom Beschwerdeführer stellig gemachten Schwestern des Beschwerdeführers, nämlich Frau XXXX und Frau XXXX , als Zeuginnen einvernommen.

12. Da weder der Beschwerdeführer noch sein Vertreter in der mündlichen Verhandlung genaue Angaben über den Aufenthaltstitel des Beschwerdeführers machen konnte und sich seine Angaben nicht mit den Auskünften aus dem Informationsverbundsystem Zentrales Fremdenregister in Einklang bringen ließen, wurde am 13.7.2020 eine Anfrage an den Magistrat der Stadt XXXX in Bezug auf den aktuellen Aufenthaltstitel des Beschwerdeführers gemacht. Von der zuständigen Magistratsabteilung wurde die Auskunft erteilt, der Beschwerdeführer verfüge über keinen Aufenthaltstitel nach dem Niederlassungs- und Aufenthaltsgesetz. Für den Zeitraum von 1994 bis 1999 seien verschiedenen Aufenthaltstitel erteilt worden; bis Februar des Jahres 1998 sei der Beschwerdeführer zu unselbständiger Arbeit berechtigt gewesen, ab Februar 1998 bis April 1999 zu jeglichem Aufenthaltszweck.

13. Am 16.07.2020 legte der Beschwerdeführer Unterlagen vor, welchen zufolge er im Jahr 2018 wegen eines Motorradunfalles stationär behandelt und ihm operativ ein Metallnagel eingesetzt worden sei. Ferner legte er Unterlagen vor, aus denen abgeleitet werden kann, dass der Beschwerdeführer nach seinem Unfall mehrere Monate arbeitsunfähig war. Ferner wurde auf einen Versicherungsdatenauszug sowie verschiedene Lohnabrechnungen und Unterlagen zu seiner Aufenthalts- und Niederlassungsbewilligung Bezug genommen, wobei die Faxsendung jedoch unvollständig einlangte und am 16.7.2020 neuerlich übermittelt wurde.

In dieser Eingabe brachte der Beschwerdeführer unter anderem – ohne entsprechende Unterlage beizubringen, wie in der mündlichen Verhandlung aufgetragen – vor, dass er an Hepatitis C erkrankt sei; das Stadium dieser Erkrankung sei derzeit ungeklärt. Es sei zudem davon auszugehen, dass die türkische Polizei im Falle einer Abschiebung des Beschwerdeführers Kenntnis erlange, nicht zuletzt deshalb, weil ihn ein Angehörige der türkischen Botschaft schon einmal besucht haben. Ferner sei Berichten zu entnehmen, dass Gefangene in der Türkei geschlagen, willkürlich behandelt und in Einzelhaft genommen würden.

Mit Schreiben vom 11.12.2020 legte die ehemalige Rechtsvertretung, die ARGE Rechtsberatung – Diakonie und Volkshilfe die vom Beschwerdeführer erteilte Vollmacht zurück.

14. Aufgrund einer Verfügung des Geschäftsverteilungsausschusses vom 14.1.2021 wurde die Rechtssache der Gerichtsabteilung L526 abgenommen und der Gerichtsabteilung G315 zugewiesen.

15. Aufgrund der vom Beschwerdeführer am 16.7.2020 übermittelten Ablichtungen aus seinem Reisepass (Etiketten und Stempel betreffend Niederlassungs- und Aufenthaltsbewilligung) wurde am 12.02.2021 neuerlich eine Anfrage an den Magistrat der Stadt XXXX gestellt und um Auskunft ersucht, ob eine Aberkennung eines dem Beschwerdeführer offenkundig erteilten Aufenthaltstitels vorgenommen wurde. Eine Antwort ging bis dato h.g. nicht ein.

16. Am 19.02.2021 wurde die belangte Behörde um Beantwortung von Fragen zu ihren Feststellungen, insbesondere zum Aufenthaltstitel des Beschwerdeführers und dem nach Meinung der Behörde nicht anzuwendenden Beschlusses Nr. 1/80 des Assoziationsrates vom 19.09.1980 (ARB), und allfällig notwendigen ergänzenden Ermittlungen ersucht.

17. Am 24.02.2021 langte die Beantwortung der Fragen zum Aufenthaltstitel des Beschwerdeführers ein. Nach einer Urgenz langte am 05.07.2021 die Beantwortung der Anfrage zur Anwendung des Beschlusses Nr. 1/80 des Assoziationsrates vom 19.09.1980 (ARB) ein.

18. Mit Note des Bundesverwaltungsgerichtes vom 19.07.2021 wurden dem Beschwerdeführer die Stellungnahmen der belangten Behörde und des Magistrates der Stadt Wien sowie aktuelle länderkundliche Berichte übermittelt. Unter Einem wurde er eingeladen, alle ihm noch zur Verfügung stehenden Beweismittel, welche für das Verfahren relevant sind und sein Vorbringen bescheinigen können, vorzulegen.

19. Am 02.08.2021 brachte der nunmehr unvertretene Beschwerdeführer eine Stellungnahme ein.

II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:

1. Feststellungen:

1.1. Der Beschwerdeführer führt den im Spruch angeführten Namen, er ist Staatsangehöriger der Türkei und Angehöriger der türkischen Volksgruppe. Der Beschwerdeführer bekennt sich zum Islam.

Er wurde am 12.12.1976 in XXXX (vgl. Auszug aus dem Melderegister), in der Nähe von XXXX in der Türkei geboren, wo er aufwuchs (Verhandlungsprotokoll, S.9). Von 1993 bis 1989 besuchte er die Volksschule in XXXX und von 1989 bis 1991 die Hauptschule (Stellungnahme des Beschwerdeführes AS 91). Er reiste zunächst im Jahr 1989 in das Bundesgebiet ein, um bei seiner Familie zu leben (AS 201) und besuchte hier die Hauptschule. Nach einem Aufenthalt in der Türkei, während dessen er das Gymnasium besuchte und in Istanbul in einem Internat lebte (Verhandlungsprotokoll S. 6), kehrte er im Jahr 1991 nach Österreich zurück und besuchte hier ein halbes Jahr lang die Hauptschule und dann den Polytechnischen Lehrgang. Er ist seither im Bundesgebiet gemeldet. Wie oft Beschwerdeführer seitdem die Türkei besucht hat und ob er dort längere Zeiten verbrachte, kann nicht festgestellt werden.

