TE Vwgh Erkenntnis 2021/7/14 Ra 2021/14/0129

JUSLINE Entscheidung

Veröffentlicht am 14.07.2021
beobachten
merken

Index

E3R E19104000
41/02 Asylrecht
41/02 Passrecht Fremdenrecht

Norm

AsylG 2005 §5
BFA-VG 2014 §21 Abs3
BFA-VG 2014 §21 Abs6a
BFA-VG 2014 §21 Abs7
32013R0604 Dublin-III

Betreff

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Präsident Dr. Thienel und die Hofrätinnen Mag. Schindler und Dr.in Sembacher als Richter, unter Mitwirkung der Schriftführerin Mag. Gnilsen, über die Revision der A B, vertreten durch Mag. Nadja Lorenz, Rechtsanwältin in 1070 Wien, Burggasse 116, gegen das Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichts vom 4. März 2021, W144 2158343-2/2E, betreffend Angelegenheiten nach dem AsylG 2005 und dem FPG (belangte Behörde vor dem Verwaltungsgericht: Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl), zu Recht erkannt:

Spruch

Das angefochtene Erkenntnis wird wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufgehoben.

Der Bund hat der Revisionswerberin Aufwendungen in der Höhe von € 1.106,40 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.

Begründung

1        Die Revisionswerberin ist Staatsangehörige Syriens und stellte am 10. Februar 2017 einen Antrag auf internationalen Schutz nach dem Asylgesetz 2005 (AsylG 2005), der mit Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl (BFA) vom 27. April 2017, ohne in die Sache einzutreten, gemäß § 5 Abs. 1 AsylG 2005 als unzulässig zurückgewiesen wurde, weil Deutschland für die Prüfung des Antrags zuständig sei. Unter einem wurde gemäß § 61 Abs. 1 Z 1 Fremdenpolizeigesetz 2005 (FPG) die Außerlandesbringung der Revisionswerberin angeordnet. Eine dagegen an das Bundesverwaltungsgericht (BVwG) gerichtete Beschwerde wurde mit Erkenntnis vom 23. Juni 2017 abgewiesen und die Revisionswerberin nach Deutschland überstellt.

2        Am 18. August 2020 stellte die Revisionswerberin den gegenständlichen zweiten Antrag, den das BFA mit Bescheid vom 22. Dezember 2020 ebenfalls gemäß § 5 Abs. 1 AsylG 2005 als unzulässig zurückwies. Deutschland sei gemäß Art. 18 Abs. 1 lit. b Dublin-III-VO für die Prüfung des Antrags zuständig. Weiters wurde gemäß § 61 Abs. 1 Z 1 FPG die Außerlandesbringung der Revisionswerberin angeordnet und festgestellt, dass die Abschiebung der Revisionswerberin nach Deutschland gemäß § 61 Abs. 2 FPG zulässig sei.

3        Dagegen erhob die Revisionswerberin Beschwerde an das BVwG, in der sie unter anderem vorbrachte, das BFA habe sich mit ihrem in einer schriftlichen Stellungnahme und sodann in der Einvernahme erstatteten Vorbringen der Revisionswerberin, zwischen 2017 und 2020 in der Türkei gelebt zu haben ebensowenig auseinandergesetzt wie mit den dazu im Rahmen der Stellungnahme beim BFA vorgelegten Beweisen in Form eines Mietvertrages aus 2017 in türkischer Sprache (samt beglaubigter Übersetzung), einer Mietvereinbarung aus 2017 in türkischer Sprache (samt beglaubigter Übersetzung) sowie einer Bestätigung der Ortsvorsteherin der türkischen Wohnsitzgemeinde der Revisionswerberin aus 2019. Unter einem beantragte die Revisionswerberin die Durchführung einer mündlichen Verhandlung.

4        Mit dem angefochtenen Erkenntnis wies das BVwG - ohne eine Verhandlung durchzuführen - die Beschwerde der Revisionswerberin als unbegründet ab und erklärte die Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG als nicht zulässig.

5        Dagegen richtet sich die vorliegende außerordentliche Revision, die unter anderem rügt, das BVwG habe zu Unrecht von der Durchführung einer mündlichen Verhandlung abgesehen.

6        Das BFA hat im eingeleiteten Vorverfahren keine Revisionsbeantwortung erstattet.

7        Der Verwaltungsgerichtshof hat in einem gemäß § 12 Abs. 1 Z 2 VwGG gebildeten Senat erwogen:

8        Die Revision ist zulässig und auch berechtigt.

9        Die Verhandlungspflicht (bzw. Beschwerdestattgebung) folgt im Dublin-Verfahren besonderen Verfahrensvorschriften (§ 21 Abs. 3 und Abs. 6a BFA-Verfahrensgesetz (BFA-VG); vgl. VwGH 30.6.2016, Ra 2016/19/0072).

10       Der Verwaltungsgerichtshof hat in seiner Rechtsprechung bereits klargestellt, dass die in § 21 Abs. 6a BFA-VG enthaltene Wendung „unbeschadet des Abs. 7“ nur so verstanden werden kann, dass damit zum Ausdruck gebracht wird, dass eine Verhandlung jedenfalls immer dann zu unterbleiben hat, wenn die Voraussetzungen des § 21 Abs. 7 BFA-VG vorliegen. In einem solchen Fall stellt sich die Frage, ob nach § 21 Abs. 6a BFA-VG im Rahmen der Ermessensübung von der Durchführung der Verhandlung Abstand genommen werden kann, nicht mehr (vgl. grundlegend VwGH 30.6.2016, Ra 2016/19/0072; sowie aus der ständigen Rechtsprechung etwa VwGH 18.10.2018, Ra 2018/19/0356, mwN).

11       Der Verwaltungsgerichtshof geht in ständiger Rechtsprechung davon aus, dass für die Auslegung der in § 21 Abs. 7 BFA-VG enthaltenen und fallbezogen maßgeblichen Wendung „wenn der Sachverhalt aus der Aktenlage in Verbindung mit der Beschwerde geklärt erscheint“ folgende Kriterien beachtlich sind: Der für die rechtliche Beurteilung entscheidungswesentliche Sachverhalt muss von der Verwaltungsbehörde vollständig in einem ordnungsgemäßen Ermittlungsverfahren erhoben worden sein und bezogen auf den Zeitpunkt der Entscheidung des BVwG immer noch die gesetzlich gebotene Aktualität und Vollständigkeit aufweisen. Die Verwaltungsbehörde muss die die entscheidungsmaßgeblichen Feststellungen tragende Beweiswürdigung in ihrer Entscheidung in gesetzmäßiger Weise offen gelegt haben und das BVwG die tragenden Erwägungen der verwaltungsbehördlichen Beweiswürdigung teilen. In der Beschwerde darf kein dem Ergebnis des behördlichen Ermittlungsverfahrens entgegenstehender oder darüber hinausgehender für die Beurteilung relevanter Sachverhalt behauptet werden, wobei bloß unsubstantiiertes Bestreiten des von der Verwaltungsbehörde festgestellten Sachverhaltes ebenso außer Betracht bleiben kann wie ein Vorbringen, das gegen das in § 20 BFA-VG festgelegte Neuerungsverbot verstößt. Auf verfahrensrechtlich festgelegte Besonderheiten ist bei der Beurteilung Bedacht zu nehmen (vgl. grundlegend VwGH 28.5.2014, Ra 2014/20/0017, 0018, Pkt 5.12.; aus der folgenden Rechtsprechung etwa VwGH 8.3.2021, Ra 2020/14/0341).

12       Diesen Grundsätzen hat das BVwG im vorliegenden Fall nicht entsprochen:

13       Zum einen führte das BFA kein ordnungsgemäßes Ermittlungsverfahren durch, weil es die angebotenen Beweise der Revisionswerberin hinsichtlich des vorgebrachten Aufenthalts in der Türkei und das Vorbringen in der Einvernahme dazu überging. Indem die Revisionswerberin in ihrer Beschwerde diesen Umstand ausdrücklich rügte, trat sie den Feststellungen des BFA substantiiert entgegen.

14       Das BVwG nahm dieses Vorbringen in der Beschwerde - ohne weitere Ermittlungen zu tätigen - zum Anlass, die Beweiswürdigung gegenüber den Ausführungen des BFA nicht bloß unwesentlich zu ergänzen, indem es ausführte, dass der von der Revisionswerberin vorgelegte Mietvertrag auf einen anderen Namen als der der Revisionswerberin gelautet habe, da die Schreibweise des Namens divergiere, und kein Datum aufweise; auch würde die Unterschrift darauf von jener der Revisionswerberin im Akt abweichen. Es sei auch nicht plausibel, warum im Jahr 2020 eine Aufenthaltsbestätigung aus der Türkei vom 18. Juli 2019 vorgelegt worden wäre. Zudem habe die „BRD“ dem Wiederaufnahmegesuch zugestimmt.

15       Nach der zuvor zitierten Rechtsprechung sind die weitere Vorgehensweise des BVwG sowie die Zulässigkeit der Abstandnahme von einer mündlichen Verhandlung am Maßstab des § 21 Abs. 3 und 6a BFA-VG zu prüfen.

16       In diesem Zusammenhang geht der Verwaltungsgerichtshof davon aus, dass immer dann, wenn der Feststellung des entscheidungswesentlichen Sachverhaltes durch die Verwaltungsbehörde Ermittlungsmängel anhaften, die nicht vom BVwG in der für die Erledigung des - im Rahmen des asylrechtlichen Zulassungsverfahrens abzuwickelnden - Beschwerdeverfahrens gebotenen Eile beseitigt werden können, der Beschwerde gemäß § 21 Abs. 3 BFA-VG stattzugeben ist. Eine Verhandlung hat diesfalls zu unterbleiben. Ist hingegen davon auszugehen, dass das BVwG die Ermittlungsmängel rasch und ohne größeren Aufwand selbst beseitigen kann, hat es von einer Beschwerdestattgebung nach § 21 Abs. 3 zweiter Satz BFA-VG Abstand zu nehmen und die Ergänzung des Ermittlungsverfahrens (samt der Feststellung allfällig fehlenden Sachverhaltes) selbst vorzunehmen. Dabei hat es sich bei der Beurteilung gemäß § 21 Abs. 6a BFA-VG im Rahmen der Ermessensübung, ob eine Verhandlung durchzuführen ist, auch davon leiten zu lassen, ob die vorhandenen Ermittlungsmängel zweckmäßigerweise durch im Rahmen der Verhandlung vorzunehmende Beweisaufnahmen beseitigt werden können (vgl. VwGH 18.10.2018, Ra 2018/19/0356, mwN).

17       Fallbezogen liegen solche Ermittlungsmängel vor, weil es ausgehend von den nach der Aktenlage zur Verfügung stehenden Beweismitteln weiterer Ermittlungen zumindest durch eine ergänzende und nähere Befragung der Revisionswerberin zu dem von ihr vorgebrachten Aufenthalt in der Türkei und den dazu vorgelegten Urkunden bedurft hätte. Diese Ermittlungsmängel hätten vom BVwG durch eine im Rahmen der Verhandlung vorzunehmende Beweisaufnahme in der für das Zulassungsverfahren gebotenen Eile beseitigt werden können.

18       Die angefochtene Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichtes war sohin wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften gemäß § 42 Abs. 2 Z 3 lit. b und c VwGG aufzuheben.

19       Von der beantragten Durchführung einer mündlichen Verhandlung vor dem Verwaltungsgerichtshof konnte gemäß § 39 Abs. 2 Z 3 VwGG abgesehen werden.

20       Die Entscheidung über den Aufwandersatz gründet sich auf die §§ 47 ff VwGG in Verbindung mit der VwGH-Aufwandersatzverordnung 2014.

Wien, am 14. Juli 2021

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:VWGH:2021:RA2021140129.L00

Im RIS seit

06.08.2021

Zuletzt aktualisiert am

10.08.2021
Quelle: Verwaltungsgerichtshof VwGH, http://www.vwgh.gv.at
Zurück Haftungsausschluss Vernetzungsmöglichkeiten

Sofortabfrage ohne Anmeldung!

Jetzt Abfrage starten