TE Vwgh Beschluss 2021/8/25 Ra 2021/19/0125

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Veröffentlicht am 25.08.2021
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Index

10/01 Bundes-Verfassungsgesetz (B-VG)
10/07 Verwaltungsgerichtshof
19/05 Menschenrechte
41/02 Passrecht Fremdenrecht

Norm

AsylG 2005 §8 Abs1
B-VG Art133 Abs4
MRK Art3
VwGG §28 Abs3
VwGG §34 Abs1
VwGG §41

Betreff

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch die Vorsitzende Senatspräsidentin Dr. Büsser sowie den Hofrat Dr. Faber und die Hofrätin Dr. Funk-Leisch als Richter, unter Mitwirkung der Schriftführerin Mag.a Seiler, in der Revisionssache des A L, alias L, vertreten durch Mag. Dr. Helmut Blum, L.L.M., Rechtsanwalt in 4020 Linz, Mozartstraße 11/6, gegen das Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichts vom 10. März 2021, W265 2210086-1/17E, betreffend Angelegenheiten nach dem AsylG 2005 und dem FPG (belangte Behörde vor dem Verwaltungsgericht: Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl), den Beschluss gefasst:

Spruch

Die Revision wird zurückgewiesen.

Begründung

1        Der Revisionswerber, ein Staatsangehöriger Afghanistans, stellte am 30. August 2016 einen Antrag auf internationalen Schutz.

2        Mit Bescheid vom 25. Oktober 2018 wies das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl den Antrag des Revisionswerbers ab, erteilte ihm keinen Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen, erließ gegen ihn eine Rückkehrentscheidung, stellte fest, dass die Abschiebung des Revisionswerbers nach Afghanistan zulässig sei, und legte eine Frist für die freiwillige Ausreise fest.

3        Mit dem angefochtenen Erkenntnis wies das Bundesverwaltungsgericht (BVwG) die dagegen erhobene Beschwerde des Revisionswerbers nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung als unbegründet ab und sprach aus, dass die Revision nicht zulässig sei. Begründend führte das BVwG - soweit für das Revisionsverfahren relevant - hinsichtlich der Nichtzuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten zusammengefasst aus, dem Revisionswerber sei eine Rückkehr in seine Heimatprovinz Kabul aufgrund der dort herrschenden schlechten Sicherheitslage nicht möglich. Es bestehe jedoch eine zumutbare innerstaatliche Fluchtalternative in der Stadt Mazar-e Sharif, in der die Lebensgrundlage des jungen, gesunden Revisionswerbers im Hinblick auf sein Alter, seine Arbeitsfähigkeit, seinen Gesundheitszustand sowie seine Schulbildung auch ohne soziales Netzwerk ausreichend gesichert sei.

4        Nach Art. 133 Abs. 4 B-VG ist gegen ein Erkenntnis des Verwaltungsgerichtes die Revision zulässig, wenn sie von der Lösung einer Rechtsfrage abhängt, der grundsätzliche Bedeutung zukommt, insbesondere weil das Erkenntnis von der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes abweicht, eine solche Rechtsprechung fehlt oder die zu lösende Rechtsfrage in der bisherigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes nicht einheitlich beantwortet wird.

5        Nach § 34 Abs. 1 VwGG sind Revisionen, die sich wegen Nichtvorliegens der Voraussetzungen des Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zur Behandlung eignen, ohne weiteres Verfahren mit Beschluss zurückzuweisen.

6        Nach § 34 Abs. 1a VwGG ist der Verwaltungsgerichtshof bei der Beurteilung der Zulässigkeit der Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG an den Ausspruch des Verwaltungsgerichtes gemäß § 25a Abs. 1 VwGG nicht gebunden. Die Zulässigkeit einer außerordentlichen Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG hat der Verwaltungsgerichtshof im Rahmen der dafür in der Revision vorgebrachten Gründe (§ 28 Abs. 3 VwGG) zu überprüfen.

7        Nach der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes ist die Rechtmäßigkeit der Entscheidung des BVwG gemäß § 41 VwGG auf der Grundlage der Sach- und Rechtslage zum Zeitpunkt der Erlassung des angefochtenen Erkenntnisses zu prüfen (vgl. etwa VwGH 27.6.2017, Ra 2017/18/0005, mwN). Dementsprechend entziehen sich Änderungen der Sach- und Rechtslage, die sich nach Erlassung des angefochtenen Erkenntnisses ereignet haben, einer Prüfung im gegenständlichen Revisionsverfahren.