Der Beschwerdeführer verfügt über eine zuletzt am 07.03.2001 ausgestellte Niederlassungsbewilligung (Zweck: Familiengemeinschaft mit Österreicher). Das erworbene Daueraufenthaltsrecht ist bislang nicht verloren gegangen. Der Beschwerdeführer hat sich bislang bei der zuständigen Magistratsabteilung keinen Aufenthaltstitel „Daueraufenthalt EU“ ausstellen lassen. Da die Ausstellung eines Daueraufenthaltstitels EU lediglich deklarativen Charakter hat, hindert dies den Fortbestand des dem Beschwerdeführer verliehenen Daueraufenthaltsrechtes nicht (Auskunft der belangten Behörde vom 24.2.2021). Dem Beschwerdeführer wurde ein vom türkischen Konsulat in Wien am 16.12.2004 ein gültiges türkisches Reisedokument ausgestellt (Auskunft aus dem zentralen Melderegister, Ablichtungen im Akt), von welchem im Juli 2020 Ablichtungen zum Akt gegeben wurden und von welchem der Beschwerdeführer nunmehr behauptet, dass er über dessen Verbleib keine genaue Auskunft geben könne.

Der Beschwerdeführer hat Rechte aus Artikel 7 des ARB 1/80 erworben. Der Vater des Beschwerdeführers, Herr XXXX , hat in den 1990er Jahren regelmäßig in Österreich gearbeitet (Versicherungsdatenauszug, Stellungnahme der belangten Behörde, undatiert, eingelangt am 5.7.2021) und wurde die österreichische Staatsbürgerschaft an Herrn XXXX erst im Jahr 2001 verliehen.

Es kann nicht festgestellt werden, dass der Beschwerdeführer an einer lebensbedrohlichen Krankheit leidet, die in der Türkei nicht behandelbar wäre. Er nimmt nicht an einem Substitutionsprogramm oder einer sonstigen Therapie teil.

1.2. Der Beschwerdeführer ist mit Frau XXXX , einer österreichischen Staatsangehörigen, verheiratet. Dieser Ehe entstammen zwei Kinder. Der Beschwerdeführer lebt von seiner Familie seit dem Jahr 2010 (Verhandlungsprotokoll) getrennt. Ein Kind ist verstorben. Das andere Kind lebt bei seiner der Mutter in XXXX .

Der Beschwerdeführer leistete aktuell keinen Unterhalt für sein Kind und hat auch vor seiner Inhaftierung keine Alimente bezahlt; er übermittelt lediglich Beträge auf freiwilliger Basis (Verhandlungsprotokoll).

Der Beschwerdeführer pflegte vor seiner Inhaftierung außereheliche Beziehungen, zum Teil mit mehreren Damen gleichzeitig, deren Namen ihm nicht mehr alle geläufig sind. Konkrete Pläne im Hinblick auf eine weitere Beziehung bzw. ein Zusammenleben mit einer seiner Freundinnen gibt es nicht (Verhandlungsprotokoll).

Abgesehen von der zeitweiligen Unterkunftnahme in den Wohnungen verschiedener Damen lebte der Beschwerdeführer nach der Trennung von seiner Frau und den Kindern in der Wohnung seiner Eltern. Er hat auch Kontakt zu den in Österreich lebenden Geschwistern und weiteren Verwandten. Der Beschwerdeführer wird in Haft von diesen besucht.

1.3. Der Beschwerdeführer hat Zugang zum Arbeitsmarkt. Seit dem Jahr 1994 war er immer wieder für einige Monate (höchstens etwa sieben Monate) oder auch nur Wochen und Tage beschäftigt, wobei sich ab dem Jahr 2001 immer größere Lücken in der Historie seiner gemeldeten Beschäftigten auftun. Der Beschwerdeführer lebte überwiegend von Arbeitslosengeld, Notstandshilfe, Überbrückungshilfe und Krankengeld.

Derzeit ist der Beschwerdeführer aufgrund seiner Anhaltung in Strafhaft ohne Einkommen. Eine Einstellungszusage für die Zeit nach seiner Haftentlassung wurde nicht in Vorlage gebracht. Der Beschwerdeführer kann auch nicht von konkreten Plänen im Hinblick auf seinen künftigen Unterhalt berichten.

1.4. Der Beschwerdeführer besuchte keine Deutschkurse und legte keine Prüfungen über Kenntnisse der deutschen Sprache auf einem bestimmten Niveau ab. Der Beschwerdeführer spricht infolge seines langjährigen Aufenthalt im Bundesgebiet und seines Schulbesuches aber sehr gut Deutsch und war eine einwandfreie Verständigung mit dem Beschwerdeführer ohne Beiziehung eines Dolmetschers möglich.

Ein vereinsmäßiges Engagement des Beschwerdeführers ist nicht feststellbar. Es ist jedoch davon auszugehen, dass er über die üblichen sozialen Kontakte im Inland verfügt.

1.5. Dem Beschwerdeführer droht im Falle einer Rückkehr in die Türkei nicht die Todesstrafe. Ebenso kann keine anderweitige individuelle Gefährdung des Beschwerdeführers festgestellt werden, insbesondere im Hinblick auf eine drohende unmenschliche Behandlung, Folter oder Strafe sowie kriegerische Ereignisse oder extremistische Anschläge in der Türkei.

Der Beschwerdeführer ist im Fall einer Rückkehr in die Türkei auch nicht einer mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit eintretenden und von staatlichen Organe oder Dritten ausgehenden individuellen Gefährdung oder psychischer und/oder physischer Gewalt ausgesetzt.

1.6. Der Beschwerdeführer ist ein grundsätzlich gesunder, arbeits- und anpassungsfähiger Mensch mit im Herkunftsstaat und in Österreich erworbener Schulbildung und Berufserfahrung.

Der Beschwerdeführer verfügt über Verwandte in Zentralanatolien. Eine dort ansässige Tante führte dort bis zu ihrer Pension eine Landwirtschaft.

Der Beschwerdeführer verfügt in seinem Herkunftsstaat über eine – wenn auch auf niedrigerem Niveau als in Österreich – gesicherte Existenzgrundlage sowie über verwandtschaftliche Anknüpfungspunkte in Zentralanatolien. Dem Beschwerdeführer ist die Aufnahme einer Erwerbstätigkeit zur Sicherstellung seines Auskommens in der Türkei möglich und zumutbar.

