TE Vwgh Beschluss 2021/3/25 Ro 2020/21/0008

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Veröffentlicht am 25.03.2021
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Index

E1E
E3R E19103000
E6J
20/03 Sachwalterschaft
41/02 Asylrecht
41/02 Passrecht Fremdenrecht
59/04 EU - EWR

Norm

AsylG 2005 §5 Abs1
FrPolG 2005 §46
FrPolG 2005 §61
UbG §10 Abs1
UbG §11
UbG §17
UbG §18
UbG §20 Abs1
UbG §26 Abs1
UbG §26 Abs2
UbG §3
UbG §30 Abs1
UbG §8
12010E267 AEUV Art267
32003R0343 Dublin-II
32014R0118 Dublin-II DV Art13 Abs1
32014R0118 Dublin-II DV Art22 Abs7
32014R0118 Dublin-II DV Art29 Abs1
32014R0118 Dublin-II DV Art29 Abs2
32014R0118 Dublin-II DV Art9
32014R0118 Dublin-II DV Art9 Abs2
62016CJ0201 Shiri VORAB
62017CJ0163 Jawo VORAB

Beachte


Vorabentscheidungsverfahren:
* EU-Register: EU 2021/0001
* EuGH-Zahl: C-231/21
* EuGH-Entscheidung:
EuGH 62020CJ0231 B 14.10.2021
* Enderledigung des gegenständlichen Ausgangsverfahrens im fortgesetzten Verfahren:
Ro 2020/21/0008 E 25.04.2022

Betreff

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Pelant sowie die Hofräte Dr. Sulzbacher und Dr. Pfiel, die Hofrätin Dr. Julcher und den Hofrat Dr. Schwarz als Richter, unter Mitwirkung der Schriftführerin Mag.a Eraslan, in der Revisionssache des I A in I, vertreten durch Mag. Clemens Lahner, Rechtsanwalt in 1070 Wien, Burggasse 116, gegen das Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichtes vom 14. Februar 2020, W112 2183095-1/30E, betreffend Abschiebung (belangte Behörde vor dem Verwaltungsgericht: Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl), den Beschluss gefasst:

Spruch

Dem Gerichtshof der Europäischen Union werden nach Art. 267 AEUV folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorgelegt:

1.   Ist unter einer Inhaftierung im Sinne des Art. 29 Abs. 2 Satz 2 der Verordnung (EU) Nr. 604/2013 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 zur Festlegung der Kriterien und Verfahren zur Bestimmung des Mitgliedstaats, der für die Prüfung eines von einem Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen in einem Mitgliedstaat gestellten Antrags auf internationalen Schutz zuständig ist (Neufassung), ABl. 2013, L 180, 31, auch eine von einem Gericht für zulässig erklärte Unterbringung des Betroffenen in der psychiatrischen Abteilung einer Krankenanstalt gegen oder ohne seinen Willen (hier aufgrund einer sich aus seiner psychischen Erkrankung ergebenden Eigen- und Fremdgefährdung) zu verstehen?

2.   Für den Fall, dass die erste Frage bejaht wird:

a)   Kann - mit Bindung für den Betroffenen - die Frist des Art. 29 Abs. 2 Satz 1 der eben genannten Verordnung im Fall einer Inhaftierung durch den ersuchenden Mitgliedstaat jedenfalls auf ein Jahr verlängert werden?

b)   Wenn nein, um welchen Zeitraum ist eine Verlängerung zulässig, etwa nur um jenen Zeitraum,

aa)  den die Inhaftierung tatsächlich dauerte, oder

bb)  den die Inhaftierung, bezogen auf den Zeitpunkt der Unterrichtung des zuständigen Mitgliedstaats nach Art. 9 Abs. 2 der Verordnung (EG) Nr. 1560/2003 der Kommission vom 2. September 2003 mit Durchführungsbestimmungen zur Verordnung Nr. 343/2003 (ABl. 2003, L 222, S. 3) in der durch die Durchführungsverordnung (EU) Nr. 118/2014 der Kommission vom 30. Jänner 2014 (ABl. 2014, L 39, S. 1) geänderten Fassung, voraussichtlich insgesamt dauern wird,

allenfalls jeweils zuzüglich einer angemessenen Frist für die neuerliche Organisation der Überstellung?

Begründung

I. Sachverhalt und Verfahrensgang:

1        Der Revisionswerber, ein Staatsangehöriger von Marokko, wurde am 6. Dezember 2017 in Anwendung der Verordnung (EU) Nr. 604/2013 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 zur Festlegung der Kriterien und Verfahren zur Bestimmung des Mitgliedstaats, der für die Prüfung eines von einem Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen in einem Mitgliedstaat gestellten Antrags auf internationalen Schutz zuständig ist (Neufassung), ABl. 2013, L 180, 31, im Folgenden: Dublin III-VO, im Wege der Abschiebung von Österreich nach Italien überstellt. Dagegen erhob er fristgerecht eine Beschwerde, weil die Überstellung trotz des mit 2. November 2017 eingetretenen Ablaufs der hierfür gemäß Art. 29 Abs. 1 Unterabsatz 1 der Dublin III-VO zur Verfügung stehenden sechsmonatigen Frist vorgenommen worden sei.

2        Diese Beschwerde wies das Bundesverwaltungsgericht (BVwG) letztlich mit dem vor dem Verwaltungsgerichtshof angefochtenen Erkenntnis vom 14. Februar 2020 als unbegründet ab. In der Begründung ging das BVwG dabei im Ergebnis von folgendem Sachverhalt (siehe Rn. 3 bis 7) aus:

3        Der Revisionswerber reiste im Oktober 2016 von Libyen kommend nach Italien ein, wo er am 27. Oktober 2016 erkennungsdienstlich behandelt wurde. In der Folge begab er sich nach Österreich und stellte am 20. Februar 2017 einen Antrag auf internationalen Schutz. Hierauf wurde ein Konsultationsverfahren nach der Dublin III-VO geführt und am 1. März 2017 ein auf Art. 13 Abs. 1 der genannten Verordnung gestütztes Aufnahmegesuch an die italienischen Behörden gerichtet. Dieses Ersuchen blieb unbeantwortet. Infolgedessen wurde den italienischen Behörden am 30. Mai 2017 mitgeteilt, dass damit gemäß Art. 22 Abs. 7 der Dublin III-VO der Aufnahme des Revisionswerbers zugestimmt worden sei und die Überstellungsfrist am 2. Mai 2017 begonnen habe.

4        In der Folge wies das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (BFA) den vom Revisionswerber gestellten Antrag auf internationalen Schutz mit Bescheid vom 12. August 2017 gemäß § 5 Abs. 1 AsylG 2005 zurück. Unter einem stellte das BFA fest, dass gemäß Art. 13 Abs. 1 iVm Art. 22 Abs. 7 der Dublin III-VO Italien zur Antragsprüfung zuständig sei, ordnete gemäß § 61 Abs. 1 Z 1 FPG die Außerlandesbringung des Revisionswerbers (nach Italien) an und sprach aus, dass die Abschiebung des Revisionswerbers dorthin gemäß § 61 Abs. 2 FPG zulässig sei.

5        Gegen diesen Bescheid erhob der Revisionswerber eine Beschwerde, die dem BVwG am 25. September 2017 vorgelegt wurde. Diese Beschwerde, der keine aufschiebende Wirkung zukam, zog der Revisionswerber mit Schriftsatz seines Rechtsvertreters vom 4. Oktober 2017 wieder zurück, was die mit Beschluss des BVwG vom 15. November 2017 ausgesprochene Einstellung des Beschwerdeverfahrens nach sich zog.

6        Die bereits für den 23. Oktober 2017 organisierte Überstellung des Revisionswerbers nach Italien war gescheitert, weil er damals in der psychiatrischen Abteilung eines Krankenhauses in Wien untergebracht war, wobei die Unterbringung nach dem Unterbringungsgesetz (UbG) von einem Wiener Bezirksgericht zunächst mit Beschluss vom 6. Oktober 2017 für vorläufig zulässig und dann mit Beschluss vom 17. Oktober 2017 für den Zeitraum bis 17. November 2017 für zulässig erklärt worden war. Hierauf wurde den italienischen Behörden am 25. Oktober 2017 mitgeteilt, dass sich die Überstellungsfrist wegen der Anhaltung des Revisionswerbers gemäß Art. 29 Abs. 2 der Dublin III-VO auf zwölf Monate verlängert habe.

7        Diese gerichtlich gebilligte Unterbringung des Revisionswerbers wurde am 4. November 2017 vorzeitig beendet; er wurde zwei Tage später aus der Spitalspflege entlassen. Hierauf erfolgte die eingangs in Rn. 1 erwähnte Überstellung (Abschiebung) des Revisionswerbers nach Italien am 6. Dezember 2017 auf dem Luftweg, die in Begleitung einer Polizeieskorte und einer Ärztin ohne besondere Vorkommnisse durchgeführt wurde.

Einem vom Revisionswerber in Italien am 22. Dezember 2017 gestellten Antrag auf internationalen Schutz wurde am 24. April 2018 stattgegeben.

8        In der rechtlichen Beurteilung ging das BVwG davon aus, die mit Bescheid des BFA vom 12. August 2017 verfügte Anordnung zur Außerlandesbringung des Revisionswerbers sei durchsetzbar und auch durchführbar gewesen. Die Anordnung zur Außerlandesbringung sei auch vor der Abschiebung am 6. Dezember 2017 nicht außer Kraft getreten.

9        Die sechsmonatige Frist nach Art. 29 Abs. 1 Unterabsatz 1 der Dublin III-VO für die Überstellung des Revisionswerbers nach Italien sei zwar am 2. November 2017 abgelaufen. Österreich habe aber Italien schon davor mitgeteilt, dass sich die Überstellungsfrist wegen der Anhaltung des Revisionswerbers gemäß Art. 29 Abs. 2 der Dublin III-VO verlängere. Der Revisionswerber habe sich zwar weder in Untersuchungs- noch in Strafhaft befunden. Allerdings sei er vom 20. September bis zum 6. Oktober 2017 infolge freiwilliger stationärer Aufnahme in psychiatrischer Behandlung gewesen. Vom 6. bis zum 17. Oktober 2017 sowie ab diesem Tag (aufgrund vorzeitiger Entlassung lediglich) bis zum 4. November 2017 sei er aufgrund von Beschlüssen eines Wiener Bezirksgerichtes in der psychiatrischen Abteilung eines Krankenhauses untergebracht worden. Vom 4. bis zum 6. November 2017 sei er wieder freiwillig in Spitalsbehandlung gewesen.

10       Im Zeitraum, in dem der Revisionswerber gegen seinen Willen durch Gerichtsbeschluss in einer psychiatrischen Anstalt untergebracht worden sei, habe er sich in einer gerichtlich angeordneten Haft befunden. Dafür sei nämlich weder Voraussetzung, dass diese in einem Gefängnis vollzogen werde, noch dass ihr ein gerichtlicher Schuldspruch zugrunde liege. Das im gegenständlichen Fall anzunehmende Vorliegen einer freiheitsentziehenden Maßnahme sei auch aus den Art. 6, 52 und 53 Grundrechtecharta (GRC) sowie aus Art. 5 Abs. 1 lit. e der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) abzuleiten, woraus insbesondere hervorgehe, dass etwa Geisteskrankheit eine Grundlage für die Anordnung rechtmäßiger Haft bilden könne. Zudem fordere § 3 UbG kumulativ, dass der Erkrankte im Zusammenhang mit seiner Erkrankung sein Leben oder seine Gesundheit bzw. das Leben oder die Gesundheit Anderer ernstlich und erheblich gefährde. Im Fall des Revisionswerbers sei die Unterbringung wegen Eigen- und Fremdgefährdung erfolgt.

11       Maßgeblich für die Verlängerung der Überstellungsfrist nach Art. 29 Abs. 2 der Dublin III-VO sei, dass der überstellende Staat daran gehindert gewesen sei, den Revisionswerber in den zuständigen Mitgliedstaat zu überstellen, sei es, weil er flüchtig gewesen, sei es, weil er - wie im vorliegenden Fall - durch die Justiz dem Zugriff der Verwaltungsbehörden entzogen worden sei.

12       Italien sei somit zu Recht mitgeteilt worden, dass der Revisionswerber angehalten worden sei. Die Überstellungsfrist sei dadurch auf zwölf Monate verlängert worden, also bis zum 2. Mai 2018. Die Überstellungsfrist sei daher im Zeitpunkt der Abschiebung noch nicht abgelaufen gewesen. Auch die weiteren Voraussetzungen für eine rechtmäßige Abschiebung seien vorgelegen.

II. Die maßgeblichen Bestimmungen des Unionsrechts:

13       1. In der vorliegenden Revisionssache ist insbesondere Art. 29 Dublin III-VO von Bedeutung, der auszugsweise lautet:

„Überstellung

Artikel 29

Modalitäten und Fristen

(1) Die Überstellung des Antragstellers oder einer anderen Person im Sinne von Artikel 18 Absatz 1 Buchstabe c oder d aus dem ersuchenden Mitgliedstaat in den zuständigen Mitgliedstaat erfolgt gemäß den innerstaatlichen Rechtsvorschriften des ersuchenden Mitgliedstaats nach Abstimmung der beteiligten Mitgliedstaaten, sobald dies praktisch möglich ist und spätestens innerhalb einer Frist von sechs Monaten nach der Annahme des Aufnahme- oder Wiederaufnahmegesuchs durch einen anderen Mitgliedstaat oder der endgültigen Entscheidung über einen Rechtsbehelf oder eine Überprüfung, wenn diese gemäß Artikel 27 Absatz 3 aufschiebende Wirkung hat.

...

(2) Wird die Überstellung nicht innerhalb der Frist von sechs Monaten durchgeführt, ist der zuständige Mitgliedstaat nicht mehr zur Aufnahme oder Wiederaufnahme der betreffenden Person verpflichtet und die Zuständigkeit geht auf den ersuchenden Mitgliedstaat über. Diese Frist kann höchstens auf ein Jahr verlängert werden, wenn die Überstellung aufgrund der Inhaftierung der betreffenden Person nicht erfolgen konnte, oder höchstens auf achtzehn Monate, wenn die betreffende Person flüchtig ist.

...“

14       2. Die Verordnung (EG) Nr. 1560/2003 der Kommission vom 2. September 2003 mit Durchführungsbestimmungen zur Verordnung Nr. 343/2003 (ABl. 2003, L 222, S. 3) in der durch die Durchführungsverordnung (EU) Nr. 118/2014 der Kommission vom 30. Jänner 2014 (ABl. 2014, L 39, S. 1) geänderten Fassung (im Folgenden: Durchführungsverordnung) enthält die Durchführungsbestimmungen zur Dublin-II-Verordnung und nunmehr zur Dublin-III-Verordnung.

Kapitel III („Durchführung der Überstellung“) der Durchführungsverordnung enthält u.a. Art. 9 („Verschieben der Überstellung und nicht fristgerechte Überstellungen“), der bestimmt:

„(1) Der zuständige Mitgliedstaat wird unverzüglich unterrichtet, wenn sich die Überstellung wegen eines Rechtsbehelfsverfahrens mit aufschiebender Wirkung oder wegen materieller Umstände wie der Gesundheitszustand des Antragstellers, die Nichtverfügbarkeit des Beförderungsmittels oder der Umstand, dass der Antragsteller sich der Überstellung entzogen hat, verzögert.

(1a) Wurde eine Überstellung auf Ersuchen des überstellenden Mitgliedstaats verschoben, so nehmen der überstellende und der zuständige Mitgliedstaat wieder Kontakt auf, um möglichst bald und nicht später als zwei Wochen ab dem Zeitpunkt, zu dem die Behörden erfahren, dass die Umstände, die die Verzögerung oder Verschiebung verursacht haben, nicht mehr vorliegen, eine neue Überstellung gemäß Artikel 8 zu organisieren. In diesem Fall wird vor der Überstellung ein aktualisiertes Standardformblatt für die Übermittlung von Daten vor einer Überstellung gemäß Anhang VI übermittelt.

(2) Ein Mitgliedstaat, der aus einem der in Artikel 29 Absatz 2 der [Dublin III-VO] genannten Gründe die Überstellung nicht innerhalb der üblichen Frist von sechs Monaten ab dem Zeitpunkt der Annahme des Gesuchs um Aufnahme oder Wiederaufnahme der betroffenen Person oder der endgültigen Entscheidung über einen Rechtsbehelf oder eine Überprüfung, wenn diese aufschiebende Wirkung hat, vornehmen kann, unterrichtet den zuständigen Mitgliedstaat darüber vor Ablauf dieser Frist. Ansonsten fallen die Zuständigkeit für die Behandlung des Antrags auf internationalen Schutz bzw. die sonstigen Verpflichtungen aus der [Dublin III-VO] gemäß Artikel 29 Absatz 2 der genannten Verordnung dem ersuchenden Mitgliedstaat zu.

...“

III. Die maßgeblichen Bestimmungen des nationalen Rechts:

1. § 5 des Asylgesetzes 2005 (AsylG 2005) lautet:

„Unzuständigkeit Österreichs

...

Zuständigkeit eines anderen Staates

§ 5. (1) Ein nicht gemäß §§ 4 oder 4a erledigter Antrag auf internationalen Schutz ist als unzulässig zurückzuweisen, wenn ein anderer Staat vertraglich oder auf Grund der Dublin-Verordnung zur Prüfung des Asylantrages oder des Antrages auf internationalen Schutz zuständig ist. Mit der Zurückweisungsentscheidung ist auch festzustellen, welcher Staat zuständig ist. Eine Zurückweisung des Antrages hat zu unterbleiben, wenn im Rahmen einer Prüfung des § 9 Abs. 2 BFA-VG festgestellt wird, dass eine mit der Zurückweisung verbundene Anordnung zur Außerlandesbringung zu einer Verletzung von Art. 8 EMRK führen würde.

(2) Gemäß Abs. 1 ist auch vorzugehen, wenn ein anderer Staat vertraglich oder auf Grund der Dublin-Verordnung dafür zuständig ist zu prüfen, welcher Staat zur Prüfung des Asylantrages oder des Antrages auf internationalen Schutz zuständig ist.

(3) Sofern nicht besondere Gründe, die in der Person des Asylwerbers gelegen sind, glaubhaft gemacht werden oder beim Bundesamt oder beim Bundesverwaltungsgericht offenkundig sind, die für die reale Gefahr des fehlenden Schutzes vor Verfolgung sprechen, ist davon auszugehen, dass der Asylwerber in einem Staat nach Abs. 1 Schutz vor Verfolgung findet.“

2. Die §§ 46 und 61 Fremdenpolizeigesetz 2005 (FPG) enthalten (auszugsweise) folgende Anordnungen:

„Abschiebung

§ 46. (1) Fremde, gegen die eine Rückkehrentscheidung, eine Anordnung zur Außerlandesbringung, eine Ausweisung oder ein Aufenthaltsverbot durchsetzbar ist, sind von den Organen des öffentlichen Sicherheitsdienstes im Auftrag des Bundesamtes zur Ausreise zu verhalten (Abschiebung), wenn

1.   die Überwachung ihrer Ausreise aus Gründen der Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung oder Sicherheit notwendig scheint,

2.   sie ihrer Verpflichtung zur Ausreise nicht zeitgerecht nachgekommen sind,

3.   auf Grund bestimmter Tatsachen zu befürchten ist, sie würden ihrer Ausreiseverpflichtung nicht nachkommen, oder

4.   sie einem Einreiseverbot oder Aufenthaltsverbot zuwider in das Bundesgebiet zurückgekehrt sind.

(2) ... (6)

(7) Befindet sich der Fremde in einer Krankenanstalt (§§ 1 und 2 des Bundesgesetzes über Krankenanstalten und Kuranstalten - KAKuG, BGBl. Nr. 1/1957) und steht seine Abschiebung zeitnah bevor, so hat die Krankenanstalt das Bundesamt auf Anfrage unverzüglich über den feststehenden oder voraussichtlichen Zeitpunkt der Entlassung aus der Anstaltspflege zu informieren. Ändert sich der nach Satz 1 mitgeteilte Zeitpunkt, so hat die Krankenanstalt das Bundesamt aus Eigenem zu informieren.

Anordnung zur Außerlandesbringung

§ 61. (1) Das Bundesamt hat gegen einen Drittstaatsangehörigen eine Außerlandesbringung anzuordnen, wenn

1.   dessen Antrag auf internationalen Schutz gemäß §§ 4a oder 5 AsylG 2005 zurückgewiesen wird oder nach jeder weiteren, einer zurückweisenden Entscheidung gemäß §§ 4a oder 5 AsylG 2005 folgenden, zurückweisenden Entscheidung gemäß § 68 Abs. 1 AVG oder

2.   ...

(2) Eine Anordnung zur Außerlandesbringung hat zur Folge, dass eine Abschiebung des Drittstaatsangehörigen in den Zielstaat zulässig ist. Die Anordnung bleibt binnen 18 Monaten ab Ausreise des Drittstaatsangehörigen aufrecht.

(3) Wenn die Durchführung der Anordnung zur Außerlandesbringung aus Gründen, die in der Person des Drittstaatsangehörigen liegen, eine Verletzung von Art. 3 EMRK darstellen würde und diese nicht von Dauer sind, ist die Durchführung für die notwendige Zeit aufzuschieben.

(4) Die Anordnung zur Außerlandesbringung tritt außer Kraft, wenn das Asylverfahren gemäß § 28 AsylG 2005 zugelassen wird.“

3. Die §§ 3, 8, 10 Abs. 1, 11, 17, 18, 20 Abs. 1, 26 Abs. 1 und Abs. 2 sowie 30 Abs. 1 des Unterbringungsgesetzes (UbG) lauten (auszugsweise):

„Voraussetzungen der Unterbringung

§ 3. In einer psychiatrischen Abteilung darf nur untergebracht werden, wer

1.   an einer psychischen Krankheit leidet und im Zusammenhang damit sein Leben oder seine Gesundheit oder das Leben oder die Gesundheit anderer ernstlich und erheblich gefährdet und

2.   nicht in anderer Weise, insbesondere außerhalb einer psychiatrischen Abteilung, ausreichend ärztlich behandelt oder betreut werden kann.

Unterbringung ohne Verlangen

§ 8. Eine Person darf gegen oder ohne ihren Willen nur dann in eine psychiatrische Abteilung gebracht werden, wenn sie ein/eine im öffentlichen Sanitätsdienst stehende/r Arzt/Ärztin, ein Polizeiarzt/-ärztin oder ein Arzt/eine Ärztin einer Primärversorgungseinheit, die hierfür gemäß § 8 Abs. 7 des Primärversorgungsgesetzes, BGBl. I Nr. 131/2017, verpflichtet wurde, untersucht und bescheinigt, dass die Voraussetzungen der Unterbringung vorliegen. In der Bescheinigung sind im Einzelnen die Gründe anzuführen, aus denen der Arzt die Voraussetzungen der Unterbringung für gegeben erachtet.

§ 10. (1) Der Abteilungsleiter hat die betroffene Person unverzüglich zu untersuchen. Sie darf nur aufgenommen werden, wenn nach seinem ärztlichen Zeugnis die Voraussetzungen der Unterbringung vorliegen.

(2) ... (5)

§ 11. Der § 10 ist sinngemäß anzuwenden, wenn

1.   bei einem sonst in die psychiatrische Abteilung aufgenommenen, in seiner Bewegungsfreiheit nicht beschränkten Kranken Grund für die Annahme besteht, dass die Voraussetzungen der Unterbringung vorliegen, oder

2.   ein auf Verlangen Untergebrachter das Verlangen widerruft oder nach Ablauf von sechs Wochen nicht erneut erklärt oder die zulässige Gesamtdauer der Unterbringung auf Verlangen abgelaufen ist und jeweils Grund für die Annahme besteht, dass die Voraussetzungen der Unterbringung weiterhin vorliegen.

Verständigung des Gerichtes

§ 17. Wird eine Person ohne Verlangen in eine psychiatrische Abteilung aufgenommen (§§ 10 und 11), so hat der Abteilungsleiter hievon unverzüglich das Gericht zu verständigen. Der Verständigung ist eine maschinschriftliche Ausfertigung des ärztlichen Zeugnisses (§ 10 Abs. 1) anzuschließen. ...

Gegenstand des Verfahrens

§ 18. Über die Zulässigkeit der Unterbringung des Kranken in den Fällen der §§ 10 und 11 hat das Gericht nach Prüfung der Voraussetzungen der Unterbringung zu entscheiden.

§ 20. (1) Gelangt das Gericht bei der Anhörung zum Ergebnis, dass die Voraussetzungen der Unterbringung vorliegen, so hat es diese vorläufig bis zur Entscheidung nach § 26 Abs. 1 für zulässig zu erklären und eine mündliche Verhandlung anzuberaumen, die spätestens innerhalb von 14 Tagen nach der Anhörung stattzufinden hat.

(2) ... (3) Beschluss § 26. (1) Am Schluss der mündlichen Verhandlung hat das Gericht über die Zulässigkeit der Unterbringung zu entscheiden. Der Beschluss ist in der mündlichen Verhandlung in Gegenwart des Kranken zu verkünden, zu begründen und diesem zu erläutern.

(2) Erklärt das Gericht die Unterbringung für zulässig, so hat es hiefür zugleich eine Frist festzusetzen; diese darf drei Monate ab Beginn der Unterbringung nicht übersteigen.

(3) ...

Weitere Unterbringung

§ 30. (1) Wird die Unterbringung nicht spätestens mit Ablauf der festgesetzten Frist aufgehoben, so hat das Gericht erneut, erforderlichenfalls auch mehrmals, über die Zulässigkeit der Unterbringung zu entscheiden. Die Frist, für die eine weitere Unterbringung für zulässig erklärt wird, darf jeweils sechs Monate nicht übersteigen.

(2) ... (4)“

IV. Zur Vorlageberechtigung:

15       Der Verwaltungsgerichtshof ist ein Gericht im Sinne des Art. 267 AEUV, dessen Entscheidungen nicht mehr mit Rechtsmitteln des innerstaatlichen Rechts angefochten werden können.

16       Der Verwaltungsgerichtshof vertritt die Auffassung, dass sich bei der Entscheidung der von ihm zu beurteilenden Revisionssache die im gegenständlichen Ersuchen um Vorabentscheidung angeführten und im Folgenden erörterten Fragen der Auslegung des Unionsrechts stellen.

V. Erläuterungen zu den Vorlagefragen:

17       Im vorliegenden Fall ist zu klären, ob die Abschiebung (Überstellung) des Revisionswerbers nach Italien am 6. Dezember 2017 rechtmäßig war, was von der - vom BVwG bejahten - Frage abhängt, ob diese Maßnahme vor dem Hintergrund der Rechtslage des Art. 29 Dublin III-VO fristgerecht erfolgte.

18       Im Urteil EuGH (Große Kammer) 25.10.2017, Shiri, C-201/16, ECLI:EU:C:2017:805, hielt der Gerichtshof der Europäischen Union in diesem Zusammenhang nämlich fest, schon aus dem Wortlaut dieser Bestimmung ergebe sich, dass eine Fristüberschreitung „von Rechts wegen“ einen Übergang der Zuständigkeit auf den ersuchenden Mitgliedstaat vorsehe, ohne dies von irgendeiner Reaktion des zuständigen Mitgliedstaats abhängig zu machen (Rn. 30). Werde der Antragsteller nicht vor Ablauf der Überstellungsfrist vom ersuchenden Mitgliedstaat in den zuständigen Mitgliedstaat überstellt, gehe die Zuständigkeit „von Rechts wegen“ auf den ersuchenden Mitgliedstaat über (Rn. 39), wobei die Überstellungsfrist auch nach Erlassung der Überstellungsentscheidung ablaufen könne (Rn. 42). In einer solchen Situation dürften die zuständigen Behörden des ersuchenden Mitgliedstaats den Betroffenen nicht in einen anderen Mitgliedstaat überstellen, sondern seien verpflichtet, von Amts wegen die erforderlichen Maßnahmen zu ergreifen, um die Zuständigkeit des erstgenannten Mitgliedstaats anzuerkennen und unverzüglich mit der Prüfung des von dieser Person gestellten Antrags auf internationalen Schutz zu beginnen (Rn. 43).

19       Nach Art. 29 Abs. 1 Unterabsatz 1 der Dublin III-VO erfolgt die Überstellung der betreffenden Person nach Abstimmung der beteiligten Mitgliedstaaten, sobald dies praktisch möglich ist und spätestens innerhalb einer Frist von sechs Monaten nach der Annahme des Aufnahme- oder Wiederaufnahmegesuchs durch einen anderen Mitgliedstaat oder der endgültigen Entscheidung über einen Rechtsbehelf oder eine Überprüfung, wenn diese aufschiebende Wirkung hat.

20       Mit dem Einlangen des mit 1. März 2017 datierten Aufnahmegesuchs wurde im vorliegenden Fall die zweimonatige Frist für die Antwort des ersuchten Mitgliedstaates (Italien) gemäß Art. 22 Abs. 1 der Dublin III-VO ausgelöst. Da die zuständigen italienischen Behörden nicht innerhalb dieser Frist auf das Aufnahmegesuch antworteten, wurde die Republik Italien mit Fristablauf infolge der Zustimmungsfiktion des Art. 22 Abs. 7 Dublin III-VO (stillschweigende Annahme) zuständig. Dieser Zeitpunkt wiederum erweist sich, weil eine aufschiebende Wirkung eines Rechtsbehelfs zu keiner Zeit vorlag, als fristauslösend für den Lauf der sechsmonatigen Überstellungsfrist gemäß Art. 29 Abs. 1 Unterabsatz 1 der Dublin III-VO. Das war unbestritten am 2. Mai 2017 der Fall, sodass die genannte Überstellungsfrist mit Ablauf des 2. November 2017 endete.

21       Art. 29 Abs. 2 Satz 2 der Dublin III-VO sieht allerdings vor, dass diese Frist „höchstens auf ein Jahr verlängert werden“ kann, wenn die Überstellung aufgrund der Inhaftierung der betreffenden Person nicht erfolgen konnte.

Für eine Verlängerung der Überstellungsfrist nach dieser Bestimmung genügt es, dass der ersuchende Mitgliedstaat vor Ablauf der sechsmonatigen Überstellungsfrist den zuständigen Mitgliedstaat über die Inhaftierung der betreffenden Person informiert und zugleich die neue Überstellungsfrist benennt (in diesem Sinn EuGH 19.3.2019, Abubacarr Jawo, C-163/17, ECLI:EU:C:2019:218, Rn. 75; siehe dazu aber noch unten, Rn. 27 bis 30, bei Darstellung der zweiten Frage).

22       Das Vorbringen in der Revision zielt darauf, dass die Überstellungsfrist - ungeachtet der in Rn. 6 und 7 näher dargestellten Unterbringung des Revisionswerbers - bei seiner Abschiebung (Überstellung) nach Italien am 6. Dezember 2017 bereits abgelaufen gewesen sei. Ob dieser Auffassung zu folgen ist, macht nach Ansicht des vorlegenden Gerichtes zunächst die Klärung der - soweit überblickbar bislang in der Judikatur des Gerichtshofs der Europäischen Union noch nicht behandelten - Frage erforderlich, ob unter einer (im Rahmen dieser Verordnung nicht näher definierten) „Inhaftierung“ nach Art. 29 Abs. 2 Satz 2 Dublin III-VO auch eine wegen psychischer Erkrankung gegen oder ohne den Willen der betroffenen Person vorgenommene Unterbringung in der psychiatrischen Abteilung eines Krankenhauses, die vom Gericht für zulässig erklärt wurde, zu verstehen ist.

23       Für dieses Ergebnis könnte der Umstand sprechen, dass es sich bei einer solchen Unterbringung um einen vom Willen des Betroffenen losgelösten, gerichtlich gebilligten Freiheitsentzug handelt, welcher der Sache nach jedenfalls im Ergebnis einen Zugriff durch die zuständige Behörde zwecks Überstellung in gleicher Weise wie etwa eine vom Gericht angeordnete Inhaftierung in einem Strafverfahren (Untersuchungshaft, Strafhaft) unmöglich macht.

24       Gegen dieses Ergebnis könnte allerdings nach Ansicht des Verwaltungsgerichtshofes ins Treffen geführt werden, dass es sich bei einer „Unterbringung ohne Verlangen“ im Sinn der §§ 8 ff UbG primär um eine ärztliche Maßnahme handelt, die vom Gericht „lediglich“ für zulässig erklärt wurde. Der Begriff „Inhaftierung“ (vgl. auch in der englischen Sprachfassung „imprisonment“ bzw. in der französischen Sprachfassung „emprisonnement“) scheint Derartiges nicht (unbedingt) abzudecken.

25       Vor allem aber ist zu bedenken, dass gerade schwere Krankheiten, die eine Überstellung in den zuständigen Mitgliedstaat vorerst verhindern (diese also nicht einmal - wie fallbezogen letztlich erfolgt - etwa unter ärztlicher Begleitung oder unter sonstigen Auflagen zulassen), keine taugliche Basis für eine Verlängerung der Überstellungsfrist nach Art. 29 Abs. 2 der Dublin III-VO bilden. Sofern der Gesundheitszustand der betroffenen Person es dem ersuchenden Mitgliedstaat nicht erlaubt, ihn vor Ablauf der in Art. 29 Abs. 1 Unterabsatz 1 der Dublin III-VO vorgesehenen Frist von sechs Monaten zu überstellen, ist dann vielmehr der zuständige Mitgliedstaat jedenfalls nach Art. 29 Abs. 2 nicht mehr zu seiner Aufnahme verpflichtet und die Zuständigkeit geht auf den ersuchenden Mitgliedstaat über (in diesem Sinn etwa EuGH 16.2.2017, C.K. u.a., C-578/16, ECLI:EU:C:2017:127, Rn. 89).

Die Anhaltung in der psychiatrischen Abteilung eines Krankenhauses könnte von daher nicht als „Inhaftierung“ zu verstehen und somit nicht anders zu beurteilen sein als ein die Reisefähigkeit ausschließender sonstiger Krankenhausaufenthalt.

26       Sollte der Gerichtshof der Europäischen Union jedoch zu dem Ergebnis gelangen, dass es sich bei der gegenständlichen Anhaltung in der psychiatrischen Abteilung eines Krankenhauses um eine „Inhaftierung“ im Sinne des Art. 29 Abs. 2 Satz 2 der Dublin III-VO handelt, wäre nach Ansicht des Verwaltungsgerichtshofes auch die Frage zu klären, in welchem Ausmaß dann konkret eine Verlängerung der Überstellungsfrist erfolgen kann. Dabei geht der Verwaltungsgerichtshof davon aus, dass der Betroffene auch eine fehlerhafte Bemessung dieser Frist geltend machen kann.

27       Nach dem Wortlaut dieser Norm muss ein Kausalzusammenhang zwischen der „Inhaftierung“ und dem Nichteinhalten der Überstellungsfrist bestehen (siehe dazu noch Rn. 29) und es kann die Frist in diesem Fall „höchstens auf ein Jahr“ verlängert werden. Aus der Verwendung des Begriffs „höchstens“ scheint sich zu ergeben, dass es nicht immer zur Maßgeblichkeit der Jahresfrist kommen soll.

Das legt es nahe, die Dauer der Verlängerung der Überstellungsfrist von den Umständen des konkreten Falles abhängig zu machen, wobei nach Ansicht des Verwaltungsgerichtshofes als Kriterien in erster Linie entweder die tatsächliche Dauer der „Inhaftierung“ (hier: im Ausmaß von 30 Tagen, vom 6. Oktober bis zum 4. November 2017) oder deren bei Mitteilung der „Inhaftierung“ nach Art. 9 Abs. 2 der Durchführungsverordnung an den ersuchten Mitgliedstaat präsumtive Dauer (hier: im Ausmaß von 43 Tagen, vom 6. Oktober bis zum 17. November 2017), allenfalls jeweils zuzüglich einer angemessenen Frist für die neuerliche Organisation der Überstellung, in Betracht kämen.

Für die Bemessung dieser Frist könnte die in Art. 9 Abs. 1a der Durchführungsverordnung genannte zweiwöchige Höchstfrist maßgeblich sein.

28       Im schon unter Rn. 21 erwähnten Urteil EuGH 19.3.2019, Abubacarr Jawo, C-163/17, ECLI:EU:C:2019:218, hat der Gerichtshof der Europäischen Union unter Rn. 75 - für die Konstellation, dass die betreffende Person flüchtig ist - festgehalten, Art. 29 Abs. 2 Satz 2 der Dublin III-VO sei dahin auszulegen, dass es für eine Verlängerung der Überstellungsfrist höchstens auf 18 Monate genüge, dass der ersuchende Mitgliedstaat vor Ablauf der sechsmonatigen Überstellungsfrist den zuständigen Mitgliedstaat darüber informiert, dass die betreffende Person flüchtig sei, und zugleich die neue Überstellungsfrist benennt.

29       Das könnte - vor dem Hintergrund der vom Gerichtshof der Europäischen Union in diesem Zusammenhang angesprochenen praktischen Probleme - so zu verstehen sein, dass es dem ersuchenden Mitgliedstaat im Falle, dass die betreffende Person flüchtig ist, offensteht, die neue Überstellungsfrist „frei“ - allenfalls auch im Höchstmaß von 18 Monaten - zu bestimmen. Gegebenenfalls wäre nicht auszuschließen, dies sinngemäß auf die Konstellation der „Inhaftierung“ zu übertragen. Allerdings knüpft Art. 29 Abs. 2 Satz 2 der Dublin III-VO die Fristverlängerung im Zusammenhang mit der „Inhaftierung“ - wie schon in Rn. 27 erwähnt - daran, dass die Überstellung „aufgrund“ der Inhaftierung der betreffenden Person nicht erfolgen konnte, während bei Verlängerung der Frist auf höchstens 18 Monate dem Wortlaut nach nur darauf abgestellt wird, dass die betreffende Person „flüchtig ist“ (und die Dauer einer Flucht in der Regel auch gar nicht absehbar ist).

30       Diese unterschiedliche Formulierung führt in Bezug auf die Fristverlängerung bei „Inhaftierung“ zu der zuvor (in Rn. 27) angestellten Überlegung zurück, wobei der angesprochene Kausalitätszusammenhang für die Maßgeblichkeit der tatsächlichen Dauer der „Inhaftierung“ spricht, während angesichts der jedenfalls erforderlichen Unterrichtung des zuständigen Mitgliedstaats iSd Art. 9 Abs. 2 der Durchführungsverordnung auch die zu diesem Zeitpunkt abschätzbare Gesamtdauer der „Inhaftierung“ relevant sein könnte.

31       Jedenfalls bedarf es - für den Fall der Bejahung der ersten Frage - für die Entscheidung des Verwaltungsgerichtshofes einer Klärung der mit der zweiten Frage angesprochenen Problematik, wobei auch insofern die richtige Anwendung des Unionsrechts nicht als derart offenkundig erscheint, dass für einen vernünftigen Zweifel kein Raum bleibt. Es werden daher die eingangs formulierten Vorlagefragen gemäß Art. 267 AEUV mit dem Ersuchen um Vorabentscheidung vorgelegt.

Wien, am 25. März 2021

Gerichtsentscheidung

EuGH 62016CJ0201 Shiri VORAB
EuGH 62017CJ0163 Jawo VORAB

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:VWGH:2021:RO2020210008.J00

Im RIS seit

02.08.2021

Zuletzt aktualisiert am

02.06.2022
Quelle: Verwaltungsgerichtshof VwGH, http://www.vwgh.gv.at
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