8        Die Revision wendet sich gegen die Nichtzuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten und bringt zur Begründung ihrer Zulässigkeit vor, das BVwG habe die Feststellungen zur Ansiedelung des Revisionswerbers in Mazar-e Sharif auf Berichte zur Wirtschafts- und Versorgungslage gestützt, die teilweise noch aus 2019 stammen würden und daher - insbesondere im Hinblick auf die wirtschaftlichen Auswirkungen der COVID-19 Pandemie - veraltet seien. Außerdem habe sich das BVwG mit seinen eigenen, „aktuelleren“ Feststellungen zur Rückkehrsituation nicht ausreichend und insofern unvertretbar auseinandergesetzt. Das BVwG habe nicht geprüft, ob der Revisionswerber bei einer Ansiedelung in Mazar-e Sharif von seinen in Afghanistan lebenden Verwandten unterstützt werden könne. Da dem Revisionswerber kein Unterstützungsnetzwerk zur Verfügung stehe, würde er bei einer Rückkehr in eine aussichtslose Lage geraten.

9        Nach der ständigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes haben die Asylbehörden bei den Feststellungen zur Lage im Herkunftsstaat als Grundlage für die Beurteilung des Vorbringens von Asylwerbern die zur Verfügung stehenden Informationsmöglichkeiten und insbesondere Berichte der mit Flüchtlingsfragen befassten Organisationen in die Entscheidung einzubeziehen. Das gilt ebenso für von einem Verwaltungsgericht geführte Asylverfahren. Auch das Bundesverwaltungsgericht hat daher seinem Erkenntnis die zum Entscheidungszeitpunkt aktuellen Länderberichte zugrunde zu legen. Bei instabilen und sich rasch ändernden Verhältnissen im Herkunftsstaat können auch zeitlich nicht lange zurückliegende Berichte ihre Aktualität bereits verloren haben. Es reicht aber nicht aus, die Außerachtlassung von Verfahrensvorschriften zu behaupten, ohne die Relevanz der behaupteten Verfahrensmängel aufzuzeigen (vgl. VwGH 24.2.2021, Ra 2021/19/0017, mwN).

10       Der Verwaltungsgerichtshof hat in seiner Rechtsprechung bereits mehrfach dargestellt, welche Kriterien erfüllt sein müssen, um von einer zumutbaren innerstaatlichen Fluchtalternative sprechen zu können (vgl. dazu grundlegend VwGH 23.1.2018, Ra 2018/18/0001; sowie etwa VwGH 25.5.2020, Ra 2019/19/0192). Nach der ständigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes stellt die Frage der Zumutbarkeit der Inanspruchnahme einer innerstaatlichen Fluchtalternative letztlich eine - von der Asylbehörde bzw. dem Verwaltungsgericht zu treffende - Entscheidung im Einzelfall dar, die auf der Grundlage ausreichender Feststellungen über die zu erwartende Lage des Asylwerbers in dem in Frage kommenden Gebiet sowie dessen sichere und legale Erreichbarkeit zu treffen ist (vgl. etwa VwGH 8.6.2021, Ra 2019/19/0190, mwN).

11       Nach der ständigen Judikatur des Verwaltungsgerichtshofes reicht eine schwierige Lebenssituation, insbesondere bei der Arbeitsplatz- und Wohnraumsuche sowie in wirtschaftlicher Hinsicht, die ein Fremder im Fall der Rückkehr in sein Heimatland vorfinden würde, für sich betrachtet nicht aus, um die Verletzung des nach Art. 3 EMRK geschützten Rechts mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit annehmen zu können oder um die Zumutbarkeit einer innerstaatlichen Fluchtalternative zu verneinen. Im Besonderen hinsichtlich der aktuellen COVID-19-Pandemie in Afghanistan hat der Verwaltungsgerichtshof festgehalten, dass für sich nicht entscheidungswesentlich ist, wenn sich für einen Asylwerber infolge der seitens afghanischer Behörden zur Verhinderung der Verbreitung des SARS-CoV-2-Virus und von Erkrankungen an COVID-19 gesetzten Maßnahmen die Wiedereingliederung im Heimatland wegen schlechterer wirtschaftlicher Aussichten schwieriger als vor Beginn dieser Maßnahmen darstellt, weil es darauf bei der Frage, ob im Fall seiner Rückführung eine Verletzung des Art. 3 EMRK zu gewärtigen ist, nicht ankommt, solange diese Maßnahmen nicht dazu führen, dass die Sicherung der existenziellen Grundbedürfnisse als nicht mehr gegeben anzunehmen wäre. Entsprechendes gilt auch für die Beurteilung der Zumutbarkeit der Inanspruchnahme einer innerstaatlichen Fluchtalternative (vgl. VwGH 25.3.2021, Ra 2021/19/0057, mwN).