1.7. Der Beschwerdeführer bewegte sich zumindest vom Jahr 1999 an in der Suchtgiftszene und konsumierte selbst Suchtmittel. Der Beschwerdeführer wurde jedoch zunächst mit Urteil des Landesgerichtes für Strafsachen Wien vom 13.11.1997, Zl. XXXX wegen der Unterlassung der Verhinderung einer mit Strafe bedrohten Tat zu einer Freiheitsstrafe von drei Monaten verurteilt, wobei die Freiheitsstrafe unter Bestimmung einer Probezeit von drei Jahren bedingt nachgesehen wurde. In der Folge wurde der Beschwerdeführer beginnend mit einer Verurteilung im Jahr 1999 bis zur letzten Verurteilung im Jahr 2019 wegen einer Vielzahl von Drogendelikten verurteilt. Die im Akt erliegende Dokumentation über die Verurteilungen des Beschwerdeführers ist nicht vollständig, jedoch sind die letzten fünf Urteile aktenkundig. Diesen zufolge hat der Beschwerdeführer:

I. in Wien zusammen mit weiteren Angeklagten vorschriftsmäßig Suchtgift in einer die Grenzmenge nach § 28b SMG übersteigenden Menge anderen überlassen, und zwar von April 2007 bis August 2007 zumindest 586 Gramm Heroin, dessen reine Wirkstoffmenge Heroin zumindest 29 Gramm beträgt, an abgesondert verfolgte Abnehmer, wobei er an ein Suchtmittel gewöhnt war und die Straftaten vorwiegend deshalb beging, um sich für seinen persönlichen Gebrauch Suchtmittel oder Mittel zu deren Erwerb zu verschaffen, wobei das neunmalige Überschreiten der Grenzmenge und die drei einschlägigen Vorstrafen als erschwerend, mildernd das volle und reumütige Geständnis gewertet wurde

II. in Wien vorschriftsmäßig in der Zeit von Mitte September 2008 bis Anfang Oktober 2008 Suchtgift anderen verschaffte, indem er sie an nicht mehr feststellbare Suchtgiftverkäufer vermittelte, wobei mildernd das Geständnis, erschwerend die einschlägigen Vorstrafen gewertet wurden

III. A. in Wien vorschriftswidrig Suchtgift und zwar Heroin mit zumindest durchschnittlichem Wirkstoffgehalt in einer die Grenzmenge im Zweifel nicht übersteigenden Menge, im bewussten und gewollten Zusammenwirken einem abgesondert Verfolgten und einem noch auszuforschenden Mittäter gewerbsmäßig durch gewinnbringenden Verkauf

1. anderen überlassen und zwar

- seit 2006 einem abgesondert Verfolgten in einer die Grenzmenge nicht mehr festzustellenden Menge

- einem abgesondert Verfolgten zu einem nicht mehr feststellbaren Zeitpunkt Anfang 2012 ein Gramm zum Preis von 50 Euro und im März 2012 ein ein Gramm zum Preis von 50 Euro

- zwischen Anfang 2012 und 14.3.2012 einer im Urteil benannten Frau fünf Gramm Heroin

2. angeboten und zwar einem abgesondert Verfolgten eine nicht mehr feststellbare Menge

da er an Suchtmittel gewöhnt war und die Tat vorwiegend deshalb begangen hat, um sich Suchtmittel oder Mittel zu deren Erwerb zu verschaffen

B. bis Mai 2012 Cannabis und Heroin in noch festzustellenden Mengen für den ausschließlichen persönlichen Gebrauch erworben und besessen hat,

wobei erschwerend die einschlägigen Vorstrafen, das Zusammentreffen mehrerer Vergehen gewertet wurden, mildernd jedoch kein Umstand zum Tragen kam

IV. A. von Jänner/Februar 2014 bis 21.6.2014 gewerbsmäßig in einer die Grenzmenge des § 28b SMG überschreitenden Menge, nämlich insgesamt zumindest 225 Gramm Heroin mit einem Reinheitsgehalt von zumindest 3% Heroin, wobei er zuletzt mit Urteil des Landesgerichtes XXXX vom 6.2.2008, XXXX wegen § 28a Abs. 1 5. Fall SMG verurteilt wurde, zehn im Urteil mit Namen genannten und weiteren unbekannt gebliebenen Suchtgiftabnehmern überlassen bzw. verschafft, wobei er selbst an eine Suchtgift, nämlich Heroin gewöhnt war und die Taten vorwiegend zur Finanzierung seines Eigenkonsums beging

B. von einem nicht mehr näher festzustellenden Zeitpunkt um Jänner/Februar 2014 bis 21.6.2014 eine rund sieben Gramm Heroin mit einem Reinheitsgehalt von zumindest 3% Heroin, fünf im Urteil namentlich genannten Personen überlassen, indem er ihnen unentgeltlich Heroin zum Konsum überließ

C. von einem nicht mehr näher festzustellenden Zeitpunkt um Jänner/Februar 2014 bis zum 21.6.2014, nämlich Heroin mit einem Reinheitsgehalt von zumindest 3% Heroin ausschließlich zum persönlichen Gebrauch erworben und besessen,

wobei das volle und umfassende reumütige Geständnis und der Beitrag zur Wahheitsfindung als mildernd, die einschlägigen, rückfallsbegründenden Vorstrafen, das Zusammentreffen von zwei Verbrechen mit einer Vielzahl von Vergehen als erschwerend gewertet wurden

V. A. unbekannte Mengen Heroin zum persönlichen Gebrauch erworben und bis zum jeweiligen Eigenkonsum besessen

B. gewerbsmäßig insgesamt zumindest 66 Gramm Heroin mit einem durchschnittlichen Reinheitsgehalt von zumindest 20%, sohin in einer die Grenzmenge zumindest vielfach übersteigenden Menge in einer Vielzahl von Übergaben an verschiedene im Urteil namentlich genannte Personen zum Preis von zumindest 20 Euro pro Gramm gewinnbringend überlassen bzw. verschafft, wobei er bereits einmal wegen einer Tat nach § 28a Abs. 1 SMG verurteilt wurde und er selbst an ein Suchtgift, nämlich Heroin gewöhnt war und die Taten vorwiegend zu Finanzierung des Eigenkonsums beging,

wobei mildernd das umfassende und reumütige Geständnis und erschwerend die Vorstrafenbelastung und das Zusammentreffen mehrerer strafbarer Handlung gewertet wurden.

1.10. Der Beschwerdeführer wurde am 25.2.2019 wegen verschiedene Delikte nach der StVO, dem KFG, dem FSG bestraft (rechtskräftig geworden am 1.6.2019). Ferner wurde er am 11.7. 2019 wegen verschiedener Delikte nach dem KFG bestraft (rechtskräftig geworden am 21.11.2019) (AS 249ff).

1.11. Der Beschwerdeführer verbüßte die wider ihn zuletzt verhängte Freiheitsstrafe nach seiner letzten Festnahme in der Justizanstalt Simmering. Das errechnete Strafende fällt auf den 21.08.2021.

Die bedingte Entlassung des Beschwerdeführers gemäß § 46 Abs. 1 und 2 StGB iVm § 152 Abs. 1 Z. 2 StVG nach der Hälfte oder zwei Dritteln der zeitlichen Freiheitsstrafe zum 04.03.2020 ist nicht erfolgt.

