TE Bvwg Erkenntnis 2021/4/2 W231 2237915-1

JUSLINE Entscheidung

Veröffentlicht am 02.04.2021
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Entscheidungsdatum

02.04.2021

Norm

AsylG 2005 §3 Abs1
AsylG 2005 §34 Abs3
AsylG 2005 §8 Abs1 Z1
AsylG 2005 §8 Abs5
B-VG Art133 Abs4

Spruch


W231 2237915-1/8E

IM NAMEN DER REPUBLIK!

Das Bundesverwaltungsgericht erkennt durch die Richterin Dr. Birgit HAVRANEK als Einzelrichterin über die Beschwerde von XXXX , geboren am XXXX , Staatsangehörigkeit Afghanistan, gesetzlich vertreten durch die Mutter XXXX , gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 13.11.2020, Zl. XXXX , zu Recht:

A)

Die Beschwerde gegen Spruchpunkt I. wird abgewiesen.

Der Beschwerde gegen Spruchpunkt II. wird stattgegeben und XXXX gemäß § 8 Abs. 1 Z 1 iVm § 34 Abs. 3 AsylG 2005 der Status der subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Afghanistan zuerkannt. Die übrigen Spruchpunkte werden ersatzlos behoben.

Gemäß § 8 Abs. 5 AsylG 2005 wird XXXX eine befristete Aufenthaltsberechtigung als subsidiär Schutzberechtigte bis zum 17.11.2021 erteilt.

B)

Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.


Text


Entscheidungsgründe:

I. Verfahrensgang:

I.1. Die Mutter der Beschwerdeführerin (BF) reiste am 20.11.2015 in das österreichische Bundesgebiet ein und stellten am selben Tag einen Antrag auf internationalen Schutz. Sie gab bei der Erstbefragung an, im Iran geboren und nie in Afghanistan gewesen zu sein. Zu ihrem Fluchtgrund befragt sagte sie aus, dass sie und ihre Familie nicht länger im Iran hätten bleiben dürfen. Da sie einer Minderheit (Hazara) angehöre, bestehe in Afghanistan große Gefahr.

I.2. Am 18.01.2018 bzw. 31.10.2017 wurden die Eltern der BF zu ihrem Antrag auf internationalen Schutz einvernommen. Die Mutter der BF legte im Wesentlichen dar, dass sie der Volksgruppe der Hazara und der schiitischen Religionsgemeinschaft zugehörig sei. Sie sei in Maschhad, Iran, geboren und aufgewachsen und noch nie in Afghanistan gewesen. Sie habe im Iran nicht studieren oder arbeiten dürfen. Sie sei diskriminiert worden, habe ein Kopftuch tragen müssen und habe im Iran weder Freiheit noch Sicherheit gehabt. Der Vater der BF gab als Fluchtgrund an, dass er Afghanistan wegen Bedrohungen durch einen fremden Mann Richtung Iran verlassen habe und er von dort jederzeit abgeschoben werden könnte, daher sei er Richtung Europa geflüchtet.

I.3. Mit Bescheid des BFA vom jeweils 11.04.2018 wurden die Anträge der Familie der BF (Mutter, Vater und in Österreich geborener älterer Schwester der BF) sowohl bezüglich der Zuerkennung des Status der Asylberechtigten (Spruchpunkt I.) als auch bezüglich der Zuerkennung des Status der subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Afghanistan (Spruchpunkt II.) abgewiesen. Ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen wurde nicht erteilt (Spruchpunkt III.); eine Rückkehrentscheidung wurde erlassen (Spruchpunkt IV.) und festgestellt, dass die Abschiebung nach Afghanistan zulässig sei (Spruchpunkt V.). Die Frist für die freiwillige Ausreise wurde mit 14 Tagen ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung festgesetzt (Spruchpunkt VI.).

I.4. Gegen diese Bescheide erhoben die Angehörigen vollumfängliche Beschwerden, die beim Bundesverwaltungsgericht zu den Zlen. W107 2196021-1, W107 2195773-1 und W107 2195809-1 anhängig waren.

I.5. Am XXXX wurde die BF in Österreich geboren. Als Vorname ebenso wie als Familienname ist in ihrer Geburtsurkunde „ XXXX “ eingetragen, so ergibt sich der Name „ XXXX “ im Verfahren. Am 09.10.2020 wurde ein Antrag auf internationalen Schutz für die BF gestellt, wobei ihre Mutter als gesetzliche Vertreterin keine eigenen Fluchtgründe für sie geltend machte. Mit angefochtenem Bescheid der belangten Behörde vom 13.11.2020, zugestellt am 19.11.2020, wurde der Antrag der BF sowohl bezüglich der Zuerkennung des Status der Asylberechtigten (Spruchpunkt I.) als auch bezüglich der Zuerkennung des Status der subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Afghanistan (Spruchpunkt II.) abgewiesen. Ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen wurde nicht erteilt (Spruchpunkt III.); eine Rückkehrentscheidung wurde erlassen (Spruchpunkt IV.) und festgestellt, dass die Abschiebung nach Afghanistan zulässig sei (Spruchpunkt V.). Die Frist für die freiwillige Ausreise wurde mit 14 Tagen ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung festgesetzt (Spruchpunkt VI.).

I.6. Gegen diesen Bescheid erhob die BF, vertreten durch ihre Mutter, am 16.12.2020 Beschwerde an das Bundesverwaltungsgericht. In der Beschwerde wird ausgeführt, die BF werde von ihren Eltern in Österreich liberal, frei von Zwängen und strikten Kleidungs- und Verhaltensvorschriften und nach „westlichen Werten“ erzogen. Die BF solle selbstbestimmt aufwachsen und eine solche Lebensführung wäre ihr in Afghanistan nicht möglich. Der BF würde in Afghanistan aufgrund der „westlichen“ Lebensweise Verfolgungsgefahr drohen.

I.7. Im Zuge der mündlichen Verhandlung vor dem Bundesverwaltungsgericht am 17.11.2020 zogen die Eltern der BF ihre Anträge betreffend § 3 AsylG 2005 zurück. Mit mündlich verkündeten Erkenntnissen vom 17.11.2020 stellte das Bundesverwaltungsgericht die Verfahren der Angehörigen der BF hinsichtlich der Beschwerden gegen Spruchpunkt I. wegen Zurückziehung der Beschwerden gem. §§ 28 Abs. 1, 31 Abs. 1 VwGVG ein. Den Beschwerden gegen Spruchpunkt II. gab das Bundesverwaltungsgericht statt und erkannte der Mutter und der älteren (mj.) Schwester der BF gem. § 8 Abs. 1 Z 1 AsylG 2005 den Status der subsidiär Schutzberechtigten zu. Der Vater der BF erhielt den Schutzstatus gem. § 8 Abs. 1 Z 1 iVm § 34 AsylG 2005.

I.8. Am 18.02.2021 wurde den Parteien im Verfahren das aktuelle Länderinformationsblatt der Staatendokumentation Afghanistan, Gesamtaktualisierung vom 16.12.2020, zur Stellungnahme übermittelt. Es wurde keine Stellungnahme abgegeben.

II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:

II.1. Feststellungen:

II.1.1. Zur Person der BF und ihrer Familie:

Die Eltern der BF sind volljährige Staatsangehörige von Afghanistan. Ihre Muttersprache ist Dari. Sie sind der Volksgruppe der Hazara zugehörig und bekennen sich zum Islam schiitischer Ausrichtung.

Die Mutter der BF ist in Maschhad, Iran geboren, lebte dort gemeinsam mit ihren Eltern und ihren Geschwistern und ist im Iran aufgewachsen. Sie hat nie in Afghanistan gelebt. In Afghanistan leben keine Angehörigen der Mutter der BF.

Der Vater der BF ist in Afghanistan in der Provinz Parwan geboren. Als der Vater etwa ein Jahr alt war, zog die Familie nach Kabul. Dort wuchs er auf und besuchte eine Schule. Anschließend übersiedelte er in den Iran, wo er bis zu seiner Ausreise zunächst in einer Fabrik und dann als Schneider arbeitete.

Die Eltern der BF leben seit 2016 in einer eheähnlichen Lebensgemeinschaft und in einem gemeinsamen Haushalt. Dieser Beziehung entstammen die am 18.08.2017 in Österreich geborene ältere Schwester der BF und die am XXXX in Österreich geborene BF.

Im Zuge der mündlichen Verhandlung vor dem Bundesverwaltungsgericht am 17.11.2020 zogen die Eltern der BF ihre Anträge betreffend § 3 AsylG 2005 zurück. Mit mündlich verkündeten Erkenntnissen des Bundesverwaltungsgerichtes von diesem Tag erhielten die Mutter (W107 2196021-1) und die Schwester (W107 2195809-1) der BF gemäß § 8 Abs. 1 Z 1 Asylgesetz 2005 den Status von subsidiär Schutzberechtigten in Österreich; der Vater (W107 2195773-1) erhielt diesen Status gemäß § 8 Abs. 1 Z 1 iVm § 34 Asylgesetz 2005. Die befristete Aufenthaltsberechtigung als subsidiär Schutzberechtigte wurde allen Angehörigen der BF bis zum 17.11.2021 erteilt. Diese Erkenntnisse sind rechtskräftig.

Die BF ist gesund.

II.1.2. Zu den Fluchtgründen der BF:

Für die BF wurden von ihrer Mutter als gesetzliche Vertreterin keine eigenen Fluchtgründe geltend gemacht.

Die BF konnte im Entscheidungszeitpunkt insgesamt nicht glaubhaft machen, dass sie im Fall einer Rückkehr nach Afghanistan mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit asylrelevante Übergriffe zu befürchten hätte.

II.1.3. Zur aktuellen Situation in Afghanistan werden folgende Feststellungen getroffen:

Auszug aus dem Länderinformationsblatt der Staatendokumentation des BFA zu Afghanistan vom 16.12.2020 (Gesamtaktualisierung, Schreibfehler teilweise korrigiert):

Allgemeine Menschenrechtslage:

Im Bereich der Menschenrechte hat Afghanistan unter schwierigen Umständen Fortschritte gemacht. Eine selbstbewusste neue Generation von Afghaninnen und Afghanen engagiert sich politisch, kulturell und sozial und verleiht der Zivilgesellschaft eine starke Stimme. Diese Fortschritte erreichen aber nicht alle Landesteile und sind außerhalb der Städte auch gegen willkürliche Entscheidungen von Amtsträgern und Gerichten sowie Einflussnahme örtlicher Machteliten nur schwer durchzusetzen. Afghanistan wurde 2017 erstmals zum Mitglied des Menschenrechtsrats der Vereinten Nationen für den Zeitraum 01.01.2018 - 31.12.2020 gewählt (AA 16.07.2020). Die Menschenrechte haben in Afghanistan eine klare gesetzliche Grundlage. Die 2004 verabschiedete afghanische Verfassung enthält einen umfassenden Grundrechtekatalog (AA 167.2020; vgl. CoA 261.2004). Darüber hinaus hat Afghanistan die meisten der einschlägigen völkerrechtlichen Verträge - zum Teil mit Vorbehalten - unterzeichnet und/oder ratifiziert. Die afghanische Regierung ist jedoch nicht in der Lage, die Menschenrechte vollumfänglich umzusetzen und zu gewährleisten (AA 16.07.2020).

Korruption und begrenzte Kapazitäten schränken den Zugang der Bürger zu Justiz in Bezug auf Verfassungs- und Menschenrechtsverletzungen ein (USDOS 11.03.2020). In der Praxis werden politische Rechte und Bürgerrechte durch Gewalt, Korruption, Nepotismus und fehlerbehaftete Wahlen eingeschränkt (FH 04.03.2020). Beschwerden gegen Menschenrechtsverletzungen können an die Afghan Independent Human Rights Commission (AIHRC) gemeldet werden, welche die Fälle nach einer Sichtung zur weiteren Bearbeitung an die Staatsanwaltschaft übermittelt. Einige Bürgerinnen berichten von Regierungsbeamten, die sexuelle Gefälligkeiten als Gegenleistung verlangen, wenn Frauen sich mit der Bitte um Dienstleistungen an Regierungseinrichtungen wenden. Die gemäß Verfassung eingesetzte AIHRC bekämpft Menschenrechtsverletzungen. Sie erhält nur minimale staatliche Mittel und stützt sich fast ausschließlich auf internationale Geldgeber. Innerhalb der Wolesi Jirga beschäftigen sich drei Arbeitsgruppen mit Menschenrechtsverletzungen: der Ausschuss für Geschlechterfragen, Zivilgesellschaft und Menschenrechte; das Komitee für Drogenbekämpfung, Rauschmittel und ethischen Missbrauch sowie der Jusitz-, Verwaltungsreform- und Antikorruptionsausschuss (USDOS 11.03.2020).

Präsident Ghani hat am 12.05.2018 eine Verordnung unterzeichnet, wonach ein unabhängiger Ombudsmann für Angelegenheiten des Präsidenten eingerichtet werden soll (SIGAR 5.2018). AIHRC entwickelte in Kooperation mit den Ministerien für Verteidigung und Inneres ein Ombudsmannprogramm, durch welches Polizeigewalt gemeldet werden kann (USDOD 12.2018; vgl. UNAMA 4.2019). Die Einrichtung dieses Ombudsmannprogramms wurde für 31.12.2018 angekündigt (SIGAR 5.2018), aber bisher noch nicht finanziert und umgesetzt (USDOD 12.2018).

Menschenrechtsverteidiger werden immer wieder sowohl von staatlichen als auch nicht-staatlichen Akteuren angegriffen; sie werden bedroht, eingeschüchtert, festgenommen und getötet. Maßnahmen, um Menschenrechtsverteidiger zu schützen, waren zum einen inadäquat, zum anderen wurden Misshandlungen gegen selbige selten untersucht (AI 30.01.2020). Die weit verbreitete Missachtung der Rechtsstaatlichkeit sowie die Straflosigkeit für Amtsträger, die Menschenrechte verletzen, stellen ernsthafte Probleme dar. Zu den bedeutendsten Menschenrechtsproblemen zählen außergerichtliche Tötungen, Verschwindenlassen, Folter, willkürliche Verhaftungen und Inhaftierungen, Unterdrückung von Kritik an Amtsträgern durch strafrechtliche Verfolgung von Kritikern im Rahmen der Verleumdungs-Gesetzgebung, Korruption, fehlende Rechenschaftspflicht und Ermittlungen in Fällen von Gewalt gegen Frauen, sexueller Missbrauch von Kindern durch Sicherheitskräfte, Gewalt durch Sicherheitskräfte gegen Mitglieder der LGBTI-Gemeinschaft sowie Gewalt gegen Journalisten (USDOS 11.03.2020).

Mit Unterstützung der United Nations Assistance Mission in Afghanistan (UNAMA) und des Office of the High Commissioner for Human Rights (OHCHR) arbeitet die afghanische Regierung an der Förderung von Rechtsstaatlichkeit, der Rechte von Frauen, Kindern, Binnenflüchtlingen und Flüchtlingen sowie Rechenschaftspflicht (UNHRC 21.02.2018). Im Dezember 2018 würdigte UNAMA die Fortschritte Afghanistans auf dem Gebiet der Menschenrechte, insbesondere unter den Herausforderungen des laufenden bewaffneten Konfliktes und der fragilen Sicherheitslage. Die UN arbeitet weiterhin eng mit Afghanistan zusammen, um ein Justizsystem zu schaffen, das die Gesetzesreformen, die Verfassungsrechte der Frauen und die Unterbindung von Gewalt gegen Frauen voll umsetzen kann (UNAMA 10.12.2018).

Kinder:

Die Situation der Kinder hat sich in den vergangenen Jahren insgesamt verbessert. So werden mittlerweile rund zwei Drittel aller Kinder eingeschult. Von den ca. acht Millionen Schulkindern sind rund drei Millionen Mädchen. Der Anteil der Mädchen nimmt jedoch mit fortschreitender Klassen- und Bildungsstufe ab. Den geringsten Anteil findet man im Süden und Südwesten des Landes (Helmand, Uruzgan, Zabul und Paktika). UNAMA zählte 2019 874 getötete und 2.275 verletzte Kinder (3% Anstieg im Vergleich zu 2018), dies entspricht 30% aller zivilen Opfer (AA 16.07.2020).

Die afghanische Bevölkerung ist eine der jüngsten und am schnellsten wachsenden der Welt - mit rund 47% der Bevölkerung (27,5 Millionen Afghanen) unter 25 Jahren und 46% (11,7 Millionen Kinder) unter 15 Jahren (UNFPA 18.12.2018; vgl. NSIA 01.06.2020). Das Durchschnittsalter liegt in Afghanistan bei 18,4 Jahren (WoM 06.10.2020), und die Volljährigkeit beginnt mit dem 18. Geburtstag (AA 16.07.2020).

Das Familienleben gilt als Schnittstelle für Fürsorge und Schutz. Armut, schlechte Familiendynamik und der Verlust wichtiger Familienmitglieder können das familiäre Umfeld für Kinder stark beeinflussen. Die afghanische Gesellschaft ist patriarchal (ältere Männer treffen die Entscheidungen), patrilinear (ein Kind gehört der Familie des Vaters an) und patrilokal (ein Mädchen zieht nach der Heirat in den Haushalt des Mannes). Die wichtigste soziale und ökonomische Einheit ist die erweiterte Familie, wobei soziale Veränderungen, welche mit Vertreibung und Verstädterung verbunden sind, den Einfluss der Familie etwas zurückgedrängt haben. Zuhause und Familie sind private Bereiche. Das Familienleben findet hinter schützenden Mauern statt, welche allerdings auch familiäre Probleme vor der Öffentlichkeit verbergen (Ventevogel et al. 2013).