12       Das BVwG traf im vorliegenden Fall Feststellungen zur Wirtschafts- und Versorgungslage in Mazar-e Sharif insbesondere im Hinblick auf die COVID-19-Pandemie und stützte diese Feststellungen auf das Länderinformationsblatt der Staatendokumentation in der Fassung vom 16. Dezember 2020. Das BVwG prüfte unter Zugrundelegung von Kriterien der UNHCR-Richtlinien zur Feststellung des internationalen Schutzbedarfs afghanischer Asylsuchender vom August 2018 und der EASO-Country Guidance vom Juni 2019 konkret auf die persönlichen Umstände des Revisionswerbers bezogen die Sicherheitslage, die Erreichbarkeit, den Zugang zu Unterkunft und die Möglichkeit des Revisionswerbers, in Mazar-e Sharif wirtschaftlich zu überleben. Das BVwG ging davon aus, der junge, gesunde und arbeitsfähige Revisionswerber, der Pashtu spreche, den überwiegenden Teil seines Lebens in Afghanistan verbracht habe und mit den dortigen sozialen Normen und Gepflogenheiten vertraut sei, der Rückkehrhilfe in Anspruch nehmen könne, über Schulbildung in Afghanistan und Arbeitserfahrung in Österreich verfüge und keinem Personenkreis angehöre, der besonders schutzbedürftig sei, könne in Mazar-e Sharif nach anfänglichen Schwierigkeiten Fuß fassen und sich dort auch ohne soziales Netzwerk eine Existenz ohne unbillige Härten aufbauen. Die Revision zeigt mit ihrem allgemeinen Vorbringen nicht auf, dass diese Beurteilung fallbezogen mit einer vom Verwaltungsgerichtshof wahrzunehmenden Mangelhaftigkeit belastet oder fallbezogen unvertretbar wäre (vgl. zur Zumutbarkeit einer innerstaatlichen Fluchtalternative in bestimmten Gebieten Afghanistans auch ohne soziale und familiäre Kontakte etwa VwGH 9.2.2021, Ra 2021/19/0021, mwN).

13       Die Revision bringt zur Begründung ihrer Zulässigkeit des Weiteren vor, das BVwG habe entgegen der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes bei der Prüfung der Rückkehrentscheidung keine „Gesamtabwägung“ der in § 9 BVA-VG angeführten Kriterien vorgenommen, sondern lediglich einzelne Integrationsgründe und Umstände herausgegriffen.

14       Nach der ständigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes ist eine unter Bedachtnahme auf die jeweiligen Umstände des Einzelfalls in Form einer Gesamtbetrachtung durchgeführte Interessenabwägung im Sinn des Art. 8 EMRK im Allgemeinen - wenn kein revisibler Verfahrensmangel aufgezeigt wird und sie in vertretbarer Weise im Rahmen der von der Rechtsprechung entwickelten Grundsätze vorgenommen wurde - nicht revisibel (vgl. VwGH 6.7.2021, Ra 2021/19/0200, mwN).

15       Mit dem pauschalen Vorbringen, das BVwG habe ohne „Gesamtabwägung“ bloß einzelne „Integrationsgründe und Umstände“ herausgegriffen, um das Überwiegen des öffentlichen Interesses zu begründen, verabsäumt es die Revision, konkret jene Umstände zu bezeichnen, die unberücksichtigt geblieben wären oder denen nicht ihr entsprechendes Gewicht beigemessen worden wäre. Die Revision vermag daher nicht aufzuzeigen, dass das BVwG seine Interessenabwägung in einer unvertretbaren Weise vorgenommen hätte oder die Gewichtung der einbezogenen Umstände den in der Rechtsprechung aufgestellten Leitlinien widerspräche (vgl. etwa VwGH 7.6.2021, Ra 2021/18/0170, mwN).

16       In der Revision werden keine Rechtsfragen aufgeworfen, denen im Sinne des Art. 133 Abs. 4 B-VG grundsätzliche Bedeutung zukäme. Die Revision war daher zurückzuweisen.

Wien, am 25. August 2021

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:VWGH:2021:RA2021190125.L00

Im RIS seit

17.09.2021

Zuletzt aktualisiert am

04.10.2021
Quelle: Verwaltungsgerichtshof VwGH, http://www.vwgh.gv.at
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