Entscheidungsdatum
09.12.2020Norm
AsylG 2005 §3 Abs1Spruch
W191 2129856-2/19E
IM NAMEN DER REPUBLIK!
Das Bundesverwaltungsgericht fasst durch den Richter Dr. Rosenauer als Einzelrichter über die Beschwerde von XXXX , geboren am XXXX , Staatsangehörigkeit Afghanistan, vertreten durch Verein Menschenrechte Österreich, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 08.11.2016, Zahl 1098778509-151983773, nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung am 13.03.2017 und 04.12.2020 zu Recht:
A)
I. Die Beschwerde wird hinsichtlich Spruchpunkt I. des angefochtenen Bescheides gemäß § 3 Abs. 1 Asylgesetz 2005 als unbegründet abgewiesen.
II. Gemäß § 8 Abs. 1 Asylgesetz 2005 wird XXXX der Status des subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Afghanistan zuerkannt.
III. Gemäß § 8 Abs. 4 Asylgesetz 2005 wird XXXX eine befristete Aufenthaltsberechtigung für die Dauer von einem Jahr erteilt.
B)
Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.
Text
Entscheidungsgründe:
1. Verfahrensgang:
1.1. Der Beschwerdeführer (in der Folge BF), ein afghanischer Staatsangehöriger, reiste irregulär und schlepperunterstützt in Österreich ein und stellte am 13.12.2015 einen Antrag auf internationalen Schutz im Sinne des § 2 Abs. 1 Z 13 Asylgesetz 2005 (in der Folge AsylG). Eine EURODAC-Abfrage vom 13.12.2015 ergab keine Übereinstimmung bezüglich der erkennungsdienstlichen Daten des BF.
1.2. In seiner Erstbefragung am 13.12.2015 durch Organe des öffentlichen Sicherheitsdienstes gab der BF im Beisein eines Dolmetsches für die Sprache Dari im Wesentlichen Folgendes an:
Er sei am XXXX im Distrikt Ghara Bagh (Qarabagh), Provinz Ghazni, Afghanistan geboren. Mit vier Jahren wäre er mit seiner Familie in den Iran gegangen, wo er sich bis zu seiner Ausreise aufgehalten hätte. Er sei afghanischer Staatsangehöriger, Angehöriger der Volksgruppe der Hazara und schiitischer Moslem. Vier Jahre lang sei er zuhause unterrichtet worden, dann habe er als Hilfsarbeiter am Bau gearbeitet. Seine Eltern, ein Bruder und eine Schwester würden noch im Iran leben, in Europa würde sich seine Frau aufhalten, er wisse jedoch nicht, wo. Sie sei bereits vor zwei Jahren aufgrund religiöser Probleme geflüchtet, er wolle sie hier finden. Darüber hinaus lebe in Deutschland ein Onkel von ihm.
Vor ca. sechs Jahren wäre er vom Iran nach Afghanistan abgeschoben worden, nach 15 Tagen sei er jedoch wieder über Pakistan in den Iran zurückgekehrt. Nunmehr wäre er vor ca. 20 Tagen über die Türkei nach Griechenland gereist. Von dort wäre er über Mazedonien, Serbien, Kroatien und Slowenien nach Österreich gelangt.
Als Fluchtgrund gab der BF an, dass er als Vierjähriger gemeinsam mit seinen Eltern Afghanistan verlassen hätte, da es für sie als Minderheit unsicher gewesen wäre. Den Iran hätte er nunmehr verlassen, weil man ihm angeboten hätte, eine Aufenthaltsberechtigung zu erteilen. Er hätte dafür jedoch in Syrien kämpfen sollen, was seine Familie abgelehnt hätte. Deshalb hätten sein Cousin und er beschlossen, dass er nach Europa flüchten solle.
1.3. Bei seiner Einvernahme am 13.06.2016 vor dem BFA, Regionaldirektion Niederösterreich, Außenstelle Wiener Neustadt, im Beisein eines Dolmetsches für die Sprache Dari, bestätigte der BF die Richtigkeit seiner bisher gemachten Angaben.
Zu seinen persönlichen Verhältnissen gab der BF an, dass er in Qarabagh, Provinz Ghazni, geboren sei. Er sei traditionell verheiratet und habe keine Kinder. Seine Frau sei in Europa, sie sei Christin und habe deshalb im Iran Probleme bekommen. In Afghanistan habe er keine Verwandten mehr. Als Kleinkind wäre er mit seinen Eltern in den Iran gegangen, vorigen Herbst habe er dann den Iran verlassen.
Ferner beantwortete der BF an ihn gestellte Fragen betreffend seine Fluchtgründe, wobei er zusammengefasst vorbrachte, dass er nach Afghanistan nicht zurückkehren könne, da dort die Sicherheitslage schlecht sei. Darüber hinaus hätte sein Vater eine Feindschaft mit einer anderen Familie gehabt, die Kriminelle seien, er wisse jedoch nichts Näheres dazu.
Laut Niederschrift wurden mit dem BF „Länderfeststellungen“ des BFA erörtert und wurde ihm vorgehalten, dass sich aus diesen keine positive Erledigung seines Antrages ergäbe.