1.12. Der Beschwerdeführer absolviert keine Drogen- oder Psychotherapie.

1.13. Zur aktuellen Lage in der Türkei werden folgende Feststellungen getroffen:

1.13.1. Zur aktuellen Lage in Bezug auf die weltweit herrschende Corona-Pandemie und die Türkei werden folgende Feststellungen getroffen:

Mit Stand 10.08.2021 gab es in der Türkei 5,94 Mio bestätigte COVID-19 Erkrankungen, 52313 Todesfälle und 5,51 Genesene. 39320939 Personen wurde mindestens eine Impfdosis verabreicht, 22267239 Personen sind vollständig geimpft (vgl. Google-Suche, Zugriff am 10.08.2021).

Aus einer Zusammenfassung der WKO (https://www.wko.at/service/aussenwirtschaft/ coronavirus-infos-tuerkei.html, Stand 10.08.2021), ergibt sich, dass in der Türkei beginnend mit 01. Juni Schritte zur Normalisierung des täglichen Lebens gesetzt werden:

-        Unter der Woche gibt es von Montag bis einschließlich Samstag nächtliche Ausgangssperren, welche im Zeitraum von 22.00 Uhr abends bis 05.00 Uhr morgens gültig sind. An den Sonntagen sind die Ausgangssperren auch tagsüber durchgehend gültig.

-        Touristen und ausländische Personen sowie türkische Staatsangehörige, die sich vorübergehend in der Türkei aufhalten und keinen permanenten Wohnsitz in der Türkei haben, sind von den Ausgangsbeschränkungen ausgenommen.

-        Generell muss ein Mindestabstand zur nächsten Person eingehalten werden. An allen Orten, wo sich mehrere Menschen befinden, insbesondere auf Märkten und in Geschäften, gilt Maskenpflicht. Auf öffentlichen Plätzen wurde ein Rauchverbot auch im Freien eingeführt.

-        Gastronomische Stätten haben von 7.00 Uhr bis 21.00 Uhr geöffnet. An Sonntagen gibt es nur Lieferservice.

-        Einzelhandel und körpernahe Berufe sind geöffnet.

-        Sportstätten und Vergnügungsparks sind geöffnet.

-        Versammlungen und Hochzeiten sind unter Einhaltung der allgemeinen Regeln erlaubt.

-        An den Schulen findet an 2 Tagen in der Woche Präsenzunterricht statt, Kindergärten sind geöffnet.

-        Für das Buchen und den Check-in bei Inlandsflügen sowie bei Überlandbussen, Schiffen und Bahn in der Türkei benötigt man einen sogenannten HES-Code (Hayat Eve Sigar). Der HES-Code wird auch beim Betreten von Amtsgebäuden und in Einkaufszentren verlangt. Ausländer erhalten den HES-Code durch das Ausfüllen des Einreiseformulars (siehe „Einreise und Reisebestimmungen“).

Seit 15.03.2021 müssen Reisende mit Endziel Türkei frühestens 72 Stunden vor der Einreise ein Formular ausfüllen. Bei Einreise in die Türkei kann kontrolliert werden, ob dieses Formular ausgefüllt wurde, bzw. kann im Falle des Nichtausfüllens die Einreise für ausländische Staatsangehörige verweigert werden. Für Transitreisende ist diese Verpflichtung zum Ausfüllen des Formulars nicht gültig. Bei der Einreise zu Land, Wasser oder Luft ist die Vorlage eines der genannten Zertifikate notwendig: Impfzertifikat, Genesungsbestätigung oder negatives Testergebnis. In Österreich gilt für die Türkei in Bezug auf Corona weiterhin eine Reisewarnung der Sicherheitsstufe 6. Bei einer Einreise in die Türkei gelten Erleichterungen für Geimpfte und Genesene, nicht jedoch getestete. Bei Vorlage eines offiziellen Impfnachweises über eine vollständige Immunisierung (in der Regel je nach Impfstoff also 2 Impfdurchgänge) entfällt der PCR-Test. Die zweite Impfung muss mindestens 14 Tage vor Einreise in die Türkei erfolgt sein. Mündlichen Informationen nach werden alle in der EU zugelassenen Impfstoffe anerkannt. Bei Vorlage eines offiziellen Genesungsattests (Genesung liegt max. 6 Monate zurück) entfällt der PCR-Test. Bei Fehlen eines Nachweises für eine Impfung oder Genesung ist bei der Einreise ein negativer PCR Test (max. 72 Stunden alt) oder Antigen Test (max. 48 Stunden alt) vorzulegen.

Der Güterverkehr am Seeweg und per Bahn funktioniert gut. Die Grenzübergänge zu Bulgarien, Georgien, Griechenland, Iran und Irak sind im Frachtverkehr geöffnet. Fahrer im Güterverkehr werden an der Grenze einer medizinischen Kontrolle unterzogen und dürfen, wenn keine Krankheitssymptome vorliegen, ein- und wieder ausreisen. Im Falle einer Einreise in die Türkei dürfen die Fahrer nur an bestimmten Raststätten halten. Die Einreichung des COVID-19-Tests für ausländische Fahrer bei der Einreise nach Nordzypern ist obligatorisch.

Wegen der Coronavirus-Krise benötigt der türkische Exporteur/Produzent für den Export von Schutzmasken, medizinischen Handschuhen und sonstigen Arbeitsschutzbekleidungen eine Export-Erlaubnis. Für Schutzmasken aus Stoff ist seit 14.5. keine Exporterlaubnis mehr nötig. Seit 29.6.2020 hebt die Türkei aktuell für über 5.000 Waren Zusatzzölle zwischen 5 % bis 30 % ein. Diese Regelung ist mit 1.1.2021 dauerhaft in Kraft getreten.

Um die Auswirkungen der Lockdowns aufgrund von COVID-19 auf die türkische Wirtschaft zu begrenzen, wurden von der türkischen Regierung bereits mehrere Wirtschaftspakete ins Leben gerufen. Diese Wirtschaftspakete, welche im März und September des Jahres 2020 sowie zuletzt im März 2021 bekannt gegeben wurden, beinhalten Maßnahmen wie Steuersenkungen und -stundungen, Unterstützungen für Kurzarbeit, Einsetzung von Komitees zur Koordination der Maßnahmen sowie Einführung von Weiterbildungsangeboten im berufsbildenden Bereich.

