TE OGH 2021/3/25 8ObA81/20z

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Veröffentlicht am 25.03.2021
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Der Oberste Gerichtshof hat als Rekursgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen durch den Senatspräsidenten Hon.-Prof. Dr. Kuras als Vorsitzenden, die Hofrätinnen Dr. Tarmann-Prentner und Mag. Korn als weitere Richter sowie die fachkundigen Laienrichter Mag. Dr. Rolf Gleißner (aus dem Kreis der Arbeitgeber) und Wolfgang Jelinek (aus dem Kreis der Arbeitnehmer) in der Arbeitsrechtssache der klagenden Partei G***** A*****, vertreten durch Mag. Claus Marchl, Rechtsanwalt in Wien, gegen die beklagte Partei K***** S*****, vertreten durch Dr. Wolfgang Kinner, Rechtsanwalt in Wien, wegen Feststellung (Interesse 79.430,04 EUR), über den Rekurs der klagenden Partei gegen den Beschluss des Oberlandesgerichts Wien als Berufungsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen vom 5. Mai 2020, GZ 8 Ra 50/19k-72, mit dem das Urteil des Arbeits- und Sozialgerichts Wien vom 14. November 2019, GZ 30 Cga 75/16t-66, aufgehoben wurde, in nichtöffentlicher Sitzung beschlossen und zu Recht erkannt:

Spruch

Dem Rekurs wird Folge gegeben.

Der angefochtene Beschluss wird aufgehoben und in der Sache selbst dahin zu Recht erkannt, dass das klagsstattgebende Urteil des Erstgerichts einschließlich der Kostenentscheidung wiederhergestellt wird.

Die beklagte Partei ist schuldig, der klagenden Partei die mit 5.526,90 EUR (darin enthalten 921,15 EUR USt) bestimmten Kosten des Rechtsmittelverfahrens binnen 14 Tagen zu ersetzen.

Text

Entscheidungsgründe:

[1]            Die Klägerin war seit 1. 7. 1988 in der Residenz des Botschafters der Beklagten in Österreich beschäftigt. Bis 2002 war sie als Reinigungskraft, anschließend ab 1. 5. 2002 aufgrund eines neu abgeschlossenen Arbeitsvertrags als Haushälterin tätig.

[2]       Mit Schreiben der Beklagten vom 27. 6. 2016 wurde der Klägerin „das Erlöschen Ihres Arbeitsverhältnisses unter Einhaltung der österreichischen Arbeitsgesetzgebung mit 14-tägiger Kündigungsfrist“ mitgeteilt.

[3]            Der (im Original in ***** Sprache verfasste) Arbeitsvertrag der Klägerin weist folgende wesentlichen Bestimmungen auf:

Erstens:

Die Arbeitnehmerin verpflichtet sich als Angestellte des dienstlichen Hauspersonals der ***** Botschaft, in der Kategorie Haushälterin, zu einer Arbeitszeit von 37,5 Stunden pro Woche, die vom Missionschef im Einklang mit der Gesetzgebung und den Usancen des Landes sowie auf Grund der dienstlichen Anforderungen individuell eingeteilt werden können. Unabhängig von Vorerwähntem unterliegt die Dienstleistung den Richtlinien und Vorschriften der ***** Staatsverwaltung.

(...)

Siebentens:

Für die Arbeitnehmerin kommen die in Österreich geltenden gesetzlichen Arbeitsbestimmungen sowie die vom Außenministerium für den internen Ablauf in den jeweiligen Vertretungen für die entsprechende Tätigkeit bestimmten Regeln zur Anwendung.

Achtens:

Gegenwärtiger Vertrag wird auf unbeschränkte Dauer abgeschlossen und hat seine Rechtswirksamkeit ab dem Tag des Vertragsabschlusses. Es wird zwischen den Vertragspartnern eine Probezeit von drei Monaten vereinbart. Während dieses Zeitraumes kann der Vertrag mit einer Vorankündigung von mindestens fünfzehn Tagen von beiden Seiten ohne jeglichen Anspruch auf Entschädigung gekündigt werden.