1.4. Mit Bescheid vom 14.06.2016 wies das BFA den Antrag des BF auf internationalen Schutz vom 13.12.2015 gemäß § 3 Abs. 1 in Verbindung mit § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG ab (Spruchpunkt I.), erkannte ihm den Status eines Asylberechtigten ebenso wie gemäß § 8 Abs. 1 in Verbindung mit § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG den Status eines subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Afghanistan nicht zu (Spruchpunkt II.) und erteilte ihm keinen Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen gemäß § 57 AsylG. Ferner wurde gegen den BF gemäß § 10 Abs. 1 Z 3 AsylG in Verbindung mit § 9 BFA-VG eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs. 2 Z 2 FPG erlassen. Gemäß § 52 Abs. 9 FPG wurde festgestellt, dass die Abschiebung des BF nach Afghanistan gemäß § 46 FPG zulässig sei (Spruchpunkt III.). Gemäß § 55 Abs. 1 bis 3 FPG betrage die Frist für die freiwillige Ausreise des BF „2“ [zwei] Wochen [richtig: 14 Tage] ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung (Spruchpunkt IV.).
1.5. Dem gegen diesen Bescheid mit Schreiben vom 04.06.2016 fristgerecht eingebrachten, offenbar von seiner ihn rechtsberatenden Hilfsorganisation unterstützt erstellten Rechtsmittel der Beschwerde, mit dem der Bescheid gesamtinhaltlich wegen inhaltlicher Fehler, „Verfahrensmängeln“ und falscher rechtlicher Beurteilung angefochten wurde, gab das Bundesverwaltungsgericht (in der Folge BVwG) mit Beschluss vom 12.09.2016, W191 2129856-1/4E, statt, behob den Bescheid vom 14.06.2016 gemäß § 28 Abs. 3 2. Satz VwGVG und verwies die Angelegenheit zur Erlassung eines neuen Bescheides an das BFA zurück.
In der Beschlussbegründung wurde im Wesentlichen ausgeführt, dass das BFA insbesondere bezüglich Spruchpunkt II. – subsidiärer Schutz – entgegen der anzuwendenden Rechtslage und der dazu ergangenen Judikatur (sowohl des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte als auch der Gerichtshöfe des öffentlichen Rechts, des Asylgerichtshofes, des BVwG und der – zwar nicht immer einheitlichen, aber in der Linie jedenfalls übereinstimmenden – Judikatur der entsprechenden deutschen Gerichte) zusätzlich zu objektiven Kriterien (Lage im Land) das Vorliegen von subjektiven bzw. individuellen Kriterien (Situation des Antragstellers) für die Erlangung des Status als subsidiär Schutzberechtigter zu prüfen habe.
Dass die Nichterteilung von subsidiärem Schutz an afghanische Staatsangehörige nach den aktuellen Länderberichten eine relativ gute Sicherheitslage in der Herkunftsregion sowie das Vorhandensein eines hinreichenden sozialen Netzes erfordert, entspreche der aktuellen, mehrjährigen Judikatur des Verfassungsgerichtshofes (VfGH), der sich bislang auch der Verwaltungsgerichtshof (VwGH) angeschlossen habe.
Bezüglich des BF sei daher neben seinen persönlichen Umständen in Prüfung seiner Lebensumstände zu klären, woher er stammt, wo sich seine Familie nun aufhält, ob der BF daher über ein soziales Netzwerk in seinem Herkunftsland verfügt und wie die Lage in diesen Regionen aktuell ist, bzw. über seine diesbezüglichen Angaben hinreichend beweiswürdigend abzusprechen.
Das BFA habe es sohin verabsäumt, den Sachverhalt hinreichend zu klären.
1.6. Bei seiner Einvernahme im fortgesetzten Verfahren am 07.11.2016 vor dem BFA, Niederösterreich, Außenstelle Wiener Neustadt, im Beisein eines Dolmetsches für die Sprache Dari, bestätigte der BF die Richtigkeit seiner bisher gemachten Angaben und beantwortete Fragen zu seinen Lebensumständen.
Der BF gab nunmehr neu an, er habe sich nunmehr für das Christentum zu interessieren begonnen, nachdem auch seine Frau nunmehr Christin sei.
1.7. Nach Durchführung des fortgesetzten Ermittlungsverfahrens wies das BFA mit Bescheid vom 08.11.2016 den Antrag des BF auf internationalen Schutz vom 13.12.2015 gemäß § 3 Abs. 1 in Verbindung mit § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG erneut ab (Spruchpunkt I.), erkannte ihm den Status eines Asylberechtigten ebenso wie gemäß § 8 Abs. 1 in Verbindung mit § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG den Status eines subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Afghanistan nicht zu (Spruchpunkt II.) und verband diese Entscheidung in Spruchpunkt III. gemäß § 10 Abs. 1 Z 3 AsylG in Verbindung mit § 9 BFA-VG mit einer Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs. 2 Z 2 FPG. Ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen gemäß § 57 AsylG wurde ihm nicht erteilt. Es wurde festgestellt, dass die Abschiebung des BF nach Afghanistan gemäß § 46 FPG zulässig sei. Gemäß § 55 Abs. 1 bis 3 FPG betrage die Frist für die freiwillige Ausreise des BF „2“ [zwei] Wochen [richtig: 14 Tage] ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung.
In der Bescheidbegründung traf die belangte Behörde Feststellungen zur Person des BF und zur Lage in seinem Herkunftsstaat. Er habe keine Verfolgung im Sinne des AsylG glaubhaft gemacht und es bestünden keine stichhaltigen Gründe gegen eine Abschiebung des BF nach Afghanistan. Im Falle der Rückkehr drohe ihm keine Gefahr, die eine Erteilung des subsidiären Schutzes rechtfertigen würde.
Der BF erfülle nicht die Voraussetzungen für die Erteilung eines Aufenthaltstitels gemäß § 57 AsylG, der Erlassung einer Rückkehrentscheidung stehe sein Recht auf Achtung des Privat- oder Familienlebens angesichts der kurzen Aufenthaltsdauer und des Fehlens von familiären oder privaten Bindungen im Inland nicht entgegen und es komme daher auch die Erteilung eines Aufenthaltstitels gemäß § 55 AsylG nicht in Betracht. Angesichts der abweisenden Entscheidung über den Antrag auf internationalen Schutz ergebe sich die Zulässigkeit einer Abschiebung des BF nach Afghanistan. Die Frist für die freiwillige Ausreise von 14 Tagen ergebe sich aus § 55 FPG, da besondere Umstände, die der BF bei der Regelung seiner persönlichen Verhältnisse zu berücksichtigen habe, nicht gegeben seien.