1.13.2 Zur sonstigen asyl- und abschiebungsrelevanten allgemeinen Lage in der Türkei werden folgende Feststellungen (Staatendokumentation des BFA, Version 3 vom 17.5.2021) getroffen:

COVID-19

Letzte Änderung: 16.05.2021

Bezüglich der aktuellen Anzahl der Krankheits- und Todesfälle in den einzelnen Ländern empfiehlt die Staatendokumentation bei Interesse/Bedarf folgende Website der WHO: https://www.who.int/emergencies/diseases/novel-coronavirus-2019/situation-reports oder der Johns Hopkins-Universität: https://gisanddata.maps.arcgis.com/apps/opsdashboard/index.html#/bda7594740fd40299423467b48e9ecf6 mit täglich aktualisierten Zahlen zu kontaktieren.

Am 11.3.2020 verkündete der türkische Gesundheitsminister, Fahrettin Koca, die Nachricht vom tags zuvor ersten bestätigten Corona-Fall (FNS 16.3.2020; vgl. DS 11.3.2020). Nach den ersten vier Monaten des Jahres 2021 verzeichnete das Land 40.000 Corona-Tote bei offiziell annähernd 4,9 Mio. Infizierten. Bis Jahresende 2020 waren es rund 2,2 Mio Fälle und cirka 21.000 Tote. Das heißt innert der ersten vier Monate des Jahres 2021 haben sich beide Werte fast verdoppelt (JHU 3.5.2021). Mit Stand 5.5.2021 waren laut Angaben des Gesundheitsministeriums 14,25 Mio. Menschen, bei einer Bevölkerung von 85 Mio., mit einer ersten Dosis des Impfstoffs geimpft, während 9,82 Millionen eine zweite Dosis erhalten haben. Somit waren offiziell 25% der Einwohner zumindest einmal geimpft (Ahval 5.5.2021).

Am 25.11.2020 erklärte Gesundheitsminister Koca, dass nunmehr alle positiv auf COVID-19 getesteten Personen in die Statistik aufgenommen werden. Ende Juli 2020 hatte das Gesundheitsministerium nämlich damit begonnen, die Corona-Infektionszahlen anzupassen, indem nur noch diejenigen, die tatsächlich Symptome entwickelten und einer Behandlung bedurften, statistisch gemeldet wurden. Dadurch blieben die offiziellen Zahlen in der Türkei im internationalen Vergleich niedrig. Auf diese Weise seien nach Medienberichten bis Ende Oktober 2020 bis zu 350.000 Corona-Infektionen verschwiegen worden (BAMF 30.11.2020).

Beginnend mit 1.12.2020 war ein Lockdown in Kraft getreten, welcher u.a. unter der Woche eine nächtliche und an den Wochenenden eine totale Ausgangssperre vorsah. Eingeführt wurde der sogenannte HES (Hayat Eve Sigar) - Code, ein behördlich verliehener elektronischer Schlüssel, mittels welchem der momentane Status der jeweiligen Person in Hinblick auf Corona verfolgt und überprüft werden kann. Er dient z.B. als Zutrittsvoraussetzung zu Ämtern oder eben Einkaufszentren (WKO 21.1.2021).

Nachdem es durch strenge Maßnahmen gelang, die zweite Corona-Welle im Jänner etwas unter Kontrolle zu bringen, folgten ab 1.3.2021 Lockerungen, die die Regierung als "Normalisierungsprozess" bezeichnete (DW 3.4.2021). Davon abgesehen, ermächtigte die Regierung die Provinzbehörden, lokale Quarantänen und Ausgangssperren auf der Grundlage von epidemiologischen Daten zu verhängen (Garda World 1.3.2021). Doch seit den Lockerungen stiegen die Corona-Infektionen explosionsartig. Opposition und Ärzte gaben der Regierung die Schuld, wonach letztere mehrfach fahrlässig gehandelt hätte. Besonders der Türkische Ärztebund (TTB) rüttelte stets an der Glaubwürdigkeit der türkischen Regierung und ihrem Corona-Krisenmanagement (DW 3.4.2021). Der TTB verlangte Ende März 2021 angesichts der rasant steigenden Fallzahlen, u.a. die Mobilität auf stark frequentierten Straßen in den Städten ebenso einzuschränken wie Massenkontakte zwischen Menschen in geschlossenen Räumen. Zudem forderte der Ärzteverband von der Regierung mehr Transparenz hinsichtlich der COVID-19-Zahlen, des Impfprogramms sowie der Anwendung der Klassifizierungskritierien für die Provinzen (Reuters 26.3.2021).

Am 13.4.2021 wurde zunächst ein Teil-Lockdown wieder eingeführt, welcher eine verlängerte abendliche Ausgangssperre an Wochentagen, eine Rückkehr zum Online-Unterricht und ein Verbot von unnötigen Überlandfahrten beinhaltete (AP 18.4.2021). Die Bewohner mussten während der Ausgangssperre in ihren Häusern bleiben, außer zwecks Verrichtung einer wichtigen Arbeit oder aus dringenden medizinischen Gründen. Alle Veranstaltungen wie Hochzeiten und persönliche Feiern wurden bis zum 12.5.2021 ausgesetzt (Garda World 13.4.2021). Angesichts von täglichen Fallzahlen von über 60.000 bei über 300 Toten wurde überdies eine Ausgangssperre am Wochenende in Risikostädten, wie Istanbul oder Ankara, verhängt (Ahval 21.4.2021). Zuvor hatte Präsident Erdo?an auch wieder Wochenendsperren verhängt und die Schließung von Restaurants und Cafés während des heiligen muslimischen Monats Ramadan angeordnet (AP 18.4.2021).

Angesichts der steigenden Fall- und Todeszahlen wurde am 26.4.2021 ein fast dreiwöchiger verschärfter Lockdown, beginnend mit 29.4.2021, verkündet (AP 27.4.2021). Bis 17.5.2021 besteht (bestand) landesweit ein generelles Ausgangsverbot. Nebst Mindestabstand gilt an allen Orten, wo sich mehrere Menschen befinden, insbesondere auf Märkten und in Geschäften, Maskenpflicht. Einkäufe dürfen nur montags bis samstags von 10.00 Uhr bis 17.00 Uhr in Gehnähe und zu Fuß, nicht mit dem PKW, durchgeführt werden. Gastronomische Stätten haben nur für Lieferservice geöffnet. Einzelhandel, körpernahe Berufe ebenso wie Kinos, Bäder etc, bleiben geschlossen. Versammlungen und Hochzeiten sind verboten. Schulen und Kindergärten bleiben für den Präsenzunterricht geschlossen (WKÖ 27.4.2021; vgl. Garda World 27.4.2021). Allerdings wurden Millionen von Menschen von diesem ersten landesweiten Lockddown ausgenommen. Dazu gehörten neben Mitarbeitern des Gesundheitssektors und Vollzugsbeamten auch Fabrik- und Landwirtschaftsarbeiter sowie Mitarbeiter von Lieferketten und Logistikunternehmen. Auch Touristen waren ausgenommen. Schätzungen gingen davon aus, dass bis zu 16 Mio. der 84 Mio. Einwohner während des Lockdowns trotzdem unterwegs sein würden (AP 30.4.2021).

Quellen:

         Ahval (5.5.2021): Turkey close to achieving ‘mass immunity’ against COVID-19 – official, https://ahvalnews.com/turkey-covid-19/turkey-close-achieving-mass-immunity-against-covid-19-official, Zugriff 5.5.2021

         Ahval (21.4.2021): Turkey registers record COVID-19 death toll of 362, over 60,000 new cases, https://ahvalnews.com/pandemic/turkey-registers-record-covid-19-death-toll-362-over-60000-new-cases, Zugriff 22.4.2021

         AP – Associated Press (30.4.2021): Despite 3-week lockdown, many remain on the move in Turkey, https://apnews.com/article/middle-east-europe-turkey-religion-coronavirus-de48eb49ba5ade8961f87adee48cec4c, Zugriff 3.5.2021

         AP – Associated Press (27.4.2021): Full COVID-19 lockdown adds to financial strain in Turkey, https://apnews.com/article/istanbul-recep-tayyip-erdogan-arts-and-entertainment-lifestyle-health-3151b3d113058d455ac44bca8ad71817, Zugriff 28.4.2021

         AP – Associated Press (18.4.2021): Turkey reports record daily number of COVID-19 deaths, https://apnews.com/article/general-news-health-religion-turkey-51616e9efa1032384fa2282efc499261, Zugriff 21.4.2021

         BAMF – Bundesamt für Migration und Flüchtlinge [Deutschland] (30.11.2020): Briefing Notes, KW 49, https://www.bamf.de/SharedDocs/Anlagen/DE/Behoerde/Informationszentrum/BriefingNotes/2020/briefingnotes-kw49-2020.pdf?__blob=publicationFile&v=4, Zugriff 6.5.2021

         DS – Daily Sabah (11.3.2020): Turkey remains firm, calm as first coronavirus case confirmed, https://www.dailysabah.com/turkey/turkey-remains-firm-calm-as-first-coronavirus-case-confirmed/news, Zugriff 30.12.2020

         DW – Deutsche Welle (3.4.2021): Die dritte Corona-Welle überrollt die Türkei, https://www.dw.com/de/die-dritte-corona-welle-%C3%Bcberrollt-die-t%C3%Bcrkei/a-57087784, Zugriff 21.4.2021

         FNS – Friedrich-Naumann-Stiftung (16.3.2020): Türkei Bulletin 5-2020, http://shop.freiheit.org/download/P2@876/248113/05-2020-T%C3%Bcrkei-Bulletin.pdf, Zugriff 30.12.2020

         Garda World (27.4.2021): Turkey: Government exempts foreign tourists from nationwide COVID-19 lockdown April 29-May 17 /update 39, https://www.garda.com/crisis24/news-alerts/472106/turkey-government-exempts-foreign-tourists-from-nationwide-covid-19-lockdown-april-29-may-17-update-39, Zugriff 29.4.2021

         Garda World (13.4.2021): Turkey: Government to tighten domestic COVID-19-related restrictions April 14-27 /update 36, https://www.garda.com/crisis24/news-alerts/466616/turkey-government-to-tighten-domestic-covid-19-related-restrictions-april-14-27-update-36, Zugriff 21.4.2021
Garda World (1.3.2021): Turkey: Authorities ease certain COVID-19-related domestic restrictions as of March 1 /update 33, https://www.garda.com/crisis24/news-alerts/449486/turkey-authorities-ease-certain-covid-19-related-domestic-restrictions-as-of-march-1-update-33, Zugriff 21.4.2021

         JHU – Johns Hopkins University & Medicine (3.5.2021): COVID-19 Dashboard by the Center for Systems Science and Engineering (CSSE) at Johns Hopkins University (JHU), https://coronavirus.jhu.edu/map.html, Zugriff 3.5.2021

         Reuters (26.3.2021): Turkish medics call for tougher measures as COVID-19 surges, https://www.reuters.com/article/us-health-coronavirus-turkey-healthcare-idUKKBN2BI2SK, Zugriff 21.4.2021

         WKO – Wirtschaftskammer Österreich (27.4.2020): Coronavirus: Situation in der Türkei, https://www.wko.at/service/aussenwirtschaft/coronavirus-infos-tuerkei.html#heading_Schutzmassnahmen_und_Geschaeftsleben, Zugriff 28.4.2021

         WKO – Wirtschaftskammer Österreich (21.1.2020): Coronavirus: Situation in der Türkei, https://www.wko.at/service/aussenwirtschaft/coronavirus-infos-tuerkei.html#heading_Schutzmassnahmen_und_Geschaeftsleben, Zugriff 25.1.2021

Politische Lage

Letzte Änderung: 05.05.2021

Die Türkei ist eine Präsidialrepublik und laut Art. 2 ihrer Verfassung ein demokratischer, laizistischer und sozialer Rechtsstaat auf der Grundlage öffentlichen Friedens, nationaler Solidarität, Gerechtigkeit und der Menschenrechte. Staats- und zugleich Regierungschef ist seit Einführung des präsidialen Regierungssystems am 9.7.2018 der Staatspräsident, der die politischen Geschäfte führt (AA 24.8.2020; vgl. DFAT 10.9.2020).

Entgegen den Behauptungen der Regierungspartei zugunsten des neuen präsidialen Regierungssystems ist nach dessen Einführung das Parlament geschwächt, die Gewaltenteilung ausgehöhlt, die Justiz politisiert, die Institutionen verkrüppelt und es herrschen autoritäre Praktiken (SWP 4.2021, S.2). Die Verfassungsarchitektur ist weiterhin von einer fortschreitenden Zentralisierung der Befugnisse im Bereich des Präsidentenamtes geprägt, ohne eine solide und wirksame Gewaltenteilung zwischen Exekutive, Legislative und Judikative zu gewährleisten (EC 29.5.2019).

Die Konzentration der Exekutivgewalt in einer Person bedeutet, dass der Präsident gleichzeitig die Befugnisse des Premierministers und des Ministerrats (Kabinetts) übernimmt, die beide durch das neue System abgeschafft wurden (Art.8). Die Minister werden nun nicht mehr aus den Reihen der Parlamentarier, sondern von außen gewählt; sie werden vom Präsidenten ohne Beteiligung des Parlaments ernannt und entlassen und damit auf den Status eines politischen Staatsbeamten reduziert (SWP 4.2021, S.9).

Da es keinen wirksamen Kontroll- und Ausgleichsmechanismus gibt, bleibt die demokratische Rechenschaftspflicht der Exekutive auf Wahlen beschränkt. Unter diesen Bedingungen setzten sich die gravierenden Rückschritte bei der Achtung demokratischer Normen, der Rechtsstaatlichkeit und der bürgerlichen Freiheiten fort. Die politische Polarisierung verhindert einen konstruktiven parlamentarischen Dialog. Die parlamentarische Kontrolle über die Exekutive bleibt schwach. Unter dem Präsidialsystem sind viele Regulierungsbehörden und die Zentralbank direkt mit dem Präsidentenamt verbunden, wodurch deren Unabhängigkeit untergraben wird. Mehrere Schlüsselinstitutionen, wie der Generalstab, der Nationale Nachrichtendienst, der Nationale Sicherheitsrat und der Souveräne Wohlfahrtsfonds, sind dem Büro des Präsidenten angegliedert worden (EC 29.5.2019). Der öffentliche Dienst wurde politisiert, insbesondere durch weitere Ernennungen von politischen Beauftragten auf der Ebene hoher Beamter und die Senkung der beruflichen Anforderungen an die Amtsinhaber (EC 6.10.2020).

Der Europarat leitete im April 2017 im Zuge der Verfassungsänderung, welche zur Errichtung des Präsidialsystems führte, ein parlamentarisches Monitoring über die Türkei als dessen Mitglied ein, um mögliche Fehlentwicklungen aufzuzeigen. Die Parlamentarische Versammlung des Europarates (PACE) stellte in ihrer Resolution vom April 2021 fest, dass zu den schwerwiegendsten Problemen die mangelnde Unabhängigkeit der Justiz, das Fehlen ausreichender Garantien für die Gewaltenteilung und die gegenseitige Kontrolle, die Einschränkung der Meinungs- und Medienfreiheit, die missbräuchliche Auslegung der Anti-Terror-Gesetzgebung, die Nichtumsetzung von Urteilen des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte, die Einschränkung des Schutzes der Menschen- und Frauenrechte und die Verletzung der Grundrechte von Politikern und (ehemaligen) Parlamentsmitgliedern der Opposition, Rechtsanwälten, Journalisten, Akademikern und Aktivisten der Zivilgesellschaft gehören (PACE 22.4.2021, S.1).

Der Präsident wird für eine Amtszeit von fünf Jahren direkt gewählt und kann bis zu zwei Amtszeiten innehaben, mit der Möglichkeit einer dritten Amtszeit, wenn während der zweiten Amtszeit vorgezogene Präsidentschaftswahlen ausgerufen werden. Erhält kein Kandidat in der ersten Runde die absolute Mehrheit der gültigen Stimmen, findet eine Stichwahl zwischen den beiden stimmenstärksten Kandidaten statt. Die 600 Mitglieder des Einkammerparlaments werden durch ein proportionales System mit geschlossenen Parteienlisten bzw. unabhängigen Kandidaten in 87 Wahlkreisen für eine Amtszeit von fünf (vor der Verfassungsänderung vier) Jahren gewählt. Wahlkoalitionen sind erlaubt. Die Zehn-Prozent-Hürde, die höchste unter den OSZE-Mitgliedstaaten, wurde trotz der langjährigen Empfehlung internationaler Organisationen und der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) nicht gesenkt. Die unter der Militärherrschaft verabschiedete Verfassung garantiert die Grundrechte und -freiheiten nicht ausreichend, da sie sich auf Verbote zum Schutze des Staates konzentriert und der Gesetzgebung erlaubt, weitere unangemessene Einschränkungen festzulegen. Die Vereinigungs-, Versammlungs- und Meinungsfreiheit und das Wahlrecht selbst werden durch die Verfassung und die Gesetzgebung übermäßig eingeschränkt (OSCE/ODIHR 21.9.2018).

Am 16.4.2017 stimmten 51,4% der türkischen Wählerschaft für die von der regierenden Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung (AKP) initiierte und von der rechts-nationalistischen Partei der Nationalistischen Bewegung (MHP) unterstützte Verfassungsänderung im Sinne eines exekutiven Präsidialsystems (OSCE 22.6.2017; vgl. HDN 16.4.2017). Die gemeinsame Beobachtungsmisson der OSZE und PACE kritisierte die ungleichen Wettbewerbsbedingungen beim Referendum. Einschränkungen von grundlegenden Freiheiten aufgrund des Ausnahmezustands hatten negative Auswirkungen. Im Vorfeld des Referendums wurden Journalisten und Gegner der Verfassungsänderung behindert, verhaftet und fallweise physisch attackiert. Mehrere hochrangige Politiker und Beamte, darunter der Staatspräsident und der Regierungschef setzten die Unterstützer der Nein-Kampagne mit Terror-Sympathisanten oder Unterstützern des Putschversuchs vom Juli 2016 gleich (OSCE/PACE 17.4.2017).

Bei den vorgezogenen Präsidentschaftswahlen am 24.6.2018 errang Amtsinhaber Recep Tayyip Erdo?an mit 52,6% der Stimmen bereits im ersten Wahlgang die nötige absolute Mehrheit für die Wiederwahl. Bei den gleichzeitig stattfindenden Parlamentswahlen erhielt die regierende AKP 42,6% der Stimmen und 295 der 600 Sitze im Parlament. Zwar verlor die AKP die absolute Mehrheit, doch durch ein Wahlbündnis mit der rechts-nationalistischen MHP unter dem Namen „Volksbündnis“ verfügt sie über eine Mehrheit im Parlament. Die kemalistisch-sekulare Republikanische Volkspartei (CHP) gewann 22,6% bzw. 146 Sitze und ihr Wahlbündnispartner, die national-konservative ?yi-Partei, eine Abspaltung der MHP, 10% bzw. 43 Mandate. Drittstärkste Partei wurde die pro-kurdische Demokratische Partei der Völker (HDP) mit 11,7% und 67 Mandaten (HDN 27.6.2018). Trotz einer echten Auswahl bestand keine Chancengleichheit zwischen den kandidierenden Parteien. Der amtierende Präsident und seine AKP genossen einen beachtlichen Vorteil, der sich auch in einer übermäßigen Berichterstattung der staatlichen und privaten Medien zu ihren Gunsten widerspiegelte. Zudem missbrauchte die regierende AKP staatliche Verwaltungsressourcen für den Wahlkampf. Der restriktive Rechtsrahmen und die unter dem (damals noch) geltenden Ausnahmezustand gewährten Machtbefugnisse schränkten die Versammlungs- und Meinungsfreiheit, auch in den Medien, ein (OSCE/ODIHR 21.9.2018).

Am 23.6.2019 fand in Istanbul die Wiederholung der Bürgermeisterwahl statt. Diese war von nationaler Bedeutung, da ein Fünftel der türkischen Bevölkerung in Istanbul lebt und die Stadt ein Drittel des Bruttonationalproduktes erwirtschaftet (NZZ 23.6.2019). Bei der ersten Wahl am 31.3.2019 hatte der Kandidat der oppositionellen CHP, Ekrem ?mamo?lu, mit einem Vorsprung von nur 13.000 Stimmen gewonnen. Die regierende AKP hatte jedoch das Ergebnis angefochten, sodass die Hohe Wahlkommission am 6.5.2019 schließlich die Wahl wegen formaler Fehler bei der Besetzung einiger Wahlkomitees annullierte (FAZ 23.6.2019; vgl. Standard 23.6.2019). ?mamo?lu gewann die wiederholte Wahl mit 54%. Der Kandidat der AKP, Ex-Premierminister Binali Y?ld?r?m, erreichte 45% (Anadolu 23.6.2019). Die CHP löste damit die AKP nach einem Vierteljahrhundert als regierende Partei in Istanbul ab (FAZ 23.6.2019). Bei den Lokalwahlen vom 30.3.2019 hatte die AKP von Staatspräsident Erdo?an bereits die Hauptstadt Ankara (nach 20 Jahren) sowie die Großstädte Adana, Antalya und Mersin an die Opposition verloren. Ein wichtiger Faktor war der Umstand, dass die pro-kurdische HDP auf eine Kandidatur im Westen des Landes verzichtete (Standard 1.4.2019) und deren inhaftierter Vorsitzende, Selahattin Demirta?, auch bei der Wahlwiederholung seine Unterstützung für ?mamo?lu betonte (NZZ 23.6.2019).

Die Gesetzgebungsverfahren sind nicht effektiv. Präsidialdekrete bleiben der parlamentarischen Beratung und Kontrolle entzogen (EC 6.10.2020; vgl. ÖB 10.2020). Präsidialdekrete können nur noch vom Verfassungsgericht aufgehoben werden (ÖB 10.2020) und zwar nur noch durch eine Klage von einer der beiden größten Parlamentsfraktionen oder von einer Gruppe von Abgeordneten, die ein Fünftel der Parlamentssitze repräsentieren (SWP 4.2021, S.9). Parlamentarier haben kein Recht, mündliche Anfragen zu stellen. Schriftliche Anfragen können nur an den Vizepräsident und Minister gerichtet werden. Der Rechtsrahmen verankert zwar den Grundsatz des Vorrangs von Gesetzen vor Präsidialdekreten und bewahrt somit das Vorrecht des Parlaments, nichtsdestotrotz hat der Präsident bis Dezember 2019 53 Dekrete erlassen, die ein breites Spektrum sozioökonomischer Politikbereiche abdecken und eben nicht in den Geltungsbereich von Präsidialdekreten fallen (EC 6.10.2020). Der Präsident hat die Befugnis hochrangige Regierungsbeamte zu ernennen und zu entlassen, die nationale Sicherheitspolitik festzulegen und die erforderlichen Durchführungsmaßnahmen zu ergreifen, den Ausnahmezustand auszurufen; Präsidialdekrete zu Exekutivangelegenheiten außerhalb des Gesetzes zu erlassen, das Parlament indirekt aufzulösen, indem er Parlaments- und Präsidentschaftswahlen ausruft, das Regierungsbudget zu erstellen und 4 von 13 Mitgliedern des Rates der Richter und Staatsanwälte sowie 12 von 15 Richtern des Verfassungsgerichtshofes zu ernennen. Wenn drei Fünftel des Parlamentes zustimmen, kann dieses eine parlamentarische Untersuchung mutmaßlicher strafrechtlicher Handlungen des Präsidenten, der Vizepräsidenten und der Minister im Zusammenhang mit ihren Aufgaben einleiten. Der Präsident darf keine Dekrete in Bereichen erlassen, die durch die Verfassung der Legislative vorbehalten sind. Der Präsident hat jedoch das Recht, gegen jedes Gesetz ein Veto einzulegen, obgleich das Parlament mit absoluter Mehrheit ein solches Veto außer Kraft setzen kann, während das Parlament nur beim Verfassungsgericht die Nichtigkeitserklärung von Präsidialdekreten beantragen kann (EC 29.5.2019).

Der Präsident kann einen Ausnahmezustand selbständig ausrufen. Die zulässigen Gründe sind extrem weit gefasst. Im Ausnahmezustand gibt es keine Grenzen für die Reichweite von Präsidialdekreten. Gegen diese ist kein Einspruch beim Verfassungsgericht möglich (SWP 4.2021, S.9).

Zunehmende politische Polarisierung verhindert weiterhin einen konstruktiven parlamentarischen Dialog. Die Marginalisierung der Opposition, insbesondere der HDP, hält an. Viele der HDP-Abgeordneten sowie deren beide ehemaligen Ko-Vorsitzende befinden sich nach wie vor in Haft (Stand Ende Dezember 2020), im Falle von Selahattin Demirta? trotz eines neuerlichen Urteils des EGMR, diesen sofort frei zu lassen (ZO 22.12.2020). Von den ursprünglichen, bei der Wahl 2018 errungenen 67 Mandaten (HDN 27.6.2018) waren nach der Aufhebung der parlamentarischen Immunität des HDP-Abgeordneten, Ömer Faruk Gergerlio?lu, am 17.3.2021 und dessen Verhaftung bzw. Bekräftigung des Gerichtsurteils vom Februar 2018 von zweieinhalb Jahren Freiheitsstrafe nur mehr 55 HDP-Parlamentarier übrig (AM 17.3.2021; vgl. AAN 17.3.2021) Die Unzulänglichkeiten des Systems der parlamentarischen Immunität, das die Meinungsfreiheit von gewählten Amtsträgern außerhalb des Parlaments einschränkt, bleiben ungelöst (EC 6.10.2020).

PACE beanstandete in ihrer Resolution vom April 2021 das schwache Rahmenwerk zum Schutze der parlamentarischen Immunität in der Türkei. PACE stellte mit Besorgnis fest, dass ein Drittel der Parlamentarier von Gerichtsverfahren betroffen ist und ihre Immunität aufgehoben werden könnte. Überwiegend Parlamentarier der Opposition sind von diesen Verfahren betroffen, wobei von diesen wiederum die Parlamentarier der HDP mehrheitlich betroffen sind. Auf letztere entfallen 75% der Verfahren, zumeist wegen terrorismusbezogener Anschuldigungen. Drei Abgeordnete der HDP verloren ihre Mandate in den Jahren 2020 und 2021 nach rechtskräftigen Verurteilungen wegen Terrorismus, während neun HDP-Parlamentarier (Stand April 2021

Quelle: Bundesverwaltungsgericht BVwg, https://www.bvwg.gv.at
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