Schulbildung in Afghanistan

Der Schulbesuch ist in Afghanistan bis zum Abschluss der Unterstufe der Sekundarschule (d.h. nach sechs Jahren Grundschule und drei Jahren Sekundärbildung) verpflichtend (USDOS 11.03.2020; vgl. IOM 2019). Laut Verfassung haben alle afghanischen Staatsbürger das Recht auf Bildung. Ob ein Kind tatsächlich in der Schule eingeschrieben wird, hängt vom Bildungsstand der Familie ab. Bildung wird vom Staat bis zum Hochschulabschluss in staatlichen Bildungseinrichtungen kostenlos zur Verfügung gestellt. Das Bildungsministerium hat aber keine ausreichenden Ressourcen, um die Bedürfnisse für ganz Afghanistan abzudecken (STDOK 4.2018).

In Afghanistan existieren zwei Bildungssysteme parallel zueinander. Für den Religionsunterricht sind die Mullahs in den Moscheen zuständig, während die Regierung für den kostenlosen akademischen Unterricht an den staatlichen Schulen sorgt. Von sechs bis zehn Jahren besuchen die Schülerinnen und Schüler Grundschulen, in denen sie die Grundlagen des Lesens, Schreibens, Rechnens und ihrer nationalen Kultur erlernen. Es folgen drei Jahre Mittelschule. Am Ende der Phase müssen die Schülerinnen und Schüler eine Prüfung ablegen, wenn sie ihre Schulbildung fortsetzen wollen. In der Sekundarschule haben die Schüler die Wahl, entweder drei Jahre lang eine akademische Laufbahn fortzusetzen, die vielleicht zur Universität führen könnte, oder stattdessen Fächer wie angewandte Landwirtschaft, Luftfahrt, Kunst, Handel und Lehrerausbildung zu studieren. Beide Studiengänge schließen mit einer „Bachelor“-Prüfung ab (IOM 2019).

Kinder können in Afghanistan öffentliche, private oder religiöse Schulen besuchen (EASO 4.2018). Der Unterricht in öffentlichen Bildungseinrichtungen von der Grundschule bis einschließlich der Universität ist kostenlos. Nur private Schulen und Universitäten erheben Studiengebühren (IOM 2019). Die Regierung versorgt die Schüler mit Schulbüchern. Jedoch sind das Budget und die Anzahl der Bücher meistens nicht ausreichend; auch wird das Unterrichtsmaterial oft zu spät zugestellt: z.B. vier Monate nach Unterrichtsbeginn. Aus diesen Gründen gibt es in Afghanistan einen Schwarzmarkt für Bücher, wo Familien kopierte Versionen der Schulbücher erwerben können. Der Staat versucht vergebens, dies zu verhindern. Die Regierung bietet weder Stipendien an, noch stellt sie Schulmaterialien für ärmere Familien zur Verfügung. In besonders verarmten Gebieten verteilen Organisationen wie UNICEF Schulmaterialien. Solche Hilfsaktionen betreffen allerdings nur die ländlichen Gebiete und auch dort ist das Ausmaß nicht ausreichend: in der Regel werden zwischen 80 und 100 Schulen versorgt. Einige private Schulen vergeben Stipendien, z.B. die Afghan-Turk Schule. Meistens handelt es sich hierbei um Leistungsstipendien für Schüler von der siebten bis zur zwölften Klasse. Jedes Jahr werden zwischen 100 und 150 Stipendien je nach Kapazität der Schule vergeben (STDOK 13.06.2019).

Laut UNICEF wird in Afghanistan 3,7 Millionen Kindern im Alter zwischen 7 und 17 Jahren die Schulbildung vorenthalten, 60% von ihnen sind Mädchen (UNICEF 23.08.2020). Gemäß Schätzungen der CSO besuchten im Zeitraum 2016-17 landesweit 56,1% der Kinder im Grundschulalter eine Grundschule (CSO 2018; vgl. STDOK 10.2020). Es existieren allerdings erhebliche Unterschiede hinsichtlich des Geschlechts und Wohnorts: Während 77,5% der Buben in urbanen Gebieten und 66% in ländlichen Gebieten eine Grundschule besuchten, waren es bei den Mädchen 45,5% im städtischen Raum und 40,3% auf dem Land. Nur schätzungsweise 6,6% der Angehörigen der nomadischen Gruppe der Kuchi im Grundschulalter besuchten im Zeitraum 2016-17 eine Grundschule (10% der Buben und 2,5% der Mädchen). Im Bereich der sekundären und tertiären Schulbildung (Mittelschule/höhere Schule, bzw. Universität) sind die Schulbesuchsraten in allen genannten Gruppen niedriger (CSO 2018).

Die Schulbesuchsrate unter Buben aus Rückkehrerfamilien liegt bei 55%, während es bei den Mädchen nur 30% sind. Unter den Binnenvertriebenen (internally displaced persons, IDPs) besuchen 64% der Buben und 42% der Mädchen eine Schule (UNHCR 5.2018). Damit beispielsweise Kinder von Binnenvertriebenen und speziell von Rückkehrern aus Pakistan auch die Möglichkeit zum Schulbesuch haben, arbeitet das Norwegian Refugee Council (NRC) mit dem afghanischen Bildungsministerium zusammen, um Schulen mit Unterrichtsmaterialien zu unterstützen und die Kapazitäten in diesen Institutionen zu erweitern (STDOK 4.2018).

Als Gründe für die niedrigen Schulbesuchsraten werden insbesondere bei Mädchen kulturelle Gegebenheiten, wahrgenommene oder tatsächliche Unsicherheit und die Distanz bis zur nächsten Schule genannt. Für alle Kinder ist Armut neben Wohnort, Geschlecht und etwaigen Behinderungen ein bestimmender Faktor für den Schulbesuch oder -abbruch bzw. Nichteintritt (EASO 4.2019; vgl. USDOS 11.03.2020, UNICEF 23.08.2020). Kinder mit psychischen Problemen, Angehörige von ethnischen oder religiösen Minderheiten, unterschiedlichem linguistischem Hintergrund, Bewohner von Slums, Straßenkinder, Kinder von saisonal migrierenden Familien, Flüchtlinge und Binnenvertriebene gehen einer Studie zufolge überproportional oft nicht zur Schule. Ebenso wirkt sich Kinderarbeit negativ auf den Bildungsverlauf der betroffenen Kinder aus (EASO 4.2019).

Neben der Qualität der Ausbildung ist die niedrige Schuleintrittsrate ein Hauptproblem des afghanischen Bildungssystems (EASO 4.2019), auch wird von Mängeln hinsichtlich der Infrastruktur der Schulen - beispielsweise bei der Strom- und Wasserversorgung sowie den Sanitäranlagen (SIGAR 2.2018; SIGAR 3.2017) - bzw. fehlenden Schulgebäuden berichtet (SIGAR 30.01.2019). Die Gelder für die Instandhaltung der Schulen sind sehr gering, und so werden diese oft von den Eltern zur Verfügung gestellt, oder internationale Organisationen wie UNICEF führen Wartungsarbeiten bzw. Reparaturen durch. In einigen Fällen, z.B. wenn das Schulgebäude zu klein und die Zahl der Schüler zu groß ist, wird der Unterricht in Zelten durchgeführt. Hierbei stellen die Wetterbedingungen oft eine Herausforderung dar: Herat ist z.B. oft starken Winden ausgesetzt, dadurch sind Zelte dort nicht als Unterrichtsstätten geeignet. Bezüglich der Schulzeit wird Afghanistan in „kalte“ und „warme“ Provinzen aufgeteilt: In ersteren schließen die Schulen mangels Heizmöglichkeiten im Winter, und in letzteren wird der Unterricht wegen der hohen Temperaturen im Sommer unterbrochen (STDOK 13.06.2019).

Auch wird Korruption als ein Problem des afghanischen Bildungssektors genannt (HRW 30.06.2020). Lehrer sind oftmals unterqualifiziert und das Lernumfeld für die Kinder inadäquat. Die Anzahl der Lehrer korreliert zudem nicht mit der Anzahl an Schülern und ist regional ungleich verteilt (EASO 4.2019). Es besteht der Verdacht, dass Lehrposten aufgrund von Nepotismus und Bestechung vergeben werden (SIGAR 30.01.2019). Insbesondere in den Provinzen wird der Lehrberuf aufgrund der niedrigen Bezahlung und der Sicherheitsrisiken als wenig attraktiv wahrgenommen (EASO 4.2019).

Mitte März schloss die Regierung Afghanistans unter anderem Schulen, um die Ausbreitung von COVID-19 zu verhindern. Diese Maßnahmen waren zwar notwendig, um die Bevölkerung vor der Ausbreitung des Virus zu schützen, haben jedoch dazu geführt, dass der Zugang von Kindern zu Bildung gestört wurde und Eltern, Erziehungsberechtigte und Betreuer unter neuen Belastungen zu leiden hatten. Die wirtschaftlichen Härten, die mit den Sperrmaßnahmen verbunden sind, erhöhen den Druck auf die Kinder, Geld für ihre Familien zu verdienen, insbesondere wenn sie nicht in der Schule sind, was sie anfälliger für Rekrutierungen macht (UNAMA 10.08.2020).

Sicherheitsaspekte

Aufgrund des anhaltenden Konflikts und der sich verschlechternden Sicherheitslage wurden bis Ende 2018 mehr als 1.000 Schulen geschlossen. Zwischen 2018 und 2019 gab es einen Anstieg der Angriffe auf Schulen und Schulpersonal um 45% (UNICEF 23.08.2020).

Ein Grund für die Zunahme von Angriffen auf Schulen ist, dass Schulen als Wählerregistrierungs und Wahlzentren für die Parlamentswahlen 2018 genutzt wurden (UNICEF 27.05.2019).

Die unsichere Lage führt dazu, dass viele Eltern ihre Kinder aus Angst um ihre Sicherheit nicht in die Schule schicken. Die afghanische Regierung hat jedoch mit der Verabschiedung des ersten Kinderschutzgesetzes des Landes, das vollständig mit der Konvention über die Rechte des Kindes in Einklang steht, durch einen Präsidialerlass immensen politischen Willen zum Schutz der afghanischen Kinder gezeigt (UNICEF 23.08.2020).

Auch wenn die Führungselite der Taliban erklärt hat, dass Schulen kein Angriffsziel mehr seien (LI 16.05.2018), kam es zu Angriffen auf Mädchenschulen, sowie Schülerinnen und Lehrerinnen durch die Taliban und andere bewaffnete Gruppen (NYT 21.05.2019; UNAMA 24.04.2019; PAJ 16.04.2019; PAJ 15.04.2019; UNAMA 24.02.2019; PAJ 31.01.2019; HRW 17.10.2017).

Insbesondere in den von Taliban kontrollierten Gebieten schränken gewalttätige Angriffe auf Schüler/innen, insbesondere auf Mädchen, den Zugang zur Bildung ein. Taliban und andere Aufständische bedrohen und greifen Schulbeamte, Lehrer/innen und Student/innen, insbesondere Mädchen, an; auch wurden sowohl Buben- als auch Mädchenschulen niedergebrannt (USDOS 11.03.2020).

Nach Vorfällen in der Provinz Farah legten Vertreter der Provinzregierung und Dorfälteste nahe, dass die Angriffe auf Mädchenschulen eine Spaltung innerhalb der Taliban offenbaren: Während viele Zivilbehörden der Taliban eine Ausbildung für Mädchen tolerieren, lehnen manche Militärkommandanten der Taliban dies ab (NYT 21.05.2019).

Kinderarbeit

Afghanistan hat die UN-Kinderrechtskonvention ratifiziert. Kinderarbeit ist in Afghanistan somit offiziell verboten. Dennoch haben im Jahr 2014 laut AIHRC (Children’s Situation Summary Report vom 14.12.2014) 51,8% der Kinder auf die ein oder andere Weise gearbeitet (AA 16.07.2020). Viele Familien, insbesondere die von Frauen geführten, sind auf die Einkünfte, die ihre Kinder erwirtschaften, angewiesen (AA 16.07.2020; vgl. ILO 2018). Daher ist eine konsequente Umsetzung des Kinderarbeitsverbots schwierig. Es gibt Programme, die es Kindern erlauben sollen, neben der Arbeit eine Schulausbildung zu absolvieren. Auch ein maximaler Stundensatz und Maßnahmen zum Arbeitsschutz (wie z.B. das Tragen einer Schutzmaske beim Teppichknüpfen) sind gesetzlich geregelt. Der Regierung fehlt es allerdings an durchsetzungsfähigen Überprüfungsmechanismen dieser gesetzlichen Regelungen. 6,5 Millionen Kinder gelten als Gefahren ausgesetzt. Viele Kinder sind unterernährt. Straßenkinder gehören zu den am wenigsten geschützten Gruppen Afghanistans und sind jeglicher Form von Missbrauch und Zwang ausgesetzt (AA 16.07.2020).

Trotz Verbesserungen mangelt es nach wie vor an einer wirksamen Regelung zur Verhinderung von Kinderarbeit. Nach afghanischem Recht ist das Mindestalter für eine Erwerbstätigkeit 18 Jahre, jedoch können Kinder zwischen 15 und 17 Jahren arbeiten, wenn „die Arbeit nicht schädlich ist, weniger als 35 Stunden pro Woche beträgt und eine Form der Berufsausbildung darstellt“. Kinder unter 14 Jahren dürfen nicht arbeiten (EASO 4.2019). Gemäß einer Studie aus dem Jahr 2018 sind insbesondere zwei Faktoren zentral: 1.) ob eine Familie intakt ist, oder bedeutsame Ernährer der Familie (Väter) fehlen; 2.) ist auch die Haltung der Familien, insbesondere der Eltern, gegenüber Kinderarbeit und Bildung von Bedeutung (APPRO 4.2018).

CSO schätzte den Anteil der arbeitenden Kinder gemäß der Definition von Kinderarbeit der International Labour Organization (ILO) unter den fünf- bis 17-Jährigen im Zeitraum 2013-14 auf 26,5%. Gemäß der Definition von Kinderarbeit durch UNICEF waren nach CSO-Schätzung im selben Zeitraum 29,4% der 5- bis 17-Jährigen in Kinderarbeit involviert, wobei UNICEF - anders als ILO - auch Tätigkeiten im Haushalt berücksichtigt. Bei beiden Definitionen von Kinderarbeit lag der Anteil der arbeitenden Buben (ILO: 32,7%; UNICEF: 34,1%) über jenem der Mädchen (ILO: 19,6%; UNICEF: 24,2%). Kinderarbeit ist unter IDPs weiter verbreitet als in anderen Bevölkerungsschichten (NRC 27.09.2018).

Arbeitsgesetze sind meist unbekannt, und Vergehen werden oftmals nicht sanktioniert. Arbeitende Kinder sind besonders gefährdet, Gewalt oder sexuellen Missbrauch zu erleiden. Dies kann durch den Arbeitgeber, aber auch durch andere Personen geschehen. Für Kinder, welche ungeschützt im öffentlichen Raum arbeiten, besteht beispielsweise ein erhöhtes Risiko von Entführungen, sexuellen Übergriffen und in manchen Fällen auch Tötungen (APPRO 4.2018).

Neben Kinderarbeit, welche ausschließlich dem Gelderwerb dient, existieren in Afghanistan auch Beschäftigungsverhältnisse von Kindern, welche sich an einem Lehrmodell orientieren. Eltern geben ihre Kinder dabei bei einem Arbeitgeber in die Lehre, um dem Kind das Erlernen eines Berufs zu ermöglichen. Gemäß einer Studie aus dem Jahr 2018 erfüllen viele Arbeitgeber ihre Pflichten gegenüber den Kindern und behandeln diese entsprechend, jedoch können Arbeitgeber bei Vergehen gegenüber den Kindern kaum zur Rechenschaft gezogen werden (APPRO 4.2018).

Beobachtungen verschiedener Organisationen, darunter IOM, Weltbank, UNICEF und ILO, deuten darauf hin, dass Kinderarbeit während der COVID-19-Krise für viele Familien zu einem Bewältigungsmechanismus geworden ist. Während der Abriegelung blieben Schulen geschlossen, was die Situation für die Kinder verschlechtert und sie zwingt, Vollzeit zu arbeiten (IOM 23.09.2020; vgl. UNICEF 12.06.2020). In Koordination mit dem Afghanistan Protection Cluster (APC) führte IOM 1.659 Haushaltsbefragungen bei undokumentierten Rückkehrern durch, um die Auswirkungen von COVID-19 auf das Umfeld des Schutzes in elf Provinzen zu untersuchen. Vorläufige Ergebnisse weisen auf eine Zunahme der Kinderarbeit an einigen Orten hin: Ghor und Sar-i-Pul waren die Provinzen mit den höchsten Raten, die im Juni 2020 ihren Höchststand erreichten (mit 81% bzw. 63%) (IOM 23.09.2020; vgl. GPC 05.05.2020).

COVID - Frauen und Kinder

Auch auf den Bereich Bildung hatte die COVID-19 Pandemie Auswirkungen. Die Regierung ordnete an, alle Schulen im März 2020 zu schließen (IOM 23.09.2020), und die CBE-Klassen (gemeindebasierte Bildung-Klassen) konnten erst vor kurzem wieder geöffnet werden (IPS 12.11.2020). In öffentlichen Schulen sind nur die oberen Schulklassen (für Kinder im Alter von 15 bis 18 Jahren) geöffnet. Alle Klassen der Primar- und unteren Sekundarschulen sind bis auf weiteres geschlossen (IOM 23.09.2020). Kinder (vor allem Jungen), die von den Auswirkungen der Schulschließungen im Rahmen von COVID-19 betroffen waren, sahen sich nun auch einer erhöhten Anfälligkeit gegenüber der Rekrutierung durch die Konfliktparteien ausgesetzt. Die Krise verschärft auch die bestehende Vulnerabilität von Mädchen betreffend Kinderheirat und Schwangerschaften von Minderjährigen (IPS 12.11.2020; vgl. UNAMA 10.08.2020). Die Pandemie hat auch spezifische Folgen für Frauen, insbesondere während eines Lockdowns, einschließlich eines erhöhten Maßes an häuslicher Gewalt. Frauen und Mädchen sind durch den generell geringeren Zugang zu Gesundheitseinrichtungen zusätzlich betroffen (Martins/Parto: vgl. AAN 01.10.2020).

Ethnische Minderheiten:

In Afghanistan leben laut Schätzungen zwischen 32 und 36 Millionen Menschen (NSIA 6.2020; vgl. CIA 06.10.2020). Zuverlässige statistische Angaben zu den Ethnien Afghanistans und zu den verschiedenen Sprachen existieren nicht (STDOK 7.2016; vgl. CIA 06.10.2020). Schätzungen zufolge sind: 40 bis 42% Paschtunen, 27 bis 30% Tadschiken, 9 bis 10% Hazara, 9% Usbeken, ca. 4% Aimaken, 3% Turkmenen und 2% Belutschen. Weiters leben in Afghanistan eine große Zahl an kleinen und kleinsten Völkern und Stämmen, die Sprachen aus unterschiedlichsten Sprachfamilien sprechen (GIZ 4.2019; vgl. CIA 2012, AA 16.07.2020).

Artikel 4 der Verfassung Afghanistans besagt: „Die Nation Afghanistans besteht aus den Völkerschaften der Paschtunen, Tadschiken, Hazara, Usbeken, Turkmenen, Belutschen, Paschai, Nuristani, Aimak, Araber, Kirgisen, Qizilbasch, Gojar, Brahui und anderen Völkerschaften. Das Wort „Afghane“ wird für jeden Staatsbürger der Nation Afghanistans verwendet“ (STDOK 7.2016). Die afghanische Verfassung schützt sämtliche ethnischen Minderheiten. Neben den offiziellen Landessprachen Dari und Paschtu wird in der Verfassung (Artikel 16) sechs weiteren Sprachen ein offizieller Status in jenen Gebieten eingeräumt, wo die Mehrheit der Bevölkerung (auch) eine dieser Sprachen spricht: Usbekisch, Turkmenisch, Belutschisch, Pashai, Nuristani und Pamiri (AA 02.09.2019). Es gibt keine Hinweise, dass bestimmte soziale Gruppen ausgeschlossen werden. Keine Gesetze verhindern die Teilnahme der Minderheiten am politischen Leben. Nichtsdestotrotz beschweren sich unterschiedliche ethnische Gruppen, keinen Zugang zu staatlicher Anstellung in Provinzen zu haben, in denen sie eine Minderheit darstellen (USDOS 11.03.2020).

Der Gleichheitsgrundsatz ist in der afghanischen Verfassung rechtlich verankert, wird allerdings in der gesellschaftlichen Praxis immer wieder konterkariert. Soziale Diskriminierung und Ausgrenzung anderer ethnischer Gruppen und Religionen im Alltag bestehen fort und werden nicht zuverlässig durch staatliche Gegenmaßnahmen verhindert (AA 16.07.2020). Ethnische Spannungen zwischen unterschiedlichen Gruppen resultierten weiterhin in Konflikten und Tötungen (USDOS 11.03.2020).

Die schiitische Minderheit der Hazara macht etwa 9 bis 10% der Bevölkerung aus (GIZ 4.2019; vgl. MRG o.D.c.). Die Hazara besiedelten traditionell das Bergland in Zentralafghanistan, das sich zwischen Kabul im Osten und Herat im Westen erstreckt; der Hazaradjat [zentrales Hochland] umfasst die Provinzen Bamyan, Ghazni, Daikundi und den Westen der Provinz (Maidan) Wardak sowie Teile der Provinzen Ghor, Uruzgan, Parwan, Samangan, Baghlan, Balkh, Badghis, und Sar-e Pul. Jahrzehntelange Kriege und schwierige Lebensbedingungen haben viele Hazara aus ihrer Heimatregion in die afghanischen Städte, insbesondere nach Kabul, getrieben (STDOK 7.2016).

Viele Hazara leben unter anderem in Stadtvierteln im Westen der Stadt Kabul, insbesondere in Kart-e Se, Dasht-e Barchi sowie in den Stadtteilen Kart-e Chahar, Deh Buri, Afshar und Kart-e Mamurin (AAN 19.03.2019).

Wichtiges Merkmal der ethnischen Identität der Hazara ist ihr ethnisch-asiatisches Erscheinungsbild (STDOK 7.2016). Ethnische Hazara sind mehrheitlich Zwölfer-Schiiten (STDOK 7.2016; vgl. MRG o.D.c), auch bekannt als Jafari Schiiten (USDOS 10.07.2020). Eine Minderheit der Hazara, die vor allem im nordöstlichen Teil des Hazaradjat lebt, ist ismailitisch (STDOK 7.2016). Ismailitische Muslime, die vor allem, aber nicht ausschließlich, Hazara sind (GS 21.08.2012), leben hauptsächlich in Kabul sowie den zentralen und nördlichen Provinzen Afghanistans (USDOS 10.07.2020).

Die Lage der Hazara, die während der Taliban-Herrschaft besonders verfolgt waren, hat sich grundsätzlich verbessert (AA 16.07.2020; vgl. FH 04.03.2020), und Hazara bekleiden inzwischen auch prominente Stellen in der Regierung und im öffentlichen Leben, sind jedoch in der öffentlichen Verwaltung nach wie vor unterrepräsentiert (AA 16.07.2020). Hazara werden am Arbeitsmarkt diskriminiert. Soziale Diskriminierung gegen schiitische Hazara, basierend auf Klasse, Ethnie oder religiösen Ansichten, finden ihre Fortsetzung in Erpressung (illegale Steuern), Zwangsrekrutierung, Zwangsarbeit, physischer Misshandlung und Inhaftierung (USDOS 11.03.2020). Nichtsdestotrotz genießt die traditionell marginalisierte schiitische muslimische Minderheit, zu der die meisten ethnischen Hazara gehören, seit 2001 eine zunehmende politische Repräsentation und Beteiligung an nationalen Institutionen (FH 04.03.2020; vgl. WP 21.03.2018).

Die Hazara-Gemeinschaft/Gesellschaft ist traditionell strukturiert und basiert auf der Kernfamilie bzw. dem Clan (STDOK 7.2016; vgl. MRG o.D.c). Sollte der dem Haushalt vorstehende Mann versterben, wird die Witwe Haushaltsvorständin, bis der älteste Sohn volljährig ist (MRG o.D.c). Es bestehen keine sozialen und politischen Stammesstrukturen (STDOK 7.2016).

Hazara neigen sowohl in ihren sozialen, als auch politischen Ansichten dazu, liberal zu sein, was im Gegensatz zu den Ansichten sunnitischer Militanter steht (WP 21.03.2018). Berichten zufolge halten Angriffe durch den ISKP (Islamischer Staat Khorasan Provinz) und andere aufständische Gruppierungen auf spezifische religiöse und ethno-religiöse Gruppen - inklusive der schiitischen Hazara - an (USDOS 10.07.2020).

Im Laufe des Jahres 2019 setzte der ISKP Angriffe gegen schiitische (vorwiegend Hazara) Gemeinschaften fort. Beispielsweise griff der ISKP einen Hochzeitssaal in einem vorwiegend schiitischen Hazara-Viertel in Kabul an; dabei wurden 91 Personen getötet, darunter 15 Kinder und weitere 143 Personen verletzt (USDOS 11.03.2020; vgl. STDOK 10.2020). Zwar waren unter den Getöteten auch Hazara, die meisten Opfer waren aber Nicht-Hazara-Schiiten und Sunniten. Der ISKP nannte ein religiöses Motiv für den Angriff (USDOS 11.03.2020). Das von schiitischen Hazara bewohnte Gebiet Dasht-e Barchi in Westkabul ist immer wieder Ziel von Angriffen. Die Regierung hat Pläne zur Verstärkung der Präsenz der afghanischen Sicherheitskräfte verlautbart. Nach Angaben der schiitischen Gemeinschaft gab es trotz der Pläne keine Aufstockung der ANDSF-Kräfte; sie sagten jedoch, dass die Regierung Waffen direkt an die Wächter der schiitischen Moscheen in Gebieten verteilte (USDOS 10.07.2020). Angriffe werden auch als Vergeltung gegen mutmaßliche schiitische Unterstützung der iranischen Aktivitäten in Syrien durchgeführt (MEI 10.2018; vgl. WP 21.03.2018).

In Randgebieten des Hazaradjat kommt es immer wieder zu Spannungen und teilweise gewaltsamen Auseinandersetzungen zwischen Nomaden und sesshaften Landwirten, oftmals Hazara (AREU 1.2018).

Die Hazara sind im nationalen Durchschnitt mit etwa 10% in der Afghan National Army und der Afghan National Police repräsentiert (BI 29.09.2017). NGOs berichten, dass Polizeibeamte, die der Hazara-Gemeinschaft angehören, öfter als andere Ethnien in unsicheren Gebieten eingesetzt werden oder im Innenministerium an symbolische Positionen ohne Kompetenzen befördert werden (USDOS 11.03.2020).

Religionen:

Etwa 99% der afghanischen Bevölkerung sind Muslime. Die Sunniten werden auf 80 bis 89,7% und die Schiiten auf 10 bis 19% der Gesamtbevölkerung geschätzt (CIA 06.10.2020; vgl. AA 16.07.2020). Andere Glaubensgemeinschaften wie die der Sikhs, Hindus, Baha'i und Christen machen weniger als 1% der Bevölkerung aus (AA 16.07.2020; vgl. CIA 06.10.2020, USDOS 10.06.2020). Genaue Angaben zur Größe der christlichen Gemeinschaft sind nicht vorhanden (USDOS 10.06.2020). In Kabul lebt auch weiterhin der einzige jüdische Mann in Afghanistan (UP 16.08.2019; vgl. BBC 11.04.2019). Die muslimische Gemeinschaft der Ahmadi schätzt, dass sie landesweit 450 Anhänger hat, gegenüber 600 im Jahr 2017 (USDOS 10.06.2020).

Der Anteil schiitischer Muslime an der Bevölkerung wird auf 10 bis 19% geschätzt (CIA 06.10.2020; vgl. AA 16.07.2020). Zuverlässige Zahlen zur Größe der schiitischen Gemeinschaft sind nicht verfügbar und werden vom Statistikamt nicht erfasst. Gemäß Gemeindeleitern sind die Schiiten Afghanistans mehrheitlich Jafari-Schiiten (Zwölfer-Schiiten), 90% von ihnen gehören zur ethnischen Gruppe der Hazara. Unter den Schiiten gibt es auch Ismailiten (USDOS 10.06.2020).

Auseinandersetzungen zwischen Sunniten und Schiiten sind in Afghanistan selten (AA 16.07.2020). Beobachtern zufolge ist die Diskriminierung der schiitischen Minderheit durch die sunnitische Mehrheit zurückgegangen; dennoch existieren Berichte zu lokalen Diskriminierungsfällen. Gemäß Zahlen von UNAMA gab es im Jahr 2019 10 Fälle konfessionell motivierter Gewalt gegen Schiiten, die 485 zivile Opfer forderten (117 Tote und 368 Verletzte), was einem Rückgang von 35% gegenüber 2018 entspricht, als es 19 Fälle gab, die 747 zivile Opfer forderten (233 Tote und 524 Verletzte). Der Islamische Staat Khorasan Provinz (ISKP) bekannte sich zu sieben der zehn Vorfälle und gab an, dass diese auf die religiöse Minderheit der schiitischen Muslime ausgerichtet waren (USDOS 10.06.2020). In den Jahren 2016, 2017 und 2018 wurden durch den Islamischen Staat (IS) und die Taliban 51 terroristische Angriffe auf Glaubensstätten und religiöse Anführer der Schiiten bzw. Hazara durchgeführt (FH 04.02.2019; vgl. USDOS 21.06.2019, CRS 01.05.2019).

Die schiitische Hazara-Gemeinschaft bezeichnet die Sicherheitsvorkehrungen der Regierung in den von Schiiten dominierten Gebieten als unzureichend. Die afghanische Regierung bemüht sich erneut um die Lösung von Sicherheitsproblemen im schiitischen Gebiet Shia Hazara Dasht-e Barchi im Westen Kabuls, das im Laufe des Jahres Ziel größerer Angriffe war, und kündigte Pläne zur Verstärkung der Präsenz der afghanischen nationalen Verteidigungs- und Sicherheitskräfte (ANDSF) an. Nach Angaben der schiitischen Gemeinschaft gab es trotz der Pläne keine Aufstockung der ANDSF-Kräfte; es wurde jedoch angemerkt, dass die Regierung Waffen direkt an die Wachen der schiitischen Moscheen in Gebieten verteilt habe, die als mögliche Angriffsziel angesehen werden (USDOS 10.06.2020).

Die politische Repräsentation und die Beteiligung an den nationalen Institutionen seitens der traditionell marginalisierten schiitischen Minderheit, der hauptsächlich ethnische Hazara angehören, ist seit 2001 gestiegen (FH 04.03.2020). Obwohl einige schiitische Muslime höhere Regierungsposten bekleiden, behaupten Mitglieder der schiitischen Minderheit, dass die Anzahl dieser Stellen die demografischen Verhältnisse des Landes nicht reflektiert. Vertreter der Sunniten hingegen geben an, dass Schiiten im Vergleich zur Bevölkerungszahl in den Behörden überrepräsentiert seien. Einige Mitglieder der ismailitischen Gemeinschaft beanstanden die vermeintliche Vorenthaltung von politischen Posten; wenngleich vier Parlamentssitze für Ismailiten reserviert sind (USDOS 10.06.2020).

Im Ulema-Rat, der nationalen Versammlung von Religionsgelehrten, die u.a. dem Präsidenten in der Festlegung neuer Gesetze und Rechtsprechung beisteht, beträgt die Quote der schiitischen Muslime 25 bis 30% (AB 08.09.2020; vgl. USIP 14.06.2018, AA 02.09.2019). Des Weiteren tagen regelmäßig rechtliche, konstitutionelle und menschenrechtliche Kommissionen, welche aus Mitgliedern der sunnitischen und schiitischen Gemeinschaften bestehen und von der Regierung unterstützt werden, um die interkonfessionelle Schlichtung zu fördern (USDOS 10.06.2020).

Das afghanische Ministry of Hajj and Religious Affairs (MOHRA) erlaubt sowohl Sunniten als auch Schiiten, Pilgerfahrten zu unternehmen (USDOS 10.06.2020).

II.2. Beweiswürdigung:

II.2.1. Zu den Feststellungen zur Person der BF und ihrer Familie:

Die Feststellungen zu Staatsangehörigkeit, Muttersprache, Volksgruppen- und Religionszugehörigkeit der BF und ihrer Eltern, sowie zu Herkunft, Lebenslauf, Schul- und Berufsbildung bzw. Berufsausübung und familiärem Hintergrund der Eltern der BF ergeben sich aus dem Akteninhalt der Angehörigen im Verfahren vor dem Bundesverwaltungsgericht.

Die Feststellung, dass die Eltern der BF in einer eheähnlichen Lebensgemeinschaft leben, ergibt sich ebenso aus den Angaben in deren Verfahren. Daran, dass die BF und ihre Schwester die leiblichen, minderjährigen Töchter ihrer Eltern sind, besteht kein Zweifel. Für die BF liegt eine österreichische Geburtsurkunde vor.

Die Zuerkennung des Status der subsidiär Schutzberechtigten an die Eltern und die Schwester der BF und die Dauer der befristeten Aufenthaltsberechtigung ergibt sich aus den mündlich verkündeten Erkenntnissen des Bundesverwaltungsgerichts vom 17.11.2020 (Zl. W107 2196021-1/10Z u.a., gekürzte Ausfertigung Zl. W107 2196021-1/11E u.a.).

Dass die BF gesund ist, hat ihre Mutter als gesetzliche Vertreterin in der am 10.11.2020 erfolgten Einvernahme (EV) zum Antrag der BF auf internationalen Schutz angegeben (EV AS 14).

II.2.2. Zu den Feststellungen zu den Fluchtgründen der BF:

Die Mutter der BF wurde in der Einvernahme am 10.11.2020 gefragt, ob sie für die BF eigene Fluchtgründe geltend machen wolle oder ob das Verfahren der BF im Familienverfahren geführt werden solle. Die Mutter gab an, die BF habe die gleichen Fluchtgründe wie sie selbst und ihre Tochter solle im Familienverfahren behandelt werden (EV AS 14). Eigene Fluchtgründe wurden für die BF demnach nicht angegeben.

Die belangte Behörde ist im Ergebnis zu Recht davon ausgegangen, dass es der BF nicht gelungen ist, eine konkrete, gegen ihre Person gerichtete asylrelevante Verfolgung im Herkunftsstaat glaubhaft zu machen; dies aus folgenden Erwägungen:

Die belangte Behörde hat sich im angefochtenen Bescheid eingehend mit den Fluchtgründen der BF auseinandergesetzt und in der rechtlichen Beurteilung unter anderem Folgendes ausgeführt (Bescheid vom 13.11.2020, AS 190 ff): Das Fluchtvorbringen der Eltern der BF sei als unglaubhaft zu beurteilen, weshalb die Glaubhaftmachung eines Asylgrundes in diesem Zusammenhang von vornherein ausgeschlossen werden könne. Die Zugehörigkeit zur Volksgruppe der schiitischen Hazara alleine sowie deren etwaige schlechte allgemeine Situation sei nicht geeignet, eine Asylgewährung zu rechtfertigen. Eine Gruppenverfolgung der Hazara könne den Länderfeststellungen keinesfalls entnommen werden. Ein Vorbringen, dass die BF aufgrund „westlicher Orientierung“ Verfolgung zu befürchten habe, habe die gesetzliche Vertretung der BF nicht dargelegt und Derartiges habe von der Behörde aufgrund des geringen Alters der BF auch amtswegig nicht feststellen können. Es sei der BF möglich, in Afghanistan eine Schule zu besuchen. Im Hinblick auf die vorliegenden Erkenntnisquellen zur allgemeinen Lage von Frauen in Afghanistan hätten sich auch keine ausreichend konkreten Anhaltspunkte dahingehend ergeben, dass alle afghanischen Frauen gleichermaßen bloß aufgrund ihres gemeinsamen Merkmals der Geschlechtszugehörigkeit und ohne Hinzutreten weiterer konkreter und individueller Eigenschaften im Falle ihrer Rückkehr mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit asylrelevanter Verfolgungsgefahr ausgesetzt wären. Auch sonst hätten sich keine Hinweise auf das Vorliegen eines Sachverhaltes ergeben, welcher zur Gewährung von Asyl führen könnte.

Diesen Ausführungen der Behörde wurde in der gegenständlichen Beschwerde nicht substantiiert entgegen getreten und das Bundesverwaltungsgericht schließt sich diesen schlüssigen und zutreffenden Ausführungen an.

In der Beschwerde wurde lediglich ausgeführt, die BF werde von ihren Eltern in Österreich liberal, frei von Zwängen und strikten Kleidungs- und Verhaltensvorschriften und nach „westlichen Werten“ erzogen. Die BF solle selbstbestimmt aufwachsen und eine solche Lebensführung wäre ihr in Afghanistan nicht möglich. Der BF würde in Afghanistan aufgrund der „westlichen“ Lebensweise Verfolgungsgefahr drohen. Diesbezüglich ist darauf hinzuweisen, dass sich die Behörde, wie schon ausgeführt, im Bescheid mit diesem Aspekt bereits auseinandergesetzt hat und festgehalten hat, wegen des geringen Alters der BF habe eine Verfolgung aufgrund westlicher Orientierung nicht festgestellt werden können. Mit diesen Ausführungen ist die belangte Behörde im Recht: Die BF ist im Entscheidungszeitpunkt erst rund ein halbes Jahr alt, womit sie derzeit faktisch noch nicht mit der Öffentlichkeit interagiert und die Anwendung der traditionell-afghanischen Kleidervorschriften sowie weiterer Gebräuche und Zwänge für sie noch nicht in Betracht kommen. Eine Annahme bzw. Verfestigung eines westlich orientierten Lebensstils im Sinne der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes zu Frauen (vgl. z.B. VwGH 22.03.2017, Ra 2016/18/0388, mit weiteren Nachweisen) kommt bei Kleinkindern schon aufgrund ihres anpassungsfähigen Alters auch nicht in Betracht (vgl. etwa VwGH 23.04.2020, Ra 2020/01/0088: Das Bundesverwaltungsgericht sei zu Recht davon ausgegangen, dass bei einer – im dortigen Fall sogar bereits – Vierjährigen insbesondere mit Blick auf deren anpassungsfähiges Alter die Verfestigung eines entsprechenden westlichen Lebensstils nicht angenommen werden könne).

Allein der Umstand, dass die BF weiblichen Geschlechts ist, ist für sich noch kein Asylgrund bezogen auf den Herkunftsstaat Afghanistan. Auch unterliegen Frauen in Afghanistan keinem grundsätzlichen Verbot, jegliche grundlegende Bildung zu erwerben. In Afghanistan herrscht Schulpflicht, sodass nicht davon ausgegangen wird, ein Wunsch der Mutter nach Bildung für die BF würde asylrelevante Verfolgung für die BF auslösen.

Im Verfahren, besonders in der Beschwerde, bringen die Eltern vor, sie würden die BF mit westlichen Werten, liberal und frei von Zwängen erziehen. Dass die BF der Gefahr einer zwangsweisen Verheiratung ausgesetzt wäre, kann daher ebenfalls nicht erkannt werden.

Zur allgemeinen Situation von Kindern in Afghanistan ist auszuführen, dass aus den Länderinformationen hervorgeht, dass diese unter gewissen Umständen in Bereichen wie Versorgung, Gewalt, Zugang zu Schulbildung und Kinderarbeit nachteiliger Behandlung ausgesetzt sein können. Solche Handlungen wiederum können unter Umständen im Hinblick auf das Alter des Kindes, dessen fehlende Reife oder Verletzlichkeit eine kinderspezifische Form der „Verfolgung“ darstellen. Die erwähnte Benachteiligung beruht primär auf dem Fehlen einer familiären bzw. sozialen Unterstützung und wird durch gesellschaftliche Restriktionen begünstigt. Die BF lebt im Familienverband mit ihren Eltern, die sich im Verfahren als fürsorglich und um das Wohl ihrer Töchter bemüht gezeigt haben, sodass die aufgezeigten Benachteiligungen im Beschwerdefall nicht zu erwarten sind.

Es ist schließlich nicht ersichtlich, dass der Faktor Minderjährigkeit per se zu einer asylrelevanten Gefährdungsverdichtung in den Personen der Minderjährigen führen könnte. Insbesondere ist aus der Sicherheitslage nicht abzuleiten, dass Minderjährige dort einer erhöhten Gefährdung ausgesetzt wären, bei Auseinandersetzungen, Angriffen oder Anschlägen (zufälliges) Opfer zu werden.

Auch unter Berücksichtigung der strengen Anforderungen an die Behandlung von Anträgen auf internationalen Schutz von Minderjährigen (VfGH 11.10.2017, E 1803/2017 ua. mwN) ist weder aufgrund des Vorbringens der Eltern noch sonst eine individuelle Bedrohung oder Verfolgung der BF hervorgekommen.

II.2.3. Die Feststellungen zum Herkunftsstaat der BF ergeben sich aus den angeführten aktuellen Berichten diverser anerkannter staatlicher und nichtstaatlicher Einrichtungen bzw. Organisationen und bieten ein in inhaltlicher Hinsicht grundsätzlich übereinstimmendes und ausgewogenes Bild zur Situation in Afghanistan. Angesichts der Seriosität der angeführten Erkenntnisquellen und der Plausibilität der überwiegend übereinstimmenden Aussagen besteht kein Grund, an der Richtigkeit der Angaben zu zweifeln. Das aktuelle Länderinformationsblatt zu Afghanistan wurde der gesetzlichen Vertretung der BF übermittelt, eine Stellungnahme wurde nicht abgegeben. Damit wurde den Länderinformationen nicht entgegen getreten. Insoweit den Feststellungen Berichte älteren Datums zugrundeliegen, ist auszuführen, dass sich seither die darin angeführten Umstände unter Berücksichtigung der dem Bundesverwaltungsgericht von Amts wegen vorliegenden Berichte aktuelleren Datums für die Beurteilung der gegenwärtigen Situation fallrelevant nicht wesentlich geändert haben.

3. Rechtliche Beurteilung:

II.3.1. Gemäß § 6 Bundesverwaltungsgerichtsgesetz (BVwGG) entscheidet das Bundesverwaltungsgericht durch Einzelrichter, sofern nicht in Bundes- oder Landesgesetzen die Entscheidung durch Senate vorgesehen ist.

Da in den anzuwendenden gesetzlichen Bestimmungen keine gegenteiligen Bestimmungen enthalten sind, liegt gegenständlich somit Einzelrichterzuständigkeit vor.

Gemäß § 17 Verwaltungsgerichtsverfahrensgesetz (VwGVG) sind, soweit in diesem Bundesgesetz nicht anderes bestimmt ist, auf das Verfahren über Beschwerden gemäß Art. 130 Abs. 1 B-VG die Bestimmungen des AVG mit Ausnahme der §§ 1 bis 5 sowie des IV. Teiles, die Bestimmungen der Bundesabgabenordnung – BAO des Agrarverfahrensgesetzes - AgrVG und des Dienstrechtsverfahrensgesetzes 1984 – DVG und im Übrigen jene verfahrensrechtlichen Bestimmungen in Bundes- oder Landesgesetzen sinngemäß anzuwenden, die die Behörde in dem dem Verfahren vor dem Verwaltungsgericht vorangegangenen Verfahren angewendet hat oder anzuwenden gehabt hätte.

Zu A)

II.3.2. Zur Abweisung der Beschwerde hinsichtlich Spruchpunkt I:

Gemäß § 3 Abs. 1 AsylG 2005 ist einem Fremden, der in Österreich einen Antrag auf internationalen Schutz gestellt hat, soweit dieser Antrag nicht bereits gemäß §§ 4, 4a oder 5 zurückzuweisen ist, der Status des Asylberechtigten zuzuerkennen, wenn glaubhaft ist, dass ihm im Herkunftsstaat Verfolgung im Sinne des Art. 1 Abschnitt A Z2 Genfer Flüchtlingskonvention droht.

Flüchtling iSd Art. 1 Abschnitt A Z 2 der GFK ist, wer aus wohlbegründeter Furcht, aus Gründen der Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder der politischen Gesinnung verfolgt zu werden, sich außerhalb seines Heimatlandes befindet und nicht in der Lage oder im Hinblick auf diese Furcht nicht gewillt ist, sich des Schutzes dieses Landes zu bedienen; oder wer staatenlos ist, sich in Folge obiger Umstände außerhalb des Landes seines gewöhnlichen Aufenthaltes befindet und nicht in der Lage oder im Hinblick auf diese Furcht nicht gewillt ist, in dieses Land zurückzukehren.

Zentrales Element des Flüchtlingsbegriffes ist die wohlbegründete Furcht vor Verfolgung. Eine solche liegt dann vor, wenn sie im Licht der speziellen Situation des Asylwerbers unter Berücksichtigung der Verhältnisse im Verfolgerstaat objektiv nachvollziehbar ist. Es kommt nicht darauf an, ob sich eine bestimmte Person in einer konkreten Situation tatsächlich fürchtet, sondern ob sich eine mit Vernunft begabte Person in dieser Situation aus Konventionsgründen fürchten würde.

Nach der ständigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes (vgl. VwGH 28.10.2009, 2006/01/0793; 23.02.2011, 2011/23/0064) ist eine Verfolgungshandlung nicht nur dann relevant, wenn sie unmittelbar von staatlichen Organen (aus Gründen der GFK) gesetzt worden ist, sondern auch dann, wenn der Staat nicht gewillt oder nicht in der Lage ist, Handlungen mit Verfolgungscharakter zu unterbinden, die nicht von staatlichen Stellen ausgehen, sofern diese Handlungen - würden sie von staatlichen Organen gesetzt - asylrelevant wären.

Anträge auf internationalen Schutz sind gemäß § 3 Abs. 3 AsylG 2005 bezüglich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten abzuweisen, wenn den Fremden eine innerstaatliche Fluchtalternative (§ 11) offen steht oder der Fremde einen Asylausschlussgrund (§ 6) gesetzt hat.

Die "Glaubhaftmachung" wohlbegründeter Furcht setzt positiv getroffene Feststellungen seitens der Behörde und somit die Glaubwürdigkeit der "hierzu geeigneten Beweismittel", insbesondere des diesen Feststellungen zugrundeliegenden Vorbringens des Asylwerbers voraus (vgl. VwGH 19.03.1997, 95/01/0466). Die Frage, ob eine Tatsache als glaubhaft gemacht zu betrachten ist, unterliegt der freien Beweiswürdigung der Behörde (VwGH 27.05.1998, 97/13/0051).

II.3.2.1. Die Eltern der BF haben in der mündlichen Verhandlung am 17.11.2020 die Beschwerde hinsichtlich jeweils der Spruchpunkte I zurückgezogen. Wenngleich damit keine Entscheidung über die Beschwerde in der Sache verbunden ist (VwGH 30.01.2020, Ra 2019/11/0090), haben sie damit doch zum Ausdruck gebracht, dass kein Interesse mehr an einer Entscheidung in diesem Punkt besteht (vgl. VwGH 15.11.2019, Fr 2019/08/0014). Allfällige Gründe, die die Eltern zum Asyl in Österreich berechtigen würden, und die auf die BF durchschlagen könnten, wurden daher in ihren Verfahren nicht festgestellt. Auch in der Beschwerde wird dazu nichts vorgebracht.

II.3.2.2. Wie ebenfalls oben ausgeführt, hat die belangte Behörde im angefochtenen Bescheid das Vorliegen verschiedener potentiell asylrelevanter Aspekte im Fall der BF verneint. Dem wurde in der Beschwerde auch nicht entgegengetreten. Insgesamt ergibt sich auch daraus, wie in der Beweiswürdigung dargelegt, kein Asylgrund für die BF.

II.3.2.3. Bezüglich des Beschwerdevorbringens, die BF habe aufgrund westlicher Orientierung Verfolgung zu befürchten, wird ebenfalls auf die obigen Ausführungen und die zitierte höchstgerichtliche Rechtsprechung verwiesen, wonach bei einem etwa sechsmonatigen Kleinkind die Verfestigung eines westlichen entsprechenden Lebensstils nicht angenommen werden kann.

II.3.2.4. Auch sonst konnte eine begründete Furcht vor Verfolgung aus Gründen der GFK – auch im Zusammenhang mit einem Wunsch nach (zukünftiger) Schuldbildung – nicht festgestellt werden. Für eine asylrelevante Verfolgung der BF bei einer Verbringung nach Afghanistan auf Grund ihrer spezifischen Situation als Kind gab es auch keine Anhaltspunkte im Laufe des Verfahrens.

II.3.2.5. Auch aus der allgemeinen Lage in Afghanistan lässt sich konkret für die BF kein Status der Asylberechtigten ableiten. Eine allgemeine desolate wirtschaftliche und soziale Situation kann nach ständiger Judikatur des Verwaltungsgerichtshofes nicht als hinreichender Grund für eine Asylgewährung herangezogen werden (vgl. etwa VwGH vom 14.03.1995, 94/20/0798, sowie VwGH vom 17.06.1993, 92/01/1081). Wirtschaftliche Benachteiligungen können nur dann asylrelevant sein, wenn sie jegliche Existenzgrundlage entziehen (vgl. etwa VwGH 09.05.1996, 95/20/0161; 30.04.1997, 95/01/0529, 08.09.1999, 98/01/0614). Aber selbst für den Fall des Entzugs der Existenzgrundlage ist Asylrelevanz nur dann anzunehmen, wenn dieser Entzug mit einem in der GFK genannten Anknüpfungspunkt – nämlich der Rasse, der Religion, der Nationalität, der Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder der politischen Gesinnung – zusammenhängt, was im vorliegenden Fall zu verneinen wäre.

II.3.2.6. Auch eine konkrete individuelle Verfolgung der BF aufgrund ihrer Zugehörigkeit zur Volksgruppe der Hazara kann nicht festgestellt werden: Den oben zitierten Länderberichten ist u.a. zwar zu entnehmen, dass Schiiten – speziell jene, die der Volksgruppe der Hazara angehören – (weiterhin) Diskriminierungen durch die sunnitische Mehrheit ausgesetzt sind. In einer Gesamtschau der vorliegenden Länderberichte erreicht diese Gefährdung jedoch nicht jenes Ausmaß, welches notwendig wäre, um eine spezifische Gruppenverfolgung der Volksgruppe der Hazara (oder von Angehörigen der Religionsgemeinschaft der Schiiten) in Afghanistan für gegeben zu erachten. Auch der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte geht davon aus, dass die Zugehörigkeit zur Minderheit der Hazara – unbeschadet der schlechten Situation für diese Minderheit – nicht dazu führt, dass im Fall einer Rückkehr nach Afghanistan eine unmenschliche Behandlung drohen würde (EGMR 05.07.2016, 29.094/09, A.M./Niederlande). Der Verwaltungsgerichthof nahm in den letzten Jahren ebenso keine Gruppenverfolgung der Hazara irgendwo in Afghanistan an (VwGH 17.12.2015, Ra 2015/20/0048). Auch die EASO Leitlinien 2019 halten dazu fest, dass allein die Zugehörigkeit zur Volksgruppe der Hazara im Allgemeinen nicht zu einem Risikolevel führt, welches für sich genommen bereits wohlbegründete Furcht vor Verfolgung begründet. Diese kann sich – vorbehaltlich der konkreten Umstände des Einzelfalles – im Zusammentreffen mit anderen Risikoprofilen ergeben. Ein solches Risiko ist im Verfahren jedoch nicht hervorgekommen. Aus diesen Gründen ist das Vorliegen einer Gruppenverfolgung im Hinblick auf die Volksgruppe der Hazara in Afghanistan im Ergebnis zu verneinen.

II.3.2.7. Im Ergebnis konnte die BF eine konkret und gezielt gegen ihre Person gerichtete aktuelle Verfolgung maßgeblicher Intensität, welche ihre Ursache in einem der in der Genfer Flüchtlingskonvention genannten Gründe hätte, nicht glaubhaft machen.

Daher war die Beschwerde gegen Spruchpunkt I. des angefochtenen Bescheides gemäß § 3 Abs. 1 AsylG 2005 abzuweisen.

II.3.3. Zu Spruchpunkt II. des angefochtenen Bescheides:

Gemäß § 34 Abs. 3 iVm Abs. 5 AsylG 2005 hat das Bundesverwaltungsgericht aufgrund eines Antrages eines Familienangehörigen eines Fremden, dem der Status des subsidiär Schutzberechtigten zuerkannt worden ist, dem Familienangehörigen mit Bescheid den Status eines subsidiär Schutzberechtigten zuzuerkennen, wenn dieser nicht straffällig geworden ist, gegen den Fremden, dem der Status des subsidiär Schutzberechtigten zuerkannt wurde, kein Verfahren zur Aberkennung dieses Status anhängig ist (§ 9) und dem Familienangehörigen nicht der Status eines Asylberechtigten zuzuerkennen ist.

Gemäß § 2 Abs. 1 Z 22 AsylG 2005 ist „Familienangehöriger“

a. der Elternteil eines minderjährigen Asylwerbers, Asylberechtigten oder subsidiär Schutzberechtigten;

b. der Ehegatte oder eingetragene Partner eines Asylwerbers, Asylberechtigten oder subsidiär Schutzberechtigten, sofern die Ehe oder eingetragene Partnerschaft bereits vor der Einreise bestanden hat;

c. ein zum Zeitpunkt der Antragstellung minderjähriges lediges Kind eines Asylwerbers, Asylberechtigten oder subsidiär Schutzberechtigten und

Quelle: Bundesverwaltungsgericht BVwg, https://www.bvwg.gv.at
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