In jedem Fall endet der Vertrag spätestens mit dem fünfundsechzigsten Lebensjahr der Arbeitnehmerin, d.h. mit dem Eintritt in den Ruhestand.

Neuntens:

Das Arbeitsverhältnis kann aus folgenden Gründen aufgelöst werden:

a) Freiwilliger Rücktritt des Arbeitnehmers mit einer Vorankündigung von mindestens dreißig Tagen.

b) Ablauf der im Vertrag festgesetzten Frist.

c) Nichtbestehen der Probezeit.

d) Erreichen der gesetzlichen Altersgrenze von fünfundsechzig Jahren, Eintritt in den Ruhestand.

e) Arbeitsunfähigkeit wegen nachgewiesener körperlicher Behinderung des Arbeitnehmers.

f) Schwere schuldhafte Handlung bzw wiederholte Übertretungen, die zu einer Kündigung Anlass geben.

g) Schließung bzw betriebliche Einschränkung der Repräsentation.

Als schweres Fehlverhalten gilt Folgendes:

a) Vertrauensbruch bzw Veruntreuung im vertraglichen Arbeitsverhältnis.

b) Verletzung der Verschwiegenheitspflicht.

c) Unentschuldigte Abwesenheit, die länger als drei Tage dauert.

d) Fehlen von Disziplin und Widersetzlichkeit im Dienst.

e) Verbale und körperliche Verletzungen gegenüber dem Personal der Repräsentation bzw gegenüber einem Familienangehörigen desselben.

f) Anhaltende Leistungsminderung im Arbeitsalltag bzw in den übertragenen Aufgaben.

g) Gewohnheitsmäßige Trunksucht bzw Rauschgiftsucht mit negativer Auswirkung auf die Arbeit.

Zehntens:

Beide Teile vereinbaren zur Schlichtung von Konflikten in der Auslegung des gegenwärtigen Vertrages die Angelegenheit im gegenseitigen Einvernehmen der Gesetzgebung der Gerichtsbarkeit in Wien, Österreich zu unterbreiten. [...]

[4]            Zwischen der ***** Staatsverwaltung und den zuständigen Gewerkschaften wurde am 3. 12. 2007 ein Abkommen über Arbeitsbedingungen für Tarifbeschäftigte im Ausland abgeschlossen und mit Beschluss des ***** Ministerrats bestätigt. Sein Geltungsbereich erstreckt sich auf die Tarifbeschäftigten im Auswärtigen Dienst, ausgenommen Personal in leitender Stellung. Nach Punkt 1.2. des Abkommens sind die Klauseln und Punkte des Abkommens „vollständig anzuwenden, unbeschadet der im jeweiligen Dienstland geltenden allgemeinen Rechtsvorschriften der öffentlichen Ordnung“. Eine „Duplizität oder Häufung“ von Rechten aus diesem Abkommen mit solchen desselben Zwecks oder Gegenstands nach den einzelnen Beschäftigungsverträgen ist ausgeschlossen.

[5]            Das Abkommen enthält eine Vielzahl von arbeitsrechtlichen Bestimmungen, ua über Versetzungen, Arbeits- und Dienstzeit, Urlaub und Karenzierungen sowie das Regelpensionsalter. Der Punkt 15. „Disziplinarverfahren lautet auszugsweise:

Tarifbeschäftigte unterliegen unbeschadet der Normen öffentlicher Ordnung im jeweiligen Gastland nachstehender Disziplinarordnung.

Dienstvergehen des Personals bei der Ausübung ihrer Aufgaben oder Ämter werden ungeachtet ihrer vermögens- oder strafrechtlichen Haftung aus ihren Verstößen disziplinarisch geahndet.

Die Disziplinargewalt wird nach folgenden Grundsätzen ausgeübt:

[…]

Dienstvergehen werden als besonders schwer, schwer oder leicht eingestuft.

1. Besonders schwere Dienstvergehen sind:

[…]

c) Vernachlässigung des Dienstes sowie widerwillige Verrichtung von übertragenen Aufgaben und Funktionen. […]

2. Schwere Dienstvergehen sind:

a) Mangelnde Arbeitsdisziplin oder Respekt gegenüber Vorgesetzten, Kollegen oder Untergebenen.(...)

3. Leichte Dienstvergehen sind:

a) Leichtes Fehlverhalten gegenüber dem Publikum sowie allgemein gegenüber den Adressaten des Dienstes, Kollegen oder Untergebenen. (...)

Mögliche Disziplinarmaßnahmen für Dienstvergehen sind:

a) Disziplinarische Entfernung aus dem Dienst kann nur bei besonders schweren oder schweren Vergehen verhängt werden und führt zum Verbot eines weiteren Dienstverhältnisses mit vergleichbaren Aufgaben.

b) Dienstenthebung ohne Bezüge für eine Dauer von höchstens sechs Jahren.

c) Zwangsversetzung mit oder ohne Wohnsitzwechsel für eine im Einzelfall zu bestimmende Dauer

d) Zurückstufung im Hinblick auf die Laufbahn, Beförderung oder freiwillige Mobilität.

e) Verweis (...).

Disziplinarmaßnahmen für besonders schwere und schwere Dienstvergehen können nur über das im Vorhinein bestimmte Verfahren verhängt werden. Das Verfahren wird durch den Fachausschuss für Tarifbeschäftigte im auswärtigen Dienst unter Berücksichtigung der Grundsätze von Wirksamkeit, Schnelligkeit und Prozessökonomie unter Achtung der Rechte und Garantien für die Verteidigung des Beschuldigten bestimmt. Im Verfahren sind die Abschnitte zur Ermittlung und der Entscheidungsfindung angemessen zu trennen und unterschiedliche Organe mit diesen zu befassen.

Disziplinarmaßnahmen für leichte Vergehen werden nach Anhörung des Beschuldigten verhängt und sind diesem schriftlich unter Angaben des Datums, der Strafbegründung, der Einstufung des Vergehens sowie der zulässigen Rechtsbehelfe mitzuteilen.(...)

[6]       Bestimmungen über eine Beendigung des Arbeitsverhältnisses durch den Arbeitgeber aus anderen als disziplinären Gründen enthält das zitierte Abkommen nicht.

[7]            In der Klage wird vorgebracht, die Klägerin habe keinen der vertraglich vereinbarten Kündigungsgründe verwirklicht. Darüber hinaus habe die Beklagte es verabsäumt, das vor Beendigung des Arbeitsverhältnisses aus personenbezogenen Gründen nach dem „Abkommen über Arbeitsbedingungen für Tarifbeschäftigte im Ausland“ obligatorische Disziplinarverfahren durchzuführen.

[8]            Die Klägerin begehrt die Feststellung, dass das Arbeitsverhältnis wegen Unwirksamkeit der Kündigung aufrecht sei, in eventu wird ein auf § 105 ArbVG gestütztes Anfechtungsbegehren erhoben.

[9]            Die Beklagte wandte zusammengefasst ein, die Klägerin sei wegen nachlässiger Arbeitsleistung und unangemessenen Verhaltens gekündigt worden. Im Arbeitsvertrag sei kein besonderer Kündigungsschutz vereinbart worden. Die Regelungen des Abkommens über das Disziplinarverfahren seien irrelevant. Die Beklagte habe auch keine Entlassung ausgesprochen, obwohl Gründe dafür vorgelegen hätten, sondern sich für eine nach dem anzuwendenden österreichischen Recht jederzeit ohne Begründung mögliche Kündigung entschieden.

[10]           Das Erstgericht gab dem Hauptbegehren statt. Es gelangte zu dem Ergebnis, dass Punkt Neuntens des Arbeitsvertrags der Klägerin als Vereinbarung eines erhöhten Kündigungsschutzes auszulegen sei. Eine derartige Vereinbarung sei zu Gunsten des Arbeitnehmers im österreichischen Recht zulässig und führe dazu, dass das Arbeitsverhältnis durch eine ohne hinreichende Gründe ausgesprochene Kündigung nicht beendet werde. Die Beklagte habe sich nicht auf einen konkreten Kündigungsgrund berufen.

[11]           Das Berufungsgericht gab dem Rechtsmittel der Beklagten Folge und hob die Entscheidung zur neuerlichen Entscheidung nach Verfahrensergänzung auf.

[12]           Es schloss sich der rechtlichen Beurteilung des Erstgerichts an, dass die im Arbeitsvertrag enthaltene Regelung über die Arten der Beendigung objektiv im Sinne eines erhöhten, an die aufgezählten wichtigen Gründe gebundenen Kündigungsschutzes auszulegen seien.

[13]           Die Durchführung eines Disziplinarverfahrens nach dem „Abkommen über die Arbeitsbedingungen für Tarifbeschäftigte im Ausland“ sei nicht Voraussetzung für die Wirksamkeit der Kündigung gewesen, weil auf das Arbeitsverhältnis vereinbarungsgemäß österreichisches Recht anzuwenden sei und es sich bei dem Abkommen um keine durch Rechtswahl unabdingbare Eingriffsnorm im Sinne des Art 7 Abs 1 EVÜ handle.

[14]           Die Beklagte habe jedoch in erster Instanz sehr wohl Verfehlungen der Klägerin behauptet, die sich unter die im Arbeitsvertrag genannten Beendigungsgründe subsumieren ließen. Eine ausdrückliche rechtliche Zuordnung sei nicht erforderlich gewesen. Im fortgesetzten Verfahren werde das Erstgericht diese vorgebrachten Gründe zu prüfen haben.

[15]           Das Berufungsgericht erklärte den Rekurs an den Obersten Gerichtshof für zulässig, weil die Beklagte auch mit anderen Mitarbeitern ihrer Botschaft in Österreich gleichartige Dienstverträge abgeschlossen habe und die strittigen Auslegungsfragen deshalb über den Einzelfall hinaus von Bedeutung seien. Weiters bedürfe die Frage der Anwendbarkeit des „Abkommens über die Arbeitsbedingungen für Tarifbeschäftigte im Ausland“ einer Klärung durch das Höchstgericht.

[16]           Der von der Beklagten beantwortete Rekurs der Klägerin strebt die Wiederherstellung der erstgerichtlichen Entscheidung an.

[17]           Der Rekurs ist aus den vom Berufungsgericht dargelegten Gründen zulässig und auch berechtigt.

[18]           1. Die Klägerin führt in ihrem Rechtsmittel aus, die Parteien hätten im Arbeitsvertrag eine differenzierte Rechtswahl getroffen. Es sei in Wahrheit unstrittig und gehe aus dem Arbeitsvertrag ausdrücklich hervor, dass zwischen den Streitteile neben der grundsätzlichen Geltung des österreichischen Arbeitsrechts auch die Verbindlichkeit der „Richtlinien und Vorschriften der ***** Staatsverwaltung“ und damit des „Abkommens über die Arbeitsbedingungen für Tarifbeschäftigte im Ausland“ vereinbart worden sei. Es sei unzulässig, gerade die in diesem Abkommen enthaltene Disziplinarordnung vom vereinbarten Geltungsbereich auszunehmen.

[19]           Nach Art 6 Abs 1 EVÜ dürfe durch eine Rechtswahl der Parteien im Arbeitsvertrag dem Arbeitnehmer nicht der Schutz entzogen werden, der ihm durch die zwingenden Bestimmungen des Rechts gewährt wird, das nach Abs 2 mangels einer Rechtswahl anzuwenden wäre. In Art 6 Abs 2 EVÜ finde sich eine „Ausweichklausel“ für das objektive Arbeitsvertragsstatut, nach dem der gewöhnliche Arbeitsort und die Niederlassung des Arbeitgebers zurückzutreten haben, wenn sich aus der Gesamtheit der Umstände ergibt, dass das Arbeitsverhältnis eine engere Verbindung zu einem anderen Staat bzw dessen Rechtsordnung aufweist. Solche Umstände würden hier durch die besondere Stellung der Beklagten und die Art der Arbeitsleistung im Dienst einer ausländischen Vertretungsbehörde vorliegen und auf das ***** Recht verweisen. Darüber hinaus stehe die Disziplinarordnung im Rang einer Eingriffsnorm im Sinn des Art 7 Abs 1 EVÜ zwischen den Streitteilen in Geltung.

Rechtliche Beurteilung

[20]           2. Zwischen den Parteien ist im Verfahren unstrittig, dass das „Abkommen über die Arbeitsbedingungen für Tarifbeschäftigte im Ausland“ auf das Arbeitsverhältnis grundsätzlich Anwendung findet. Diese Geltung ist schon mit dem ausdrücklichen dynamischen Verweis auf die „Richtlinien und Vorschriften der ***** Staatsverwaltung“, dem Partner des Abkommens auf Arbeitgeberseite, in Punkt Erstens des Arbeitsvertrags schlüssig begründet.

[21]           Das Abkommen beansprucht im Übrigen auch Geltung für sämtliche Tarifbeschäftigten im Auswärtigen Dienst der Beklagten, unabhängig von ihrem jeweiligen Arbeitsort. Die Beklagte hat im vorliegenden Verfahren auch nichts Gegenteiliges behauptet.

[22]           3. Regelungsgegenstand des „Abkommens“ (Richtlinie) sind ua auch das Disziplinarverfahren.

[23]           Das im Punkt 15. des Abkommens geregelte Disziplinarverfahren dient der disziplinarischen Ahndung von Dienstvergehen des Personals und umfasst die Definition von Dienstvergehen, eingeteilt in drei Schweregrade, die dafür in Frage kommenden Sanktionen, das anzuwendende Verfahren sowie Verjährungsfristen. Bei den möglichen Sanktionen handelt es sich nach der Definition des Abkommens um Strafen, die nach dem Grad an Vorsatz, Vernachlässigung oder Fahrlässigkeit im Verhalten, am Schaden öffentlicher Interessen, der Wiederholung oder Rückfälligkeit sowie am Grad der Beteiligung zu bemessen sind. Als Sanktion (nur) für besonders schwere oder schwere Vergehen ist die disziplinarische Entfernung aus dem Dienst vorgesehen, die zum Verbot eines weiteren Dienstverhältnisses mit vergleichbaren Aufgaben führt. Weitere genannte Disziplinarstrafen sind die befristete Dienstenthebung ohne Bezüge, die Zwangsversetzung, Zurückstufungen, der Verweis und „alle weiteren gesetzlich bestimmten Disziplinarmaßnahmen“.

[24]           4. Nach ständiger Rechtsprechung sind nun zwar Kündigungen und Entlassungen von Dienstnehmern aufgrund der in Österreich geltenden Rechtslage keine „Disziplinarmaßnahmen“ im Sinne des § 102 ArbVG, sodass sie etwa nicht Disziplinarstrafen nach einer durch Kollektivvertrag zustande gekommenen Disziplinarordnung sein können. Dennoch bestehende derartige Regelungen sind aber nicht unwirksam (vgl etwa RS0053043; RS0028894; RS0028884; RS0051357; Jabornegg in Strasser/Jabornegg/Resch [Hrsg], ArbVG32 § 102 Rz 27, 30; Goricnik in Gahleitner/Mosler [Hrsg], ArbVG5 III, § 102 Rz 15). Die Rechtsprechung folgert allgemein, dass Regelungen die eine Kündigung als Disziplinarmaßnahme, die nur im Rahmen eines Disziplinarverfahrens ausgesprochen werden darf, vorsehen, vom Arbeitgeber zu beachten sind, widrigenfalls die Beendigungserklärung rechtsunwirksam ist (RS0051316; RS0053043 [T7]; 9 ObA 1/99h).

[25]           6. Die Rekursbeantwortung weist darauf hin, dass das hier gegenständliche Abkommen nur die Auflösung des Arbeitsverhältnisses durch den Arbeitgeber aus disziplinären Gründen regelt, aber keine anderen Bestimmungen über die Beendigung des Arbeitsverhältnisses durch Dienstgeberkündigung enthält. Sie zieht daraus die Schlussfolgerung, dass das ordentliche Kündigungsrecht des Arbeitgebers von diesem Abkommen überhaupt nicht berührt werde.

[26]           Das ***** Arbeitsrecht erlaubt – in erster Instanz unstrittig – Arbeitgeberkündigungen unbefristeter Arbeitsverhältnisse grundsätzlich nur aus wichtigen Gründen (vgl Calle/Prehm in Henssler/Braun [Hrsg], Arbeitsrecht in Europa3 1426 ff). Es erübrigt sich nach dieser Rechtslage im Unterschied zum österreichischen Arbeitsrecht insoweit eine Unterscheidung zwischen Kündigung und Entlassung. Angesichts dessen und des – in dritter Instanz nicht mehr strittig – auch der Klägerin von der beklagten Partei vertraglich eingeräumten besonderen Kündigungsschutzes ergibt sich aus dem Fehlen einer Regelung zur einfachen Kündigung gerade das Gegenteil der in der Rekursbeantwortung vertretenen Auslegung.

[27]           Die in den Richtlinien (Abkommen) enthaltene detaillierte Darstellung der Dienstvergehen und ihrer Schweregrade entspricht inhaltlich dem im Punkt Neuntens lit f des Arbeitsvertrags der Klägerin genannten Beendigungsgrund „schwere schuldhafte Handlung bzw wiederholte Übertretungen, die zu einer Kündigung Anlass geben“ und den im Anschluss konkret aufgezählten Vergehen. Die erst später als der Arbeitsvertrag in Kraft getretene Disziplinarordnung bietet eine genauere Richtschnur dafür, welchen Schweregrad diese Vergehen aufweisen müssen, um mit der Beendigung des Arbeitsverhältnisses als schärfster vorgesehener Sanktion belegt werden zu können.

[28]           7. Die Disziplinarordnung der Richtlinie (Abkommen) enthält daher eine wesentliche Beschränkung der dem Arbeitgeber zustehenden Befugnis, das Arbeitsverhältnis aufzulösen. In einem solchen Fall besteht für die Annahme, dass der Arbeitgeber ungeachtet einer solchen Regelung dennoch berechtigt bliebe, Kündigungen von Arbeitnehmern auch weiterhin „schlicht“ – also ohne Befassung der Disziplinarkommission und ohne deren auf diese Sanktion lautendes Erkenntnis – auszusprechen, einer besonderen, abzuleitenden Rechtfertigung. Die Regelungen über das Disziplinarverfahren wären praktisch sinnlos, wenn das der schärfsten Sanktion entsprechende Ergebnis vom Arbeitgeber ohnehin einfach auf anderem Weg herbeigeführt werden könnte.

[29]           Kann etwa einem Kollektivvertrag ein Wahlrecht des Arbeitgebers nicht entnommen werden, dann muss im Zweifel eine generelle, „schlichte“ Kündigungen bzw Entlassungen schlechthin ausschließende Beschränkung angenommen werden (vgl RS0028884).

[30]           Die Durchführung des in der Disziplinarordnung vorgesehenen Verfahrens ist für die Arbeitnehmer beim Vorwurf eines schwerwiegenden Dienstvergehens günstiger, weil es ihnen Verteidigungsrechte einräumt, die bereits vorweg eine allfällige Entkräftung der erhobenen Anschuldigungen ermöglichen. Sie sind dadurch nicht nur auf eine nachträgliche gerichtliche Geltendmachung von Ansprüchen aufgrund einer bereits ausgesprochenen Auflösungserklärung angewiesen.

[31]           8. Zusammenfassend ergibt sich aus diesen Überlegungen, dass die Beklagte zur Kündigung des vorliegenden Arbeitsvertrags aus dem geltend gemachten Grund schwerer dienstlicher Verfehlungen nur unter Einhaltung der Disziplinarordnung berechtigt war. Die Nichteinhaltung dieses Verfahrens hatte die Unwirksamkeit der ausgesprochenen Kündigung zur Folge.

[32]     Dem Rekurs war daher Folge zu geben und in der Sache selbst die Entscheidung des Erstgerichts wieder herzustellen.

[33]     9. Die Kostenentscheidung stützt sich auf § 2 ASGG, §§ 41 und 50 ZPO.

Textnummer

E131544

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:OGH0002:2021:008OBA00081.20Z.0325.000

Im RIS seit

14.05.2021

Zuletzt aktualisiert am

14.05.2021
Quelle: Oberster Gerichtshof (und OLG, LG, BG) OGH, http://www.ogh.gv.at
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