Beweiswürdigend führte das BFA (zusammengefasst) aus, dass der BF bezüglich seiner behaupteten Herkunftsregion, Volks- und Staatsangehörigkeit aufgrund seiner Sprach- und Lokalkenntnisse glaubwürdig wäre. Die Feststellungen zur Situation in Afghanistan wären glaubhaft, weil sie verlässlichen, seriösen, aktuellen und unbedenklichen Quellen entstammten, deren Inhalt schlüssig und widerspruchsfrei sei.
Der BF habe keinen asylrelevanten Fluchtgrund glaubhaft gemacht.
Die Nichterteilung von subsidiärem Schutz begründete das BFA im Wesentlichen damit, dass der BF „als Person unglaubwürdig sei“ und mit gutem Grund davon ausgegangen werden könne, dass er „zumindest in Afghanistan, vielleicht sogar in Kabul über Netzwerke“ verfüge. Letztlich sei auszuführen, dass „von einer Entscheidungspraxis, die jedenfalls ein in Kabul bestehendes soziales oder familiäres Netzwerk erfordere, um von einer tauglichen IFA ausgehen zu können, in keiner Weise die Rede sein“ könne.
1.8. Auch gegen diesen Bescheid brachte der BF, vertreten durch seinen bevollmächtigten Rechtsberater, fristgerecht das Rechtsmittel der Beschwerde beim BVwG ein und begründete dies knapp. Der BF habe seine Verfolgungsgründe glaubhaft dargelegt. Bezüglich der Prüfung der Voraussetzungen für die Gewährung von subsidiärem Schutz habe das BFA erneut kein ordnungsgemäßes Verfahren geführt.
Beantragt wurde unter anderem, eine mündliche Beschwerdeverhandlung durchzuführen.
1.9. Das BFA legte die Beschwerde samt Verwaltungsakt dem BVwG vor, verzichtete auf die Durchführung und Teilnahme an einer mündlichen Beschwerdeverhandlung und stellte nicht den Antrag, die Beschwerde abzuweisen.
1.10. Das BVwG führte am 13.03.2017 eine öffentliche mündliche Verhandlung unter Beisein einer Dolmetscherin für die Sprachen Dari bzw. Farsi durch, zu der der BF persönlich mit seiner Vertreterin erschien. Die belangte Behörde verzichtete im Vorhinein auf die Teilnahme an der Verhandlung.
Dabei bestätigte der BF seine bisher gemachten Angaben zu seiner Person und zu seinen Lebensumständen und gab auf Befragung im Wesentlichen an, er sei im Februar 2016 drei Tage stationär im Landeskrankenhaus Steiermark aufhältig gewesen, weil er aufgrund seiner Probleme eine Panikattacke bekommen habe. Derzeit nehme er keine Medikamente. Er legte Belege zu seiner Integration in Österreich vor.
Seine Frau hätte er am 01.06.1391 (umgerechnet 23.08.2012) in Isfahan (Iran) geheiratet, die Heiratsurkunde befinde sich bei seiner Frau in Großbritannien. Im Iran sei er vier Jahre lang in die Schule gegangen und habe als Schneider sowie bei Raumgestaltungen, Filmschnitt und Lichttechnik als Lehrling gearbeitet. Mit seinen Eltern sei er über Internet in Kontakt.
Zu seinem nunmehr geltend gemachten Nachfluchtgrund legte der BF eine Bestätigung von „The Light of God Ministries“, einer christlichen Pfingstgemeinde, vom 26.02.2017 vor, der zufolge sich der BF zum Christentum bekehrt hätte. Er gab an, er sei derzeit in der Taufvorbereitung, die Taufe sei für Ende Sommer 2017 geplant. Seine Frau und einige Freunde wüssten über seine Konversionsabsichten Bescheid, seine Familie und seine Freunde im Fußballverein noch nicht. Der BF beantwortete Wissensfragen zum Christentum.
Dem BF wurde eine Nachfrist zur Vorlage von Belegen bezüglich seiner Ehefrau in Großbritannien sowie bezüglich des Verlaufs seiner beabsichtigten Konversion eingeräumt.
Das erkennende Gericht brachte weitere Erkenntnisquellen zum Herkunftsstaat des BF in das Verfahren ein (aufgelistet unter Punkt 2.).
Dem BFA wurde die Verhandlungsschrift samt Beilagen übermittelt.
1.11. Mit Eingabe seines Vertreters ohne Datum, eingelangt beim BVwG am 07.04.2017, legte der BF seine Heiratsurkunde sowie den Asylbescheid und die Bestätigung des Konfessionswechsels seiner Ehefrau in England vor.
1.12. Da der BF in der Folge nicht wie angekündigt seinen Taufschein vorlegte, führte das BVwG am 04.12.2020 eine fortgesetzte öffentliche mündliche Verhandlung unter Beisein eines Dolmetsches für die Sprachen Dari bzw. Farsi durch, zu der der BF persönlich mit seinem Vertreter erschien. Die belangte Behörde verzichtete im Vorhinein auf die Teilnahme an der Verhandlung.
In seiner Einvernahme gab der BF auf Befragung durch den erkennenden Richter an, dass er seiner Vertrauensperson XXXX immer helfe, wenn sie ihn brauche, etwa zum Möbeltragen. Im letzten Jahr sei der Kontakt seltener geworden. Sie habe ihm angeboten, ihn zur heutigen Verhandlung zu begleiten, doch habe er ihr dies im Hinblick auf die Covid-Pandemie nicht zumuten wollen.
Er gab an, dass er seine Frau geliebt habe und ihr nach Europa gefolgt sei. Auf ihren Rat habe er versucht, durch Konversion zum Christentum seine innere Ruhe zu finden. Als er aber erfahren habe, dass sie – in Großbritannien – nun in einer anderen Beziehung lebe, habe er sich gleichsam selbst verloren und große psychische Probleme bekommen. Seit ca. zwei Jahren habe er keinen Kontakt mehr mit ihr, wenngleich sie nicht geschieden seien. Er habe versucht, seine Probleme mit Alkohol zu bewältigen und sei dann – nachdem er zuvor öfters Panikattacken erlitten habe – sehr depressiv geworden. Seine Konversion zum Christentum habe er nicht mehr weiter betrieben.
Der BF legte einen ärztlichen Befund des Kriseninterventionszentrums vom 09.10.2020, Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie vor, wonach beim BF eine mittelgradige depressive Episode, ein Alkoholabusus, eine Hypercholesterinanämie und Tachykardie vorliege. Umfangreiche Medikation wurde verordnet.
Der BF gab an, er sei in ärztlicher Behandlung und Therapie, seither habe er es geschafft, fast keinen Alkohol mehr zu trinken.
Er gab an, er habe keine Verwandten in Afghanistan. Seine Familie (Eltern, Bruder, Schwester) lebe nach wie vor in Isfahan (Iran).
Der BF sprach passabel Deutsch. Er gab an, dass er Deutsch über Ansehen von Netflix-Folgen lerne. Er habe zwar bisher keine Deutschprüfungen abgelegt, wolle nun aber zur B1-Prüfung antreten. Er verfüge über zwei mündliche Einstellungszusagen (Baustelle, Restaurant). Im Iran habe er als Schneider sowie als Licht- und Tontechniker und auf der Baustelle gearbeitet. Sein Vater sei eine Art Hausmeister für ein Kulturzentrum gewesen, die ganze Familie habe dafür gearbeitet.
Auf die Frage, was ihm passieren würde, wenn er nun in seinen Herkunftsstaat Afghansitan zurückkehren müsste, sagte der BF: „Ich kenne mich mit den gesellschaftlichen Gegebenheiten in Afghanistan nicht aus, auch geographisch kenne ich mich dort nicht aus, weil ich fast nie dort gewesen bin. Ich habe niemanden dort. Ich muss auch gestehen, dass leider aufgrund der Religion, Ethnie und Aberglaube in meinem Land meine Landsleute sich gegenseitig bekämpfen. Mit meinen Einstellungen kann ich mich dort nirgends platzieren, und das ist sehr bedauerlich, dass Menschen sich im eigenen Land nicht ertragen können und nicht in Frieden zusammenleben können.“
2. Beweisaufnahme:
Zur Feststellung des für die Entscheidung maßgeblichen Sachverhaltes wurde im Rahmen des Ermittlungsverfahrens Beweis erhoben durch:
? Einsicht in den dem BVwG vorliegenden Verwaltungsakt des BFA, beinhaltend die Niederschriften der Erstbefragung am 13.12.2015 und der Einvernahmen vor dem BFA am 13.06.2016 und 07.11.2016, die Bescheide des BFA vom 14.06.2016 und – gegenständlich angefochten – vom 08.11.2016 sowie die gegenständliche Beschwerde
? Einsicht in Dokumentationsquellen betreffend den Herkunftsstaat des BF im erstbehördlichen Verfahren (offenbar Auszug aus dem Länderinformationsblatt der Staatendokumentation, Aktenseiten 239 bis 286)
? Einvernahme des BF im Rahmen der öffentlichen mündlichen Verhandlung vor dem BVwG am 13.03.2017 sowie Einsicht in die in dieser Verhandlung zusätzlich in das Verfahren eingebrachten Erkenntnisquellen zum Herkunftsstaat des BF:
o Feststellungen und Berichte über die allgemeine Lage im Herkunftsstaat (Auszug aus dem Länderinformationsblatt der Staatendokumentation vom 02.03.2017)
o UNHCR-Richtlinien zur Feststellung des Internationalen Schutzbedarfs Afghanischer Asylsuchender vom April 2016, Anmerkungen von UNHCR zur Situation in Afghanistan auf Anfrage des deutschen Bundesministerium des Innern vom Dezember 2016
o Auszüge aus einer gutachterlichen Stellungnahme zur Sicherheits- und Versorgungslage in Kabul von Dr. Sarajuddin RASULY vom 23.10.2015, Zahl W119 2006001, in einem anderen Verfahren des BVWG betreffend einen anderen Asylwerber sowie zwei weitere Auszüge aus gutachterlichen Stellungnahmen desselben Länderkundigen betreffend weitere Asylwerber vor dem BVwG (W151 1435926-2, Verhandlung vom 29.04.2016, W154 2009999-1, 04.05.2016), Auszüge aus einer gutachterlichen Stellungnahme desselben Länderkundigen zur Lage der Hazara seit dem Sturz des Taliban-Regimes Ende 2001 (W119 2102332-1, 17.02.2016) sowie
o Auszüge aus dem Dossier der Staatendokumentation (des BFA) aus 2016 zum Thema „Grundlagen der Stammes- & Clanstruktur in Afghanistan und Pakistan“
? Einsicht in die vom BF im Beschwerdeverfahren vorgelegten Bescheinigungsmittel bezüglich seiner Ehefrau (Heiratsurkunde, Asylbescheid, Bestätigung des Konfessionswechsels in England), zu seiner Gesundheit (stationärer Aufenthalt im Februar 2016 wegen einer Panikattacke, ärztlicher Befund des Kriseninterventionszentrums vom 09.10.2020, Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie, wonach der BF an einer mittelgradigen depressiven Episode, Alkoholabusus, Hypercholesterinanämie und Tachykardie leidet) sowie zu seiner Integration (Fußball, Empfehlungsschreiben einer Vertrauensperson)
? Einvernahme des BF im Rahmen der fortgesetzten öffentlichen mündlichen Verhandlung vor dem BVwG am 04.12.2020, sowie Einsicht in die in dieser Verhandlung zusätzlich in das Verfahren eingebrachten Erkenntnisquellen zum Herkunftsstaat des BF:
o Feststellungen und Berichte über die allgemeine Lage im Herkunftsstaat, zur Religionsfreiheit, zur Lage der Hazara und zur Situation aufgrund der Covid 19 Pandemie (Auszüge aus dem Länderinformationsblatt der Staatendokumentation vom 13.11.2019, zuletzt aktualisiert am 21.07.2020)
3. Ermittlungsergebnis (Sachverhaltsfeststellungen):
Das BVwG geht auf Grund des durchgeführten Ermittlungsverfahrens von folgendem für die Entscheidung maßgeblichen, glaubhaft gemachten Sachverhalt aus:
3.1. Zur Person des BF:
3.1.1. Der BF führt den Namen XXXX , geboren am XXXX , ist Staatsangehöriger der Islamischen Republik Afghanistan, Angehöriger der Volksgruppe der Hazara, stammt aus einer schiitischen muslimischen Familie und ist verheiratet. Die Muttersprache des BF ist Dari, er spricht aufgrund seines fast lebenslangen Aufenthaltes im Iran aber besser Farsi.
3.1.2. Lebensumstände:
Der BF stammt aus Afghanistan und zog mit ca. vier Jahren gemeinsam mit seiner Familie in den Iran, wo er in Isfahan aufwuchs, vier Jahre die Schule besuchte und als Schneider, auf der Baustelle sowie bei Raumgestaltungen, Filmschnitt und Lichttechnik arbeitete.
Er hat sich seither, mit Ausnahme eines kurzen Aufenthaltes nach einer Abschiebung in Herat, nicht mehr in Afghanistan aufgehalten. Seine Familie (Eltern, Bruder, Schwester) lebt nach wie vor im Iran. Der BF hat zu ihnen regelmäßigen telefonischen Kontakt.
3.1.3. Der BF verließ aus angegebenen Gründen – ihm sei angedroht worden, dass er nach Afghanistan abgeschoben werde, wenn er nicht am Krieg in Syrien teilnehme – den Iran und reiste im Jahr 2015 nach Europa, wo er am 13.12.2015 in Österreich gegenständlichen Antrag auf internationalen Schutz stellte.
3.1.4. Die Ehefrau des BF lebt in Großbritannien. Er ist von ihr nicht geschieden, hat aber seit ca. zwei Jahren keinen Kontakt mehr zu ihr.
3.1.5. Der BF hatte in Österreich zunächst wiederholt Panikattacken und war auch einmal deshalb in einer Krankenanstalt stationär aufhältig. Nach dem Ende seiner Hoffnungen auf eine Wiederherstellung seiner Beziehung zu seiner in Großbritannien lebenden Ehefrau versuchte der BF, seine Probleme mit Alkohol zu bewältigen, und wurde in weiterer Folge depressiv. Seine Konversion zum Christentum betrieb er nicht mehr weiter.
Laut ärztlichem Befund des Kriseninterventionszentrums vom 09.10.2020, Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie, wurde beim BF eine mittelgradige depressive Episode, ein Alkoholabusus, eine Hypercholesterinanämie und Tachykardie diagnostiziert. Umfangreiche Medikation wurde verordnet.
Der BF steht in ärztlicher Behandlung und Therapie und versucht seither erfolgreich, seinen Alkoholkonsum stark einzuschränken.
3.1.6. Der BF bemüht sich um seine Integration in Österreich. Er war Mitglied einer Fußballmannschaft und hat eine Vertrauensperson, der er regelmäßig hilft (etwa beim Möbeltragen o.ä.). Seine Integrationsbemühungen waren zuletzt aufgrund seiner gesundheitlichen Situation eingeschränkt, doch betreibt der BF zuletzt wieder regelmäßig Sport (tägliches Gehen) und lernt Deutsch über das Sehen von Netflix-Folgen. Er beabsichtigt, zur Deutsch-Prüfung B1 anzutreten, und verfügt über zwei mündliche Einstellungszusagen (Baustelle, Restaurant).
3.1.7. Der BF ist in Österreich strafgerichtlich unbescholten.
3.2. Zu den Fluchtgründen des BF:
3.2.1. Der BF wurde nach eigenen Angaben in seinem Herkunftsstaat niemals inhaftiert, ist nicht vorbestraft und hatte mit den Behörden seines Herkunftsstaates weder auf Grund seines Religionsbekenntnisses oder seiner Volksgruppenzugehörigkeit noch sonst irgendwelche Probleme. Der BF war nie politisch tätig und gehörte nicht einer politischen Partei an.
3.2.2. Der BF hat seinen in Österreich geltend gemachten Nachfluchtgrund der Konversion vom Islam zum Christentum im Laufe des Beschwerdeverfahrens nicht mehr weiter aufrechterhalten.
3.2.3. Der BF hat nicht glaubhaft gemacht, dass er im Falle einer Rückkehr in seinen Herkunftsstaat alleine wegen seiner Zugehörigkeit zur Volksgruppe der Hazara konkret und individuell asylrelevante Verfolgung zu befürchten hätte.
3.3. Zu einer möglichen Rückkehr des BF in den Herkunftsstaat:
3.3.1. Es konnte vom BF nicht glaubhaft vermittelt werden, dass er im Falle der Rückkehr in den Herkunftsstaat einer Verfolgung aus den genannten Gründen ausgesetzt wäre.
3.3.2. Dem BF würde derzeit bei einer Rückkehr in seinen Herkunftsstaat ein Eingriff in seine körperliche Unversehrtheit drohen.
Der BF lebte nur bis zu seinem vierten Lebensjahr in Afghanistan und anschließend mit seiner Familie zeitlebens im Iran.
Eine Rückkehr und Ansiedelung in Afghanistan außerhalb seiner Herkunftsprovinz, wie etwa in den Städten Herat oder Mazar-e-Sharif – eine innerstaatlichen Fluchtalternative in Kabul ist UNHCR zufolge (30.08.2018) grundsätzlich nicht möglich –, ist dem BF unter Berücksichtigung der UNHCR-Richtlinien vom 30.08.2018 und den Berichten des EASO aus Juni 2019 aufgrund seiner individuellen Umstände (Zugehörigkeit zu einer vulnerablen Personengruppe im Sinne der genannten UNHCR-Richtlinien aufgrund seiner gesundheitlichen Situation und des damit zusammenhängenden Therapiebedarfs) – noch abgesehen von der schlechten Lage aufgrund der Auswirkungen der Covid 19 Pandemie – nicht zumutbar, zumal er dort nicht gelebt hat und über keine sozialen Anknüpfungspunkte verfügt.
Zudem bestehen in ganz Afghanistan derzeit auch pandemiebedingte Einschränkungen und damit zusammenhängend kaum Möglichkeiten für eine Person, die in Mazar-e Sharif oder Herat weder über ein familiäres noch sonstiges Netzwerk verfügt, eine Arbeit und/oder eine Unterkunft zu finden. Beides ist jedoch von fundamentaler Bedeutung, um in Afghanistan ein menschenwürdiges Leben führen zu können. In Afghanistan sind landesweit derzeit Mobilität, soziale und geschäftliche Aktivitäten sowie Regierungsdienste eingeschränkt.
Die beim BF vorgenommene Einzelfallprüfung ergibt, dass aufgrund der oben dargelegten individuellen Umstände derzeit nicht davon ausgegangen werden kann, dass es ihm möglich ist, nach allfälligen anfänglichen Schwierigkeiten in Afghanistan Fuß zu fassen und dort ein Leben ohne unbillige Härten zu führen, wie es auch andere Landsleute führen können. Bei einer dortigen Ansiedelung liefe der BF vielmehr Gefahr, grundlegende und notwendige Lebensbedürfnisse wie Nahrung, Kleidung sowie Unterkunft nicht befriedigen zu können und in eine ausweglose bzw. existenzbedrohende Situation zu geraten.
3.4. Zur Lage im Herkunftsstaat des BF:
Aufgrund der in der mündlichen Verhandlung vor dem BVwG in das Verfahren eingeführten aktuellen Erkenntnisquellen werden folgende entscheidungsrelevante Feststellungen zum Herkunftsstaat des BF getroffen (Auszug aus dem Länderinformationsblatt der Staatendokumentation des BFA zu Afghanistan („Gesamtaktualisierung am 13.11.2019“, zuletzt aktualisiert am 21.07.2020, Schreibfehler teilweise korrigiert):
„[…] 1. Politische Lage
Letzte Änderung: 18.05.2020
Afghanistan ist ein Zentralstaat mit 34 Provinzen, die in Distrikte gegliedert sind (AA 15.04.2019). Auf einer Fläche von ca. 632.000 Quadratkilometern (CIA 24.05.2019) leben ca. 32 Millionen Menschen (CSO 2019).
Im Jahr 2004 wurde die neue Verfassung angenommen (BFA 7.2016; vgl. Casolino 2011), die vorsieht, dass kein Gesetz gegen die Grundsätze und Bestimmungen des Islam verstoßen darf und alle Bürgerinnen und Bürger Afghanistans, Mann wie Frau, gleiche Rechte und Pflichten vor dem Gesetz haben (BFA 3.2014; vgl. Casolino 2011, MPI 27.01.2004).
Die Verfassung der islamischen Republik Afghanistan sieht vor, dass der Präsident der Republik direkt vom Volk gewählt wird und sein Mandat fünf Jahre beträgt (Casolino 2011). Implizit schreibt die Verfassung dem Präsidenten auch die Führung der Exekutive zu (AAN 13.02.2015), und die Provinzvorsteher, sowie andere wichtige Verwaltungsbeamte, werden direkt vom Präsidenten ernannt und sind diesem rechenschaftspflichtig. Viele werden aufgrund persönlicher Beziehungen ausgewählt (EC 18.05.2019).
Die ursprünglich für den 20.04.2019 vorgesehene Präsidentschaftswahl wurde mehrfach verschoben, da die Wahlbehörden auf eine landesweite Wahl so kurz nach der Parlamentswahl im Oktober 2018 nicht vorbereitet waren. Der Oberste Gerichtshof Afghanistans konnte die Herausforderungen für die Wahlkommission nachvollziehen und verlängerte die Amtszeit von Präsident Ashraf Ghani bis zu der auf den 28.09.2019 verschobenen Präsidentschaftswahl (DZ 21.04.2019). Die unabhängige afghanische Wahlkommission (Afghanistan’s Independent Election Commission) hat mehr als vier Monate nach der Präsidentschaftswahl in Afghanistan Mohammed Ashraf Ghani zum Sieger erklärt (DW 18.02.2020). Der amtierende Präsident erhielt 50,64% der Stimmen, wie die Kommission verlautbarte (DW 18.02.2020; vgl. REU 25.02.2020; UNGASC 17.03.2020). Da Ghani im ersten Durchgang die Präsidentschaftswahl bereits gewonnen hat, ist keine Stichwahl mehr notwendig (DW 18.02.2020). CEO bzw. Regierungsgeschäftsführer Abdullah Abdullah, kam den Resultaten zufolge auf 39,52% (DW 18.02.2020; vgl. REU 25.02.2020). Die Präsidentenwahl hatte am 28.09.2019 stattgefunden. Nach monatelangem, erbittertem Streit um die Richtigkeit von Hunderttausenden von Stimmen waren nur noch 1,8 Millionen Wahlzettel berücksichtigt worden. Hingegen lag die Zahl der registrierten Wähler bei 9,6 Millionen. Afghanistan hat eine geschätzte Bevölkerung von 35 Millionen Einwohnern (DW 18.02.2020).
Wochenlang stritten der amtierende Präsident Ashraf Ghani und sein ehemaliger Regierungsgeschäftsführer Abdullah Abdullah um die Macht in Kabul und darum, wer die Präsidentschaftswahl im vergangenen September gewonnen hatte. Abdullah Abdullah beschuldigte die Wahlbehörden, Ghani begünstigt zu haben, und anerkannte das Resultat nicht (NZZ 20.04.2020). Am 09.03.2020 ließen sich sowohl Ghani als auch Abdullah als Präsident vereidigen (NZZ 20.04.2020; vgl. TN 16.04.2020). Nach monatelanger politischer Krise (DP 17.05.2020; vgl. TN 11.05.2020) einigten sich der afghanische Präsident Ashraf Ghani und Abdullah Abdullah auf eine Machtteilung: Abdullah wird die Friedensgespräche mit den Taliban leiten, und Mitglieder seines Wahlkampfteams werden ins Regierungskabinett aufgenommen (DP 17.05.2020; vgl. BBC 17.05.2020; DW 17.05.2020).
Anm.: Weitere Details zur Machtteilungsvereinbarung sind zum Zeitpunkt der Aktualisierung noch nicht bekannt (Stand: 18.05.2020) und werden zu einem späteren Zeitpunkt bekannt gegeben (BBC 17.05.2020).
Präsidentschafts- und Parlamentswahlen
Die afghanische Nationalversammlung ist die höchste legislative Institution des Landes und agiert im Namen des gesamten afghanischen Volkes (Casolino 2011). Sie besteht aus zwei Kammern: dem Unterhaus oder Volksvertretung (Wolesi Jirga) mit 250 Abgeordneten (für fünf Jahre gewählt), sowie dem Oberhaus oder Ältestenrat (Meschrano Jirga) mit 102 Abgeordneten (AA 15.04.2019).
Das Oberhaus setzt sich laut Verfassung zu je einem Drittel aus Vertretern der Provinz- und Distrikträte zusammen. Das letzte Drittel der Senatoren wird durch den Präsidenten bestimmt (AA 15.04.2019). Die Hälfte der vom Präsidenten entsandten Senatoren müssen Frauen sein. Weiters vergibt der Präsident zwei Sitze für die nomadischen Kutschi und zwei weitere an behinderte Personen. Auch ist de facto ein Sitz für einen Vertreter der Hindu- bzw. Sikh-Gemeinschaft reserviert (USDOS 13.03.2019).
Die Sitze im Unterhaus verteilen sich proportional zur Bevölkerungszahl auf die 34 Provinzen. Verfassungsgemäß sind für Frauen 68 Sitze, für die Minderheit der Kutschi zehn Sitze und für Vertreter der Hindu- bzw. Sikh-Gemeinschaft ein Sitz reserviert (AAN 22.01.2017; vgl. USDOS 13.03.2019, Casolino 2011).
Die Rolle des Parlaments bleibt begrenzt. Ob das neue Parlament, das sich nach den Wahlen vom Oktober 2018 erst mit erheblicher Verzögerung im April 2019 konstituierte, eine andere Rolle einnehmen kann, muss sich zunächst noch erweisen. Zwar beweisen die Abgeordneten mit kritischen Anhörungen und Abänderungen von Gesetzentwürfen in teils wichtigen Punkten, dass das Parlament grundsätzlich funktionsfähig ist, doch nutzt das Parlament auch seine verfassungsmäßigen Rechte, um die Arbeit der Regierung destruktiv zu behindern, Personalvorschläge der Regierung z.T. über längere Zeiträume zu blockieren und sich Zugeständnisse wohl auch durch finanzielle Zuwendungen an einzelne Abgeordnete abkaufen zu lassen. Insbesondere das Unterhaus hat sich dadurch sowohl die Regierung der Nationalen Einheit als auch die Zivilgesellschaft zum Gegner gemacht. Generell leidet die Legislative unter einem kaum entwickelten Parteiensystem und mangelnder Rechenschaft der Parlamentarier gegenüber ihren Wählern (AA 02.09.2019).
Die Präsidentschaftswahlen und Parlamentswahlen finden gemäß Verfassung alle fünf Jahre statt (USIP 11.2013). Mit dreijähriger Verzögerung fanden zuletzt am 20. und 21.10.2018 – mit Ausnahme der Provinz Ghazni – Parlamentswahlen statt (AA 15.04.2019; vgl. USDOS 13.03.2019). Die letzten Präsidentschaftswahlen fanden am 28.09.2019 statt; ein vorläufiges Ergebnis wird laut der unabhängigen Wahlkommission (IEC) für den 14.11.2019 erwartet (RFE/RL 20.10.2019).
Bei den Wahlen zur Nationalversammlung am 20. und 21.10.2018 gaben etwa vier Millionen der registrierten 8,8 Millionen Wahlberechtigten ihre Stimme ab. In der Provinz Kandahar musste die Stimmabgabe wegen eines Attentats auf den Provinzpolizeichef um eine Woche verschoben werden, und in der Provinz Ghazni wurde die Wahl wegen politischer Proteste, welche die Wählerregistrierung beeinträchtigten, nicht durchgeführt (s.o.). Die Wahl war durch Unregelmäßigkeiten geprägt, darunter Betrug bei der Wählerregistrierung und Stimmabgabe, Einschüchterung der Wähler, und einige Wahllokale mussten wegen Bedrohungen durch örtliche Machthaber schließen. Die Taliban und andere Gruppierungen behinderten die Stimmabgabe durch Drohungen und Belästigungen. Durch Wahl bezogene Gewalt kamen 56 Personen ums Leben, und 379 wurden verletzt. Mindestens zehn Kandidaten kamen im Vorfeld der Wahl bei Angriffen ums Leben, wobei die jeweiligen Motive der Angreifer unklar waren (USDOS 13.03.2019).
Wegen Vorwürfen des Betruges und des Missmanagements erklärte Anfang Dezember 2018 die afghanische Wahlbeschwerdekommission (ECC) alle in der Provinz Kabul abgegebenen Stimmen für ungültig (RFE/RL 06.12.2018). Die beiden Wahlkommissionen einigten sich in Folge auf eine neue Methode zur Zählung der abgegebenen Stimmen (TN 12.12.2018). Die Provinzergebnisse von Kabul wurden schließlich am 14.05.2019, fast sieben Monate nach dem Wahltag, veröffentlicht. In einer Ansprache bezeichnete Präsident Ghani die Wahl als „Katastrophe“ und die beiden Wahlkommissionen als „ineffizient“ (AAN 17.05.2019).
Politische Parteien
Die afghanische Verfassung erlaubt die Gründung politischer Parteien, solange deren Programm nicht im Widerspruch zu den Prinzipien des Islam steht (USDOS 29.05.2018). Um den Parteien einen allgemeinen und nationalen Charakter zu verleihen, verbietet die Verfassung jeglichen Zusammenschluss in politischen Organisationen, der aufgrund von ethnischer, sprachlicher (Casolino 2011; vgl. MPI 27.01.2004) oder konfessioneller Zugehörigkeit erfolgt (Casolino 2011; vgl. MPI 27.01.2004, USDOS 29.05.2018). Auch darf keine rechtmäßig zustande gekommene Partei oder Organisation ohne rechtliche Begründung und ohne richterlichen Beschluss aufgelöst werden (MPI 27.01.2004).
Das kaum entwickelte afghanische Parteiensystem weist mit über 70 registrierten Parteien eine starke Zersplitterung auf (AA 02.09.2019). Die politischen Parteien haben ihren Platz im politischen System Afghanistans noch nicht etablieren können (DOA 17.03.2019). Die meisten dieser Gruppierungen erscheinen mehr als Machtvehikel ihrer Führungsfiguren denn als politisch-programmatisch gefestigte Parteien (AA 02.09.2019; vgl. AAN 06.05.2018, DOA 17.03.2019). Ethnische Zugehörigkeit, persönliche Beziehungen und ad hoc geformte Koalitionen spielen traditionell eine größere Rolle als politische Organisationen (AA 02.09.2019).
Das derzeitige Wahlsystem ist personenbezogen, die Parteien können keine Kandidatenlisten erstellen, es sind keine Sitze für die Parteien reserviert, und es ist den Parteien untersagt, Fraktionen im Parlament zu gründen. Der Parteivorsitz wird nicht durch parteiinterne Abläufe bestimmt, sondern wird eher wie ein patrimoniales Erbgut gesehen, das von einer Generation an die nächste, vom Vater zum Sohn, übergeben wird. Die Menschen vertrauen den Parteien nicht, und junge, gebildete Leute sind nicht gewillt, solchen Parteien beizutreten (DOA 17.03.2019).
Friedens- und Versöhnungsprozess
Die afghanischen Regierungskräfte und die Amerikaner können die Taliban, die über rund 60.000 Mann verfügen, nicht besiegen. Auch die Islamisten sind nicht stark genug, um die Regierungstruppen zu überrennen, obwohl sie rund die Hälfte des Landes kontrollieren oder dort zumindest präsent sind. In Afghanistan herrscht fast zwei Jahrzehnte nach dem Sturz des Taliban-Regimes durch die USA eine Pattsituation (NZZ 20.04.2020). Das lang erwartete Abkommen zwischen den Vereinigten Staaten und den Taliban wurde Ende Februar 2020 unterzeichnet (AJ 07.05.2020; vgl. NPR 06.05.2020) – die afghanische Regierung war an dem Abkommen weder beteiligt, noch unterzeichnete sie dieses. Diesem Abkommen zufolge hätten noch vor den für 10.03.2020 angesetzten inneren Friedensgesprächen von den Taliban bis zu 1.000 Gefangene und von der Regierung 5.000 gefangene Taliban freigelassen werden sollen. Zum einen verzögern die Unstimmigkeiten zwischen den Taliban und der afghanischen Regierung über Umfang und Umsetzungstempo des Austauschs die Gespräche (AJ 07.05.2020) [ Anm.: 800 Taliban-Gefangene entließ die afghanische Regierung, während die Taliban 100 der vereinbarten 1.000 Sicherheitskräfte frei ließen – (NPR 06.05.2020)], andererseits stocken die Verhandlungen auch aufgrund des innenpolitischