TE Vwgh Erkenntnis 2021/5/25 Ra 2020/22/0137

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Veröffentlicht am 25.05.2021
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Index

E2D Assoziierung Türkei
E2D E02401013
E2D E05204000
E2D E11401020
001 Verwaltungsrecht allgemein
10/07 Verwaltungsgerichtshof
40/01 Verwaltungsverfahren
41/02 Passrecht Fremdenrecht

Norm

ARB1/80 Art13
AVG §38
AVG §52
AVG §56
FrG 1997 §49
NAG 2005 §1 Abs2 Z1
NAG 2005 §47 Abs2
VwGG §42 Abs2 Z1
VwGVG 2014 §17
VwGVG 2014 §27
VwGVG 2014 §28
VwGVG 2014 §8 Abs1
VwRallg

Betreff

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Köhler, die Hofräte Dr. Mayr, Dr. Schwarz und Mag. Berger sowie Hofrätin MMag. Ginthör als Richter, unter Mitwirkung der Schriftführerin Mag.a Thaler, über die Revision des I T in W, vertreten durch die RIHS Rechtsanwalt GmbH in 1010 Wien, Kramergasse 9/3/13, gegen das Erkenntnis des Landesverwaltungsgerichtes Niederösterreich vom 26. Februar 2020, LVwG-AV-193/001-2020, betreffend Aufenthaltstitel (belangte Behörde vor dem Verwaltungsgericht: Bezirkshauptmannschaft Baden), zu Recht erkannt:

Spruch

Das angefochtene Erkenntnis wird wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufgehoben.

Der Bund hat dem Revisionswerber Aufwendungen in der Höhe von € 1.346,40 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.

Begründung

1        Der Revisionswerber, ein türkischer Staatsangehöriger, stellte am 11. Jänner 2019 bei der Bezirkshauptmannschaft Baden (belangte Behörde) unter Berufung auf seine am 17. November 2018 geschlossene Ehe mit der österreichischen Staatsbürgerin YA einen Antrag auf Erteilung eines Aufenthaltstitels „Familienangehöriger“ gemäß § 47 Abs. 2 Niederlassungs- und Aufenthaltsgesetz (NAG).

2        Am 29. November 2019 erhob der Revisionswerber Säumnisbeschwerde an das Landesverwaltungsgericht Niederösterreich wegen Verletzung der Entscheidungspflicht.

3        Mit dem angefochtenen Erkenntnis vom 26. Februar 2020 wies das Verwaltungsgericht die Säumnisbeschwerde ab und sprach aus, dass die ordentliche Revision an den Verwaltungsgerichtshof gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig sei.

4        Das Verwaltungsgericht stellte fest, der Revisionswerber sei legal in das Bundesgebiet eingereist und habe am 28. Februar 2018 einen Antrag auf internationalen Schutz gestellt, den das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl mit Bescheid vom 14. Jänner 2019 verbunden mit einer Rückkehrentscheidung abgewiesen habe. Dieser Bescheid sei nicht rechtskräftig, das Verfahren sei derzeit aufgrund einer Beschwerde des Revisionswerbers beim Bundesverwaltungsgericht (BVwG) anhängig. Die belangte Behörde habe das gegenständliche Verfahren nach dem NAG mit Aktennotiz vom 16. April 2019 ausgesetzt, um den Abschluss des Asylverfahrens abzuwarten. Gemäß den Angaben in seinem Antrag nach dem NAG beabsichtige der Revisionswerber die Ausübung einer Erwerbstätigkeit im Bundesgebiet und er berufe sich auf sein Recht zur Inlandsantragstellung auf Grund des Assoziierungsabkommens EWR-Türkei.

5        In seinen rechtlichen Erwägungen führte das Verwaltungsgericht aus, der Revisionswerber wäre grundsätzlich gemäß § 1 Abs. 2 Z 1 NAG vom Anwendungsbereich des NAG ausgenommen, weil das Verfahren über seinen Antrag auf internationalen Schutz noch nicht rechtskräftig abgeschlossen sei. Allerdings handle es sich bei dieser Bestimmung um eine neue Beschränkung im Sinn der Stillhalteklausel gemäß Art. 13 des Beschlusses Nr. 1/80 des Assoziationsrates vom 19. September 1980 über die Entwicklung der Assoziation (ARB 1/80), weil nach dem Fremdengesetz 1997 (FrG) der Status eines vorläufig aufenthaltsberechtigten Asylwerbers der Erteilung einer Niederlassungsbewilligung nicht entgegengestanden sei. Es sei daher zu prüfen, ob der Revisionswerber in den Genuss der Stillhalteklausel komme.

Die Stillhalteklausel - so das Verwaltungsgericht unter Verweis auf näher zitierte Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes - stehe nicht einer Verstärkung der Maßnahmen gegenüber türkischen Staatsangehörigen entgegen, die sich nicht in einer ordnungsgemäßen Situation befänden. Ein die Anwendung der Stillhalteklausel ausschließender nicht ordnungsgemäßer Aufenthalt liege vor, wenn die Einreise illegal bzw. zum Zweck der Asylantragstellung erfolgt und einer erlassenen aufenthaltsbeendenden Maßnahme nicht Folge geleistet worden sei. Da das derzeitige Aufenthaltsrecht des Revisionswerbers aufgrund seines Antrages auf internationalen Schutz nur ein vorläufiges sei und eine rechtskräftige aufenthaltsbeendende Maßnahme der Anwendung der Stillhalteklausel entgegenstehe, sei die Entscheidung des BVwG im Asylverfahren präjudiziell für die Frage der Anwendbarkeit der Stillhalteklausel bzw. für das Verfahren nach dem NAG. Die belangte Behörde wäre daher berechtigt gewesen, das Verfahren bis zur rechtskräftigen Entscheidung über diese Vorfrage auszusetzen. Folglich sei die durch das Abwarten der Vorfrageentscheidung bedingte Verzögerung nicht auf ein überwiegendes Verschulden der belangten Behörde zurückzuführen, weshalb die Säumnisbeschwerde abzuweisen gewesen sei.

6        Gegen dieses Erkenntnis richtet sich die vorliegende außerordentliche Revision.

Die belangte Behörde erstattete eine Revisionsbeantwortung, in der sie die Abweisung der Revision beantragt.

Der Verwaltungsgerichtshof hat erwogen:

7        Zur Zulässigkeit der Revision bringt der Revisionswerber unter Verweis auf näher zitierte Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes vor, dass die noch ausstehende Entscheidung des BVwG nicht präjudiziell sei und keine Vorfrage betreffe, deren Lösung eine Aussetzung des niederlassungsrechtlichen Verfahrens rechtfertige.

Die Revision erweist sich im Hinblick darauf als zulässig und im Ergebnis auch als berechtigt.

8        Gemäß § 8 Abs. 1 VwGVG kann Beschwerde wegen Verletzung der Entscheidungspflicht gemäß Art. 130 Abs. 1 Z 3 B-VG (Säumnisbeschwerde) erhoben werden, wenn die Behörde die Sache (ausgenommen kürzerer oder längerer gesetzlicher Entscheidungsfristen) nicht innerhalb von sechs Monaten entschieden hat. Die Beschwerde ist abzuweisen, wenn die Verzögerung nicht auf ein überwiegendes Verschulden der Behörde zurückzuführen ist.

9        Unstrittig ist im vorliegenden Fall, dass die sechsmonatige Entscheidungsfrist der belangten Behörde im Zeitpunkt der Einbringung der Säumnisbeschwerde bereits abgelaufen war. Das Verwaltungsgericht vertritt aber die Ansicht, dass die Verzögerung nicht auf ein überwiegendes Verschulden der belangten Behörde zurückzuführen sei, weil die Behörde zur Aussetzung des Verfahrens (gemäß § 38 AVG) berechtigt gewesen wäre.

10       Gemäß § 38 AVG ist, sofern die Gesetze nicht anderes bestimmen, die Behörde berechtigt, im Ermittlungsverfahren auftauchende Vorfragen, die als Hauptfragen von anderen Verwaltungsbehörden oder von den Gerichten zu entscheiden wären, nach der über die maßgebenden Verhältnisse gewonnenen eigenen Anschauung zu beurteilen und diese Beurteilung ihrem Bescheid zugrunde zu legen. Sie kann aber auch das Verfahren bis zur rechtskräftigen Entscheidung der Vorfrage aussetzen, wenn die Vorfrage schon den Gegenstand eines anhängigen Verfahrens bei der zuständigen Verwaltungsbehörde bzw. beim zuständigen Gericht bildet oder ein solches Verfahren gleichzeitig anhängig gemacht wird.

11       Nach der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes ist die Aussetzung eines Verfahrens mittels verfahrensrechtlichen Bescheides zwar zulässig, aber nicht rechtlich geboten. Vielmehr kann die Behörde bei Vorliegen der Voraussetzungen des § 38 zweiter Satz AVG die Entscheidung der Vorfrage bloß abwarten. Eine solche faktische Aussetzung bleibt zwar ohne Einfluss auf den Lauf der behördlichen Entscheidungsfrist, kann also die objektive Säumnis nicht verhindern. Falls die Behörde allerdings berechtigt gewesen wäre, das Verfahren bis zur rechtskräftigen Entscheidung der Vorfrage durch Bescheid auszusetzen, ist die durch das Abwarten der Vorfrageentscheidung bedingte Verzögerung nicht auf ein (überwiegendes) Verschulden der Behörde zurückzuführen (vgl. VwGH 11.7.2019, Ra 2019/03/0029, Rn. 21, mwN).

12       Die Vorfrage ist eine Rechtsfrage, deren Lösung eine unabdingbare Voraussetzung für die Lösung einer anderen Frage, nämlich der jeweiligen Hauptfrage darstellt, sodass eine Vorfrage schon begrifflich nicht mit der Hauptfrage ident sein kann. Eine Vorfrage liegt vielmehr bereits dann vor, wenn der relevante Tatbestand ein (explizit angeführtes oder durch Auslegung zu ermittelndes) Element enthält, das für sich allein Gegenstand der bindenden Entscheidung einer anderen Behörde bzw. eines Gerichts (oder allenfalls derselben Behörde in einem anderen Verfahren) sein kann (vgl. VwGH 4.4.2019, Ra 2018/11/0225, Rn. 22, mwN). Präjudiziell, also eine Vorfragenentscheidung im verfahrensrechtlich relevanten Sinn, ist nur eine Entscheidung, die erstens eine Rechtsfrage betrifft, deren Beantwortung für die Hauptfragenentscheidung eine notwendige Grundlage ist, und die zweitens diese in einer die Verwaltungsbehörde bindenden Weise regelt (vgl. VwGH 27.11.2020, Ra 2020/05/0230, Rn. 8).

13       Das Verwaltungsgericht erachtete die Entscheidung des BVwG über den Antrag auf internationalen Schutz des Revisionswerbers als präjudiziell für die Frage, ob das NAG im Hinblick auf seinen § 1 Abs. 2 Z 1 anwendbar sei (oder nicht), weil das derzeitige Aufenthaltsrecht des Revisionswerbers nur ein vorläufiges sei und im Fall der Bestätigung der gegen ihn erlassenen Rückkehrentscheidung diese einer Berufung auf die Stillhalteklausel des Art. 13 ARB 1/80 entgegenstünde.

14       Dazu ist Folgendes festzuhalten: Gemäß der Stillhalteklausel des Art. 13 ARB 1/80 dürfen für türkische Staatsangehörige, deren Aufenthalt und Beschäftigung im Bundesgebiet ordnungsgemäß sind, keine neuen Beschränkungen eingeführt werden. Der Verwaltungsgerichtshof hat es in seiner Rechtsprechung zur Frage des ordnungsgemäßen Aufenthaltes eines türkischen Ehegatten eines österreichischen Staatsbürgers als maßgeblich erachtet, ob eine aufenthaltsbeendende Maßnahme erlassen und nicht befolgt wurde. Während die Niederlassungsfreiheit gemäß § 49 FrG, wenn keine aufenthaltsbeendende Maßnahme erlassen wurde, die Ordnungsmäßigkeit des Aufenthaltes bewirkt, kann sich aus der Nichtbefolgung einer aufenthaltsbeendenden Maßnahme die Unrechtmäßigkeit des Aufenthaltes ergeben (vgl. VwGH 31.5.2017, Ra 2016/22/0089, Rn. 16 f; 13.12.2018, Ra 2018/22/0266, Rn. 6; jeweils mwN). Ob die Voraussetzungen für die Erlassung einer (hier) Rückkehrentscheidung vorliegen, ist für sich allein hingegen nicht maßgeblich.

15       Unbestrittener Maßen war zum maßgeblichen Entscheidungszeitpunkt des Verwaltungsgerichtes das Asylverfahren des mit einer österreichischen Staatsbürgerin verheirateten Revisionswerbers noch anhängig und eine rechtskräftige aufenthaltsbeende Maßnahme noch nicht erlassen (siehe zum Abstellen auf eine rechtskräftige Rückkehrentscheidung erneut VwGH Ra 2018/22/0266, Rn. 6). Damit lagen die Voraussetzungen für die Entscheidung in der Sache und damit auch die Notwendigkeit, über die Frage der Maßgeblichkeit der Stillhalteklausel bzw. der Anwendbarkeit des NAG zu entscheiden, aber vor. Der Umstand, dass sich auf Grund der Entscheidung in einem anderen Verfahren (hier dem Asylverfahren vor dem BVwG) eines der Elemente allenfalls in der Zukunft (ex nunc) ändern könnte, ermächtigt nicht dazu, das Verfahren nach § 38 AVG bis zum Abschluss dieses anderen Verfahrens auszusetzen (vgl. zum Abwarten des Ausgangs eines Scheidungsverfahrens VwGH 23.11.2017, Ra 2017/22/0081, Rn. 10; weiters zum Abwarten der Entscheidung über einen Antrag auf Erteilung eines Aufenthaltstitels in einem Verfahren nach dem AuslBG VwGH 5.11.2010, 2007/09/0179). Eine Vorfrage im Sinn des § 38 AVG ist dann nicht anzunehmen, wenn es um eine künftige Rechtsgestaltung geht (vgl. VwGH 14.11.2007, 2007/04/0180; 6.10.2020, Ra 2020/09/0051, Rn. 19; mwN).

16       Vor diesem Hintergrund wäre die belangte Behörde nicht zur Aussetzung des Verfahrens berechtigt gewesen. Die Abweisung der Säumnisbeschwerde durch das Verwaltungsgericht erweist sich somit als verfehlt.

17       Das angefochtene Erkenntnis war daher wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes gemäß § 42 Abs. 2 Z 1 VwGG aufzuheben.

18       Von der beantragten Durchführung einer mündlichen Verhandlung konnte gemäß § 39 Abs. 2 Z 6 VwGG abgesehen werden, weil der für die Frage der Rechtmäßigkeit der Abweisung der Säumnisbeschwerde relevante Sachverhalt geklärt ist und nur Rechtsfragen zu lösen waren, für die eine mündliche Verhandlung durch Art. 6 EMRK oder Art. 47 GRC nicht geboten ist.

19       Die Entscheidung über den Aufwandersatz stützt sich auf die §§ 47 ff VwGG in Verbindung mit der VwGH-Aufwandersatzverordnung 2014.

Wien, am 25. Mai 2021

Schlagworte

Definition von Begriffen mit allgemeiner Bedeutung VwRallg7 Maßgebende Rechtslage maßgebender Sachverhalt Verfahrensbestimmungen

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:VWGH:2021:RA2020220137.L00

Im RIS seit

21.06.2021

Zuletzt aktualisiert am

21.07.2021
Quelle: Verwaltungsgerichtshof VwGH, http://www.vwgh.gv.at
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