TE Vwgh Erkenntnis 2021/6/1 Ro 2020/10/0002

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Veröffentlicht am 01.06.2021
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Index

E000 EU- Recht allgemein
E1P
E3R E05204020
E6J
001 Verwaltungsrecht allgemein
10/07 Verwaltungsgerichtshof
32/02 Steuern vom Einkommen und Ertrag
40/01 Verwaltungsverfahren
61/01 Familienlastenausgleich
72/13 Studienförderung

Norm

EStG 1988 §33 Abs3
EURallg
FamLAG 1967 §4
FamLAG 1967 §6 Abs5
FamLAG 1967 §6 Abs5 idF 2018/I/077
FamLAG 1967 §8 Abs2 idF 2013/I/060
StudFG 1992 §30 Abs2 Z4
StudFG 1992 §30 Abs2 Z5
VwGG §42 Abs2 Z3 litb
VwGG §42 Abs2 Z3 litc
VwGVG 2014 §24 Abs4
VwRallg
12010P/TXT Grundrechte Charta Art47
12010P/TXT Grundrechte Charta Art51
32004R0883 Koordinierung Soziale Sicherheit
32004R0883 Koordinierung Soziale Sicherheit Art1 litz
32004R0883 Koordinierung Soziale Sicherheit Art68
32004R0883 Koordinierung Soziale Sicherheit Art68 Abs2
62010CJ0617 Aklagaren / Fransson VORAB

Beachte


Serie (erledigt im gleichen Sinn):
Ro 2020/10/0020 E 01.06.2021
Ro 2020/10/0033 E 01.06.2021

Betreff

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Rigler und die Hofräte Dr. Lukasser, Dr. Hofbauer und Dr. Fasching sowie die Hofrätin Dr. Leonhartsberger als Richter, unter Mitwirkung der Schriftführerin Mag. Wurzer, über die Revision der B P in W, vertreten durch die Cerha Hempel Rechtsanwälte GmbH in 1010 Wien, Parkring 2, gegen das Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichtes vom 1. Oktober 2019, Zl. W224 2199763-2/3E, betreffend Studienbeihilfe (belangte Behörde vor dem Verwaltungsgericht: Senat der Studienbeihilfenbehörde an der Stipendienstelle Wien), zu Recht erkannt:

Spruch

Das angefochtene Erkenntnis wird wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufgehoben.

Der Bund hat der Revisionswerberin Aufwendungen in der Höhe von € 1.346,40 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.

Begründung

1        Mit Bescheid der Studienbeihilfenbehörde, Stipendienstelle Wien, vom 21. Dezember 2017 wurde dem Antrag der Revisionswerberin, einer slowakischen Staatsangehörigen, auf Zuerkennung von Studienbeihilfe für das Studium „Supply Chain Management (Master)“ an der Wirtschaftsuniversität Wien dahingehend stattgegeben, dass dieser ab September 2017 eine monatliche Studienbeihilfe in der Höhe von € 564 zuerkannt wurde. Dabei wurde der Jahresbetrag der Familienbeihilfe inklusive Kinderabsetzbetrag bei der Berechnung der Studienbeihilfe von der Höchststudienbeihilfe abgezogen.

2        Mit Bescheid des Senats der Studienbeihilfenbehörde an der Stipendienstelle Wien vom 28. März 2018 wurde einer dagegen von der Revisionswerberin erhobenen Vorstellung keine Folge gegeben und der Bescheid vom 21. Dezember 2017 bestätigt.

3        Mit - unbekämpft gebliebenem - Beschluss des Bundesverwaltungsgerichtes vom 9. Oktober 2018 wurde dieser Bescheid über Beschwerde der Revisionswerberin aufgehoben und die Angelegenheit gemäß § 28 Abs. 3 zweiter Satz VwGVG zur Erlassung eines neuen Bescheides an die Behörde zurückverwiesen.

4        Begründend ging das Verwaltungsgericht davon aus, dass die belangte Behörde verpflichtet gewesen wäre zu ermitteln, ob die Eltern der Revisionswerberin zum anspruchsberechtigten Personenkreis gemäß § 2 Abs. 1 Familienlastenausgleichsgesetz 1967 (FLAG) gehörten. Sie hätte - erforderlichenfalls auch unter Aufforderung der Revisionswerberin zur Beibringung von Unterlagen - den für die Beurteilung der Rechtsfrage, ob Familienbeilhilfe zustünde, maßgeblichen Sachverhalt festzustellen und diesen rechtlich zu beurteilen gehabt. Die von der Behörde gewählte Vorgangsweise, die Revisionswerberin zur Mitwirkung an der Lösung der Rechtsfrage in Form der Vorlage eines negativen Familienbeihilfenbescheides aufzufordern, sei hingegen nicht rechtmäßig gewesen.

5        Mit Ersatzbescheid der belangten Behörde vom 6. Juni 2019 wurde die von der Revisionswerberin erhobene Vorstellung erneut abgewiesen und die mit Bescheid vom 21. Dezember 2017 festgesetzte Studienbeihilfe bestätigt.

6        Mit dem nunmehr angefochtenen Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichtes vom 1. Oktober 2019 wurde die gegen diesen Bescheid erhobene Beschwerde der Revisionswerberin abgewiesen und ausgesprochen, dass die Revision an den Verwaltungsgerichtshof gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG zulässig sei.

7        Das Verwaltungsgericht ging nach Darstellung des Verfahrensganges im Wesentlichen davon aus, dass die im Juni 1995 geborene Revisionswerberin slowakische Staatsangehörige sei und ihren Hauptwohnsitz seit 8. September 2016 durchgehend in Wien habe. Die Eltern der Revisionswerberin hätten ihren Wohnsitz in der Slowakei und übten in Österreich keine Berufstätigkeit aus. Die durchschnittlichen Lebenserhaltungskosten der Revisionswerberin im Zeitraum von September 2017 bis August 2018 hätten sich auf ca. € 954 pro Monat belaufen, im selben Zeitraum habe die Revisionswerberin von ihrem Vater monatlich € 250 erhalten. Von ihrer Mutter habe sie keine Unterhaltsleistungen erhalten.

8        In der rechtlichen Beurteilung führte das Verwaltungsgericht nach Wiedergabe von Rechtsvorschriften im Wesentlichen aus, strittig sei fallbezogen ausschließlich die Höhe der Studienbeihilfe, wobei die belangte Behörde davon ausgegangen sei, dass der Revisionswerberin - bei entsprechender Antragstellung - gemäß § 6 Abs. 5 FLAG Familienbeihilfe zustünde. Von der Revisionswerberin werde bestritten, dass bei der Berechnung der Höhe der Studienbeihilfe - mangels Anspruches - der Jahresbetrag der Familienbeihilfe gemäß § 8 Abs. 2 FLAG und der Jahresbetrag des Kinderabsetzbetrages gemäß § 33 Abs. 3 EStG 1988 abzuziehen seien. Gemäß § 30 Abs. 2 Studienförderungsgesetz (StudFG) habe die Berechnung der Höhe der Studienbeihilfe dahingehend zu erfolgen, dass die jährlich jeweils mögliche Höchststudienbeihilfe unter anderem vermindert werde um den Jahresbetrag der Familienbeihilfe gemäß § 8 Abs. 2 FLAG, der für den Studierenden unter Berücksichtigung seines Alters zustünde (Z 4), und den Jahresbetrag des Kinderabsetzbetrages gemäß § 33 Abs. 3 EStG 1988, der für den Studierenden zusteht (Z 5). Gemäß § 6 Abs. 5 FLAG hätten Kinder, deren Eltern ihnen nicht überwiegend Unterhalt leisteten und deren Unterhalt nicht zur Gänze aus Mitteln der Kinder- und Jugendhilfe oder nicht zur Gänze aus öffentlichen Mitteln zur Sicherung des Lebensunterhaltes und des Wohnbedarfes getragen würden, unter denselben Voraussetzungen Anspruch auf Familienbeihilfe, unter denen eine Vollwaise Anspruch auf Familienbeihilfe habe.

9        Die Revisionswerberin sei Staatsangehörige der Slowakei, sodass für sie die Verordnung (EG) Nr. 883/2004 gemäß deren Art. 2 Abs. 2 gelte. Daher finde auf sie die auf Wohnortklauseln beruhende Bestimmung des § 2 Abs. 8 FLAG, welche auf den wesentlich durch den Wohnort bestimmten Mittelpunkt der Lebensinteressen im Bundesgebiet abstelle, zufolge des Art. 7 der Verordnung Nr. 883/2004 und dessen Anwendungsvorrangs insoweit keine Anwendung. Zufolge des in Art. 4 der Verordnung Nr. 883/2004 normierten Gleichbehandlungsgrundsatzes für Personen, für die diese Verordnung gelte, fänden die durch den Anwendungsvorrang dieser Bestimmung verdrängten Bestimmungen des § 3 Abs. 1 und 2 FLAG mit besonderen Voraussetzungen für Personen, die nicht österreichische Staatsbürger seien, keine Anwendung (Verweis auf VwGH 22.11.2016, Ro 2014/16/0067). Die Revisionswerberin sei in Belangen der Studienbeihilfe daher wie eine österreichische Staatsbürgerin zu behandeln. Die Bestimmungen des § 2 Abs. 8 FLAG und des § 3 Abs. 1 und 2 FLAG seien fallbezogen nicht anzuwenden.

10       Für die Frage, ob der Revisionswerberin Familienbeihilfe zustünde, sei daher ausschlaggebend, ob ihre Eltern ihr überwiegend Unterhalt leisteten (§ 6 Abs. 5 FLAG) und sie die Voraussetzungen, unter denen auch eine Vollwaise Anspruch auf Familienbeihilfe habe (§ 6 Abs. 1 bis 3 FLAG), erfülle. Bei der Bestimmung des § 6 Abs. 5 FLAG komme es ausschließlich auf das tatsächliche (überwiegende) Leisten oder Nichtleisten von Unterhalt durch die Eltern an und zwar unabhängig davon, ob diese eine Unterhaltspflicht treffe oder ob die allfällige Leistung eines Unterhalts freiwillig, d.h. ohne rechtliche Verpflichtung, erfolge (Verweis auf VwGH 27.1.2010, 2009/16/0087, VwSlg. 8509 F). Ob die Eltern einem Kind überwiegend Unterhalt leisteten, hänge einerseits von der Höhe des gesamten Unterhaltsaufwandes für das Kind in einem bestimmten Zeitraum und andererseits von den tatsächlich von den Eltern geleisteten Unterhaltsbeiträgen ab. Dabei sei zu prüfen, ob die Eltern mehr als die Hälfte der Unterhaltskosten durch ihre Unterhaltsbeiträge abdeckten (Verweis auf VwGH 26.5.2011, 2011/16/0055). Die belangte Behörde habe daher die tatsächlichen Unterhaltskosten für das Kind unter Berücksichtigung seiner besonderen Lebensverhältnisse zu ermitteln und festzustellen (Verweis auf VwGH 20.9.1988, 88/14/0130). Fallbezogen habe die belangte Behörde nachvollziehbar ermittelt und festgestellt, dass für die Revisionswerberin monatliche Unterhaltskosten von durchschnittlich € 954 anfielen. Die Unterhaltsleistungen des Vaters deckten daher nur einen Teil, jedenfalls aber weniger als die Hälfte dieser Unterhaltskosten ab. Die Eltern der Revisionswerberin leisteten daher nicht überwiegend Unterhalt im Sinne des § 6 Abs. 5 FLAG. Die Revisionswerberin habe einen Wohnsitz im Inland und ihr sei nicht Unterhalt von einem (früheren) Ehegatten zu leisten. Da ihre Eltern weder ihren Wohnsitz noch ihren gewöhnlichen Aufenthalt oder andere Anknüpfungspunkte in Österreich hätten, hätten diese keinen Anspruch auf Familienbeihilfe für die Revisionswerberin. Da diese im antragsgegenständlichen Zeitraum das 24. Lebensjahr noch nicht vollendet habe, für einen Beruf ausgebildet werde (Studium) und die vorgesehene Ausbildungszeit um nicht mehr als ein Ausbildungsjahr überschritten habe, erfülle sie auch die Voraussetzungen des § 6 Abs. 1 bis 3 FLAG. Insgesamt sei nicht ersichtlich, aus welchem Grund der Revisionswerberin im Falle einer entsprechenden Antragstellung die Zuerkennung von Familienbeihilfe für den antragsgegenständlichen Zeitraum verwehrt worden wäre. Die Revisionswerberin habe weder auf Sachverhaltsebene noch auf rechtlicher Ebene Argumente vorgebracht, die die behauptete Nichtzuerkennung der Familienbeihilfe im Falle einer entsprechenden Antragstellung untermauert hätten. Vor dem Hintergrund dieser bereits im angefochtenen Bescheid ausgeführten Überlegungen sei der Behörde nicht entgegenzutreten, wenn sie davon ausgehe, dass - bei entsprechender Antragstellung - der Revisionswerberin selbst (und nicht ihren Eltern) Familienbeihilfe zustünde und der Jahresbetrag der Familienbeihilfe sowie der Jahresbetrag des Kinderabsetzbetrages bei der Berechnung der Höhe der Studienbeihilfe daher gemäß § 30 Abs. 2 Z 4 und 5 StudFG abzuziehen seien. Entgegen der Ansicht der Revisionswerberin würden in ihrem Fall die Familienbeihilfe und der Kinderabsetzbetrag nicht von der Höchststudienbeihilfe abgezogen, „obwohl“ sie keine Familienbeihilfe in Österreich beziehen könne, sondern „gerade weil“ sie Familienbeihilfe in Österreich beziehen könne und auch einen entsprechenden Anspruch auf den Kinderabsetzbetrag habe. Dies entspreche auch dem Willen des Gesetzgebers, wonach die Familienbeihilfe deswegen von der Höchststudienbeihilfe abgezogen werden solle, weil für Studierende, für die ein Anspruch auf Familienbeihilfe bestehe, dieser Teil der Studienförderung durch die Familienbeihilfe (in das Studienförderungssystem integrierte Förderung) gewährt werde (Verweis auf VwGH 21.12.2016, Ro 2015/10/0012, VwSlg. 19512 A). Würden der Jahresbetrag der Familienbeihilfe und der Jahresbetrag des Kinderabsetzbetrages - trotz Anspruches auf Familienbeihilfe - nicht von der Höchststudienbeihilfe abgezogen, würde dies zu dem unsachlichen Ergebnis führen, dass zusätzlich zur Höchststudienbeihilfe die Familienbeihilfe bezogen werden könnte und es daher zu einer Doppelförderung kommen würde, die durch diese Bestimmung gerade verhindert werden sollte.

11       Wenn die Revisionswerberin in ihrer Argumentation auf die Entscheidung des Verwaltungsgerichtshofes vom 21. Dezember 2016, Ro 2015/10/0012, VwSlg. 19512 A, Bezug nehme, übersehe sie, dass der Verwaltungsgerichtshof darin nur klargestellt habe, dass der Abzug der Familienbeihilfe von der Höchststudienbeihilfe nicht in Betracht komme, wenn die Personen, denen die Familienbeihilfe zu gewähren wäre, nicht zum grundsätzlich anspruchsberechtigten Personenkreis gehörten. Der Entscheidung sei jedoch keine Aussage dahingehend zu entnehmen, dass der Jahresbetrag der Familienbeihilfe auch dann nicht gemäß § 30 Abs. 2 StudFG von der Höchststudienbeihilfe abzuziehen sei, wenn die Studierende selbst einen Eigenanspruch auf Familienbeihilfe nach dem FLAG habe und ihr im Falle einer Antragstellung daher Familienbeihilfe zustünde. Da im gegenständlichen Fall nicht die Eltern anspruchsberechtigt seien, sondern das Kind selbst, habe die belangte Behörde trotz Wohnsitzes der Eltern außerhalb Österreichs die Gewährung von Familienbeihilfe nicht von vornherein ausschließen können, sondern habe zu Recht das Vorliegen der Voraussetzungen des § 6 Abs. 5 FLAG geprüft und bejaht. Dass die belangte Behörde bei der Revisionswerberin, weil sie keine österreichische Staatsbürgerin sei, mehr Ermittlungen getätigt habe als bei österreichischen Staatsbürgern stehe dem Effektivitätsgebot nicht entgegen, da dadurch weder die Ausübung der durch die Unionsrechtsordnung verliehenen Rechte praktisch unmöglich gemacht noch übermäßig erschwert werde. Im Übrigen sei darauf hinzuweisen, dass bei österreichischen Staatsbürgern - aufgrund des in der Regel inländischen Wohnsitzes der Eltern - die Familienbeihilfe fast immer von der Höchststudienbeihilfe abgezogen werde. Das Verfahren bzw. die Ermittlungen seien bei österreichischen Staatsbürgern daher in der Regel weniger umfangreich, da jenen ohnehin nur eine um die Familienbeihilfe reduzierte Studienbeihilfe ausbezahlt werde. Bei österreichischen Staatsbürgern, die behaupteten, keinen Anspruch auf Familienbeihilfe zu haben, werde - ebenso wie bei der Revisionswerberin - ein umfangreicheres Ermittlungsverfahren notwendig sein. Inwiefern es als diskriminierend anzusehen sein solle, dass die Behörde bei nichtösterreichischen (wie auch bei österreichischen) Staatsangehörigen, die behaupten, keinen Anspruch auf Familienbeihilfe zu haben, ergänzende Ermittlungen durchführe, sei nicht ersichtlich, könnten diese Ermittlungen doch bloß zu einem besseren (nämlich, dass die Familienbeihilfe eventuell nicht abgezogen werde) oder gleichem Ergebnis wie bei der überwiegenden Mehrzahl österreichischer Staatsbürger führen. Entgegen der Ansicht der Revisionswerberin liege auch eine mittelbare Diskriminierung nicht vor, zumal auch bei der überwiegenden Mehrheit der österreichischen Staatsbürger der Jahresbetrag der Familienbeihilfe und des Kinderabsetzbetrages von der Höchststudienbeihilfe abgezogen werde; dieser Abzug erfolge nur, weil tatsächlich ein Anspruch auf Familienbeihilfe bestehe. Eine Schlechterstellung der Revisionswerberin liege daher nicht vor. Wenn die Revisionswerberin vorbringe, dass der pauschale Abzug der österreichischen Familienbeihilfe fragwürdig sei, weil es einerseits in gewissen Konstellationen Ausgleichs- bzw. Differenzzahlungen gebe, andererseits Familienleistungen, die in einem anderen Mitgliedstaat bezogen würden, nicht vom Höchststudienbeitrag abgezogen würden, sei auszuführen, dass mit einer Konstellation, in der nur die österreichische Familienbeihilfe (Kinderabsetzbetrag) zur Gänze von der Höchststudienbeihilfe abgezogen werde, während Familienleistungen aus anderen Mitgliedsstaaten nicht abgezogen würden, nur eine Inländerdiskriminierung vorliegen könne, die jedoch keine Unionsrechtswidrigkeit darstelle (Verweis auf VwGH 29.6.2017, Ro 2017/06/0002). Die von der Revisionswerberin behauptete Unanwendbarkeit der Bestimmung des § 30 Abs. 2 Z 4 StudFG aufgrund Unionsrechtswidrigkeit sei daher nicht gegeben.

12       Die Revision sei gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG zulässig, weil es an einer Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes zu den maßgeblichen Bestimmungen des § 30 Abs. 2 StudFG iVm § 6 Abs. 5 FLAG fehle. Es sei im Revisionsfall zu klären, ob der Jahresbetrag der Familienbeihilfe gemäß § 30 Abs. 2 StudFG von der Höchststudienbeihilfe abzuziehen sei, wenn die Studierende selbst einen Eigenanspruch auf Familienbeihilfe nach dem FLAG habe und ihr im Falle einer Antragstellung daher Familienbeihilfe zustünde.

13       Gegen dieses Erkenntnis richtet sich die vorliegende ordentliche Revision.

14       Das Verwaltungsgericht legte die Verfahrensakten vor.

15       Die belangte Behörde erstattete eine Revisionsbeantwortung, in der sie die Abweisung der Revision beantragte.

Der Verwaltungsgerichtshof hat erwogen:

16       Das Studienförderungsgesetz 1992 - StudFG, BGBl. Nr. 305/1992 idF BGBl. Nr. 142/2017, lautet auszugsweise wie folgt:

Höhe der Studienbeihilfe

§ 30. (1) ...

(2) Die Studienbeihilfe ist zu berechnen, indem die jährlich jeweils mögliche Höchststudienbeihilfe vermindert wird um

...

4.   den Jahresbetrag der Familienbeihilfe gemäß § 8 Abs. 2 des Familienlastenausgleichsgesetzes 1967, BGBl. Nr. 376/1967, in der Fassung des Bundesgesetzes BGBl. I Nr. 60/2013, der für den Studierenden unter Berücksichtigung seines Alters zustünde; der Jahresbetrag der Familienbeihilfe ist nicht abzuziehen, wenn der Studierende nachweist, dass trotz eines entsprechenden Antrages für ihn gemäß § 5 Abs. 2 des Familienlastenausgleichsgesetzes 1967 keine Familienbeihilfe zusteht,

5.   den Jahresbetrag des Kinderabsetzbetrages gemäß § 33 Abs. 3 EStG 1988, der für den Studierenden zusteht, und

...

(5) Der so errechnete Jahresbetrag ist um 12% zu erhöhen, durch zwölf zu teilen und dann auf ganze Euro zu runden.

...“

17       Das Familienlastenausgleichsgesetz 1967 - FLAG, BGBl. Nr. 376/1967 idF BGBl. I Nr. 156/2017, lautet auszugsweise wie folgt:

Familienbeihilfe

§ 2. (1) Anspruch auf Familienbeihilfe haben Personen, die im Bundesgebiet einen Wohnsitz oder ihren gewöhnlichen Aufenthalt haben,

...

b)   für volljährige Kinder, die das 24. Lebensjahr noch nicht vollendet haben und die für einen Beruf ausgebildet oder in einem erlernten Beruf in einer Fachschule fortgebildet werden, wenn ihnen durch den Schulbesuch die Ausübung ihres Berufes nicht möglich ist. ...

...

§ 4. (1) Personen, die Anspruch auf eine gleichartige ausländische Beihilfe haben, haben keinen Anspruch auf Familienbeihilfe.

(2) Österreichische Staatsbürger, die gemäß Abs. 1 oder gemäß § 5 Abs. 5 vom Anspruch auf die Familienbeihilfe ausgeschlossen sind, erhalten eine Ausgleichszahlung, wenn die Höhe der gleichartigen ausländischen Beihilfe, auf die sie oder eine andere Person (§ 5 Abs. 5) Anspruch haben, geringer ist als die Familienbeihilfe, die ihnen nach diesem Bundesgesetz ansonsten zu gewähren wäre.

(3) Die Ausgleichszahlung wird in Höhe des Unterschiedsbetrages zwischen der gleichartigen ausländischen Beihilfe und der Familienbeihilfe, die nach diesem Bundesgesetz zu gewähren wäre, geleistet.

...

§ 6. (1) Anspruch auf Familienbeihilfe haben auch minderjährige Vollwaisen, wenn

a)   sie im Inland einen Wohnsitz oder ihren gewöhnlichen Aufenthalt haben,

b)   ihnen nicht Unterhalt von ihrem Ehegatten oder ihrem früheren Ehegatten zu leisten ist und

c)   für sie keiner anderen Person Familienbeihilfe zu gewähren ist.

(2) Volljährige Vollwaisen haben Anspruch auf Familienbeihilfe, wenn auf sie die Voraussetzungen des Abs. 1 lit. a bis c zutreffen und wenn sie

a)   das 24. Lebensjahr noch nicht vollendet haben und für einen Beruf ausgebildet werden oder in einem erlernten Beruf in einer Fachschule fortgebildet werden, wenn ihnen durch den Schulbesuch die Ausübung ihres Berufes nicht möglich ist. § 2 Abs. 1 lit. b zweiter bis letzter Satz sind anzuwenden; oder

...

(5) Kinder, deren Eltern ihnen nicht überwiegend Unterhalt leisten und deren Unterhalt nicht zur Gänze aus Mitteln der Kinder- und Jugendhilfe oder nicht zur Gänze aus öffentlichen Mitteln zur Sicherung des Lebensunterhaltes und des Wohnbedarfes getragen wird, haben unter denselben Voraussetzungen Anspruch auf Familienbeihilfe, unter denen eine Vollwaise Anspruch auf Familienbeihilfe hat (Abs. 1 bis 3). ...“

18       Die Verordnung (EG) Nr. 883/2004 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29. April 2004 zur Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit, ABl. EU Nr. L 166 vom 30. April 2004, in der Fassung der Berichtigung ABl. EU Nr. L 200 vom 7. Juni 2004 (Verordnung Nr. 883/2004), lautet auszugsweise:

„TITEL I

ALLGEMEINE BESTIMMUNGEN

Artikel 1

Begriffsbestimmungen

Für die Zwecke dieser Verordnung bezeichnet der Ausdruck

...

z)   ‚Familienleistungen‘ alle Sach- oder Geldleistungen zum Ausgleich von Familienlasten, mit Ausnahme von Unterhaltsvorschüssen und besonderen Geburts- und Adoptionsbeihilfen nach Anhang I.

Artikel 2

Persönlicher Geltungsbereich

(1) Diese Verordnung gilt für Staatsangehörige eines Mitgliedstaats, Staatenlose und Flüchtlinge mit Wohnort in einem Mitgliedstaat, für die die Rechtsvorschriften eines oder mehrerer Mitgliedstaaten gelten oder galten, sowie für ihre Familienangehörigen und Hinterbliebenen.

...

Artikel 3

Sachlicher Geltungsbereich

(1) Diese Verordnung gilt für alle Rechtsvorschriften, die folgende Zweige der sozialen Sicherheit betreffen:

...

j)   Familienleistungen.

Artikel 4

Gleichbehandlung

Sofern in dieser Verordnung nichts anderes bestimmt ist, haben Personen, für die diese Verordnung gilt, die gleichen Rechte und Pflichten aufgrund der Rechtsvorschriften eines Mitgliedstaats wie die Staatsangehörigen dieses Staates.

Artikel 7

Aufhebung der Wohnortklauseln

Sofern in dieser Verordnung nichts anderes bestimmt ist, dürfen Geldleistungen, die nach den Rechtsvorschriften eines oder mehrerer Mitgliedstaaten oder nach dieser Verordnung zu zahlen sind, nicht aufgrund der Tatsache gekürzt, geändert, zum Ruhen gebracht, entzogen oder beschlagnahmt werden, dass der Berechtigte oder seine Familienangehörigen in einem anderen als dem Mitgliedstaat wohnt bzw. wohnen, in dem der zur Zahlung verpflichtete Träger seinen Sitz hat.

...

TITEL II

BESTIMMUNG DES ANWENDBAREN RECHTS

Artikel 11

Allgemeine Regelung

(1) Personen, für die diese Verordnung gilt, unterliegen den Rechtsvorschriften nur eines Mitgliedstaats. Welche Rechtsvorschriften dies sind, bestimmt sich nach diesem Titel.

...

(3) Vorbehaltlich der Artikel 12 bis 16 gilt Folgendes:

a)   eine Person, die in einem Mitgliedstaat eine Beschäftigung oder selbstständige Erwerbstätigkeit ausübt, unterliegt den Rechtsvorschriften dieses Mitgliedstaats;

...

e)   jede andere Person, die nicht unter die Buchstaben a bis d fällt, unterliegt unbeschadet anders lautender Bestimmungen dieser Verordnung, nach denen ihr Leistungen aufgrund der Rechtsvorschriften eines oder mehrerer anderer Mitgliedstaaten zustehen, den Rechtsvorschriften des Wohnmitgliedstaats.

...

KAPITEL 8

Familienleistungen

Artikel 67

Familienangehörige, die in einem anderen Mitgliedstaat wohnen

Eine Person hat auch für Familienangehörige, die in einem anderen Mitgliedstaat wohnen, Anspruch auf Familienleistungen nach den Rechtsvorschriften des zuständigen Mitgliedstaats, als ob die Familienangehörigen in diesem Mitgliedstaat wohnen würden. Ein Rentner hat jedoch Anspruch auf Familienleistungen nach den Rechtsvorschriften des für die Rentengewährung zuständigen Mitgliedstaats.

Artikel 68

Prioritätsregeln bei Zusammentreffen von Ansprüchen

(1) Sind für denselben Zeitraum und für dieselben Familienangehörigen Leistungen nach den Rechtsvorschriften mehrerer Mitgliedstaaten zu gewähren, so gelten folgende Prioritätsregeln:

a)   Sind Leistungen von mehreren Mitgliedstaaten aus unterschiedlichen Gründen zu gewähren, so gilt folgende Rangfolge: an erster Stelle stehen die durch eine Beschäftigung oder eine selbstständige Erwerbstätigkeit ausgelösten Ansprüche, darauf folgen die durch den Bezug einer Rente ausgelösten Ansprüche und schließlich die durch den Wohnort ausgelösten Ansprüche.

b)   Sind Leistungen von mehreren Mitgliedstaaten aus denselben Gründen zu gewähren, so richtet sich die Rangfolge nach den folgenden subsidiären Kriterien:

i)   bei Ansprüchen, die durch eine Beschäftigung oder eine selbstständige Erwerbstätigkeit ausgelöst werden: der Wohnort der Kinder, unter der Voraussetzung, dass dort eine solche Tätigkeit ausgeübt wird, und subsidiär gegebenenfalls die nach den widerstreitenden Rechtsvorschriften zu gewährende höchste Leistung. Im letztgenannten Fall werden die Kosten für die Leistungen nach in der Durchführungsverordnung festgelegten Kriterien aufgeteilt;

ii)  bei Ansprüchen, die durch den Bezug einer Rente ausgelöst werden: der Wohnort der Kinder, unter der Voraussetzung, dass nach diesen Rechtsvorschriften eine Rente geschuldet wird, und subsidiär gegebenenfalls die längste Dauer der nach den widerstreitenden Rechtsvorschriften zurückgelegten Versicherungs- oder Wohnzeiten;

iii) bei Ansprüchen, die durch den Wohnort ausgelöst werden: der Wohnort der Kinder.

(2) Bei Zusammentreffen von Ansprüchen werden die Familienleistungen nach den Rechtsvorschriften gewährt, die nach Absatz 1 Vorrang haben. Ansprüche auf Familienleistungen nach anderen widerstreitenden Rechtsvorschriften werden bis zur Höhe des nach den vorrangig geltenden Rechtsvorschriften vorgesehenen Betrags ausgesetzt; erforderlichenfalls ist ein Unterschiedsbetrag in Höhe des darüber hinausgehenden Betrags der Leistungen zu gewähren. Ein derartiger Unterschiedsbetrag muss jedoch nicht für Kinder gewährt werden, die in einem anderen Mitgliedstaat wohnen, wenn der entsprechende Leistungsanspruch ausschließlich durch den Wohnort ausgelöst wird.

...“

19       Die Revision verweist in ihrer Zulässigkeitsbegründung auf jene des Verwaltungsgerichtes und macht darüber hinaus - unter anderem - geltend, das Verwaltungsgericht weiche von der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes zu § 24 VwGVG ab, wonach das Absehen von der beantragten mündlichen Verhandlung jedenfalls ausreichend zu begründen sei (Verweis auf VwGH 18.12.2018, Ra 2017/17/0710; 25.1.2016, Ra 2015/09/0110; 19.5.2015, Ro 2015/05/0004; 21.4.2015, Ra 2015/09/0009). Das Verwaltungsgericht habe das Absehen von der Verhandlung nicht begründet. Es lägen auch keine Gründe für das Absehen von der Verhandlung vor, zumal sich die Revisionswerberin als Arbeitnehmerin iSd Art. 45 AEUV auf Art. 47 GRC stützen könne, weil bei Durchführung des Rechts der Union iSd Art. 51 Abs. 1 GRC ein Recht auf eine mündliche Verhandlung bestehe. Zudem lägen komplexe Rechtsfragen vor, die zu einer Verhandlungspflicht führten.

20       Die Revision erweist sich schon mit Blick auf dieses, auf eine Verletzung der Verhandlungspflicht abzielende Zulässigkeitsvorbringen als zulässig. Sie ist - im Ergebnis - auch begründet.

21       Vorweg ist zum Revisionsvorbringen aber Folgendes auszuführen:

22       Die Revision nimmt den Standpunkt ein, das angefochtene Erkenntnis erweise sich im Hinblick auf die hg. Erkenntnisse jeweils vom 21. Dezember 2016, Ro 2015/10/0012, VwSlg. 19512 A, und Ro 2015/10/0048, als inhaltlich rechtswidrig, weil der Verwaltungsgerichtshof in diesen Erkenntnissen bei Sachverhalten, die „völlig ident“ gewesen seien, nicht ausgesprochen habe, dass im fortgesetzten Verfahren ein allfälliger Eigenanspruch auf Familienbeihilfe nach § 6 Abs. 5 FLAG zu prüfen sei.

23       Mit diesem Vorbringen kann eine Rechtswidrigkeit des angefochtenen Erkenntnisses schon deshalb nicht aufgezeigt werden, weil aus dem Fehlen eines Hinweises für das fortgesetzte Verfahren - also von Ausführungen, die für die Aufhebung der vor dem Verwaltungsgerichtshof angefochtenen Entscheidung nicht tragend sind - Derartiges von vornherein nicht abgeleitet werden könnte. Im Übrigen lagen aber „völlig idente Sachverhalte“ schon deshalb nicht vor, weil in den den genannten hg. Erkenntnissen zugrundeliegenden Fällen weder Feststellungen zu Umständen (insbesondere dazu, dass die Eltern den dortigen Revisionswerbern nicht überwiegend Unterhalt leisteten) getroffen wurden, auf deren Grundlage erst die Frage eines Anspruchs nach § 6 Abs. 5 FLAG in den Blick zu nehmen gewesen wäre, noch deren Fehlen gerügt wurde.

24       Die Revision bringt im Weiteren vor, nach „dem klaren Wortlaut“ umfassten § 30 Abs. 2 Z 4 und 5 StudFG nur Fälle, in denen die Eltern für den Studierenden Familienbeilhilfe beziehen würden, nicht jedoch solche, in denen dem Studierenden selbst Familienbeilhilfe nach § 6 Abs. 5 FLAG zustünde.

25       Dem ist zu erwidern, dass der Wortlaut des § 30 Abs. 2 Z 4 und 5 StudFG gerade nicht darauf abstellt, dass der Jahresbetrag der Familienbeihilfe gemäß § 8 Abs. 2 FLAG bzw. des Kinderabsetzbetrages gemäß § 33 Abs. 3 EStG 1988 den Eltern zustünde bzw. zusteht. Der Wortlaut der genannten Bestimmungen enthält überhaupt keine Einschränkung auf einen bestimmten Personenkreis, dem die genannten Leistungen zustünden bzw. zustehen; es wird lediglich darauf Bezug genommen, dass diese Leistungen „für den Studierenden“ zustünden bzw. zustehen.

26       Entgegen der Auffassung der Revisionswerberin trifft es auch nicht zu, dass sie deshalb keinen Anspruch auf Familienbeihilfe nach § 6 Abs. 5 FLAG hätte, weil ihr Unterhalt deshalb „zur Gänze aus Mitteln der Kinder- und Jugendhilfe oder öffentlichen Mitteln zur Sicherung des Lebensunterhaltes und des Wohnbedarfes“ getragen würde, weil sie - ohne dass bei der Berechnung der Studienbeilhilfe Unterhalts- oder Eigenleistungen abgezogen worden wären - Studienbeihilfe im Betrag von € 564 beziehe. Denn zum einen wird nach den unbestrittenen Feststellungen des Verwaltungsgerichtes der Unterhalt der Revisionswerberin teilweise vom Vater getragen; zum anderen stellt die mit der Novelle BGBl. I Nr. 77/2018 rückwirkend mit 1. Jänner 2016 (u.a.) in § 6 Abs. 5 FLAG vorgenommene Änderung unmissverständlich auf eine gänzliche Tragung der Unterhaltskosten „aus öffentlichen Mitteln zur Sicherung des Lebensunterhaltes und des Wohnbedarfes“ - sohin in der Regel durch den Sozialhilfe- bzw. Grundversorgungsträger - ab (vgl. auch die Materialien IA 386/A BlgNR 26. GP S. 3, wo auf die Bedarfsorientierte Mindestsicherung bzw. die Grundversorgung verwiesen wird). Die (teilweise) Tragung von Unterhaltskosten für Studierende ist dem nicht gleichzuhalten.

27       Dennoch kommt der Revision im Ergebnis Berechtigung zu:

28       Gemäß § 24 Abs. 4 VwGVG kann das Verwaltungsgericht, soweit durch Bundes- oder Landesgesetz nicht anderes bestimmt ist, ungeachtet eines Parteiantrags von einer Verhandlung absehen, wenn die Akten erkennen lassen, dass die mündliche Erörterung eine weitere Klärung der Rechtssache nicht erwarten lässt, und einem Entfall der Verhandlung weder Art. 6 Abs. 1 EMRK noch Art. 47 GRC entgegenstehen.

29       Eine Verhandlung vor dem Verwaltungsgericht ist daher grundsätzlich durchzuführen, wenn es um „civil rights“ oder „strafrechtliche Anklagen“ im Sinn des Art. 6 EMRK oder um die Möglichkeit der Verletzung einer Person eingeräumter Unionsrechte (Art. 47 GRC) geht und eine inhaltliche Entscheidung in der Sache selbst getroffen wird. Wie der Verwaltungsgerichtshof in Bezug auf § 24 Abs. 4 VwGVG bereits wiederholt festgehalten hat, hatte der Gesetzgeber als Zweck einer mündlichen Verhandlung dabei die Klärung des Sachverhaltes und die Einräumung von Parteiengehör sowie darüber hinaus auch die mündliche Erörterung einer nach der Aktenlage strittigen Rechtsfrage zwischen den Parteien und dem Gericht vor Augen. Art. 6 Abs. 1 EMRK und Art. 47 GRC stehen dem Absehen von einer Verhandlung nach dem VwGVG insbesondere dann nicht entgegen, wenn der entscheidungsrelevante Sachverhalt feststeht und auch keine Fragen der Beweiswürdigung auftreten können, sodass eine Verhandlung nicht notwendig ist. Nach der Judikatur des EGMR kann zudem das Vorliegen außergewöhnlicher Umstände ein Absehen von der Durchführung einer öffentlichen mündlichen Verhandlung rechtfertigen. Demnach kann der Verzicht auf eine mündliche Verhandlung im Anwendungsbereich des VwGVG etwa in Fällen gerechtfertigt sein, in welchen lediglich Rechtsfragen beschränkter Natur oder von keiner besonderen Komplexität aufgeworfen werden. Bei Missachtung der Verhandlungspflicht im Anwendungsbereich des Art. 6 EMRK und des Art. 47 GRC ist keine Relevanzprüfung hinsichtlich des Verfahrensmangels vorzunehmen (vgl. zum Ganzen VwGH 20.11.2019, Ro 2018/15/0016, mwN).

30       Ausführungen dazu, aus welchen Gründen das Verwaltungsgericht vom Vorliegen der Voraussetzungen nach § 24 Abs. 4 VwGVG ausgegangen ist, finden sich im angefochtenen Erkenntnis nicht. Für die Unterlassung der Durchführung der mündlichen Verhandlung fehlt es daher an einer nachvollziehbaren Begründung. Dass die Voraussetzungen für ein Absehen von der Durchführung einer mündlichen Verhandlung jedenfalls gegeben wären, ist fallbezogen auch nicht ersichtlich. Der Verwaltungsgerichtshof hat bereits mehrfach ausgesprochen, dass nach der Rechtsprechung des EuGH die Grundrechte der GRC in allen unionsrechtlich geregelten Fallgestaltungen, aber nicht außerhalb derselben, Anwendung finden. Die durch die GRC garantierten Grundrechte sind daher zu beachten, wenn eine nationale Rechtsvorschrift in den Geltungsbereich des Unionsrechts fällt. Anwendung finden die unionsrechtlichen Grundrechte etwa in den Bereichen der Umsetzung von Richtlinien und deren Anwendung samt dem Bereich der pflichtwidrigen Nichtumsetzung von Richtlinien wie auch jenen der indirekten unmittelbaren Unionsrechtsdurchführung (insbesondere Verordnungen), aber auch bei Sachverhalten mit Unionsrechtsbezug, wie insbesondere grenzüberschreitende Sachverhalte (vgl. VwGH 28.1.2016, Ra 2015/07/0146, mwN). Schon mit Blick auf den zuletzt genannten Umstand ist nicht erkennbar, dass es im Revisionsfall am Unionsrechtsbezug fehlen würde. Das Verwaltungsgericht geht im Übrigen selbst davon aus, dass für die Revisionswerberin als Staatsangehörige der Slowakei die Verordnung Nr. 883/2004 gilt. Aus welchen Gründen daher davon auszugehen gewesen wäre, dass dem Entfall der Verhandlung Art. 47 GRC nicht entgegenstünde, ist nicht ersichtlich.

31       Es kann aber aus den nachstehenden Gründen auch weder davon ausgegangen werden, dass der entscheidungsmaßgebliche Sachverhalt im vorliegenden Fall als geklärt anzusehen gewesen wäre, noch dass ein Verzicht auf eine mündliche Verhandlung damit gerechtfertigt hätte werden können, dass lediglich Rechtsfragen beschränkter Natur oder von keiner besonderen Komplexität iSd Rechtsprechung des EGMR zum Absehen von einer Verhandlung aufgeworfen worden sind:

32       Das Verwaltungsgericht geht - wie erwähnt - davon aus, dass die Revisionswerberin slowakische Staatsangehörige sei und ihren Hauptwohnsitz seit 8. September 2016 durchgehend in Wien habe. Die Eltern der Revisionswerberin hätten ihren Wohnsitz in der Slowakei und übten in Österreich keine Berufstätigkeit aus. Bei dieser Ausgangslage hätte das Verwaltungsgericht - das selbst davon ausgeht, dass für die Revisionswerberin die Verordnung Nr. 883/2004 gilt und daher näher genannte Bestimmungen des FLAG keine Anwendung fänden - aber zunächst die Frage der Gewährung von Familienleistungen im Sinne des Art. 1 lit. z der Verordnung Nr. 883/2004 durch mehrere Mitgliedstaaten in den Blick zu nehmen und die für eine derartige Prüfung erforderlichen Sachverhaltsfeststellungen treffen müssen, bevor es - im Ergebnis - der Gewährung einer Familienleistung (hier: im Grunde des § 6 Abs. 5 FLAG) durch Österreich Priorität beimisst. Ein Anspruch auf Familienleistungen durch einen anderen Mitgliedstaat im Anwendungsbereich der Verordnung Nr. 883/2004 führt nämlich dazu, dass ein österreichischer Familienbeihilfenanspruch nach den Prioritätsregeln des Art. 68 der Verordnung Nr. 883/2004 zu beurteilen ist, nicht jedoch dazu, dass dadurch ein Anspruch auf Ausgleichszahlung im Sinn des § 4 FLAG gegeben ist (vgl. VwGH 30.6.2016, Ra 2015/16/0089). Bei nachrangigen Familienleistungen gemäß Art. 68 Abs. 2 der Verordnung Nr. 883/2004 sieht diese aber lediglich - unter weiteren Voraussetzungen - eine Differenzzahlung vor.

33       Ohne eine derartige Prüfung lässt sich daher nicht beurteilen, ob ein im Grunde des § 6 Abs. 5 FLAG bestehender Eigenanspruch der Revisionswerberin im Sinne des § 30 Abs. 2 Z 4 StudFG „zustünde“: Wie der Verwaltungsgerichtshof bereits im genannten Erkenntnis vom 21. Dezember 2016, Ro 2015/10/0012, VwSlg. 19512 A, ausgeführt hat, ergibt sich aus den Materialien zur Stammfassung des § 30 Abs. 2 Z 4 StudFG, dass nach dem Willen des Gesetzgebers die Familienbeihilfe deswegen von der Höchststudienbeihilfe abgezogen werden soll, weil für Studierende, für die auf Grund ihres Alters ein Anspruch auf Familienbeihilfe besteht, dieser Teil der Studienförderung durch die Familienbeihilfe, die als in das Studienförderungssystem integrierte Förderung bezeichnet wird, gewährt wird. Es ergeben sich hingegen keine Anhaltspunkte dafür, dass der Abzug auch erfolgen soll, wenn ein Anspruch auf Familienbeihilfe - unabhängig vom Alter des Studierenden und von der Erfüllung der sonstigen in den Materialien genannten Voraussetzungen - von vornherein gar nicht besteht.

34       Das angefochtene Erkenntnis war daher schon aus diesen Gründen gemäß § 42 Abs. 2 Z 3 lit. b und c VwGG wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufzuheben.

35       Von der Durchführung der beantragten Verhandlung konnte gemäß § 39 Abs. 2 Z 3 VwGG abgesehen werden.

36       Die Entscheidung über den Aufwandersatz beruht auf den §§ 47 ff VwGG in Verbindung mit der VwGH-Aufwandersatzverordnung 2014.

Wien, am 1. Juni 2021

Gerichtsentscheidung

EuGH 62010CJ0617 Aklagaren / Fransson VORAB

Schlagworte

Allgemein Anzuwendendes Recht Maßgebende Rechtslage VwRallg2 Auslegung Anwendung der Auslegungsmethoden Bindung an den Wortlaut des Gesetzes VwRallg3/2/1 Auslegung Anwendung der Auslegungsmethoden Verhältnis der wörtlichen Auslegung zur teleologischen und historischen Auslegung Bedeutung der Gesetzesmaterialien VwRallg3/2/2 Begründung Begründungsmangel Besondere Rechtsgebiete Gemeinschaftsrecht Verordnung EURallg5 Individuelle Normen und Parteienrechte Rechtsanspruch Antragsrecht Anfechtungsrecht VwRallg9/2 Parteiengehör Verfahrensbestimmungen Berufungsbehörde

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:VWGH:2021:RO2020100002.J00

Im RIS seit

26.04.2022

Zuletzt aktualisiert am

26.04.2022
Quelle: Verwaltungsgerichtshof VwGH, http://www.vwgh.gv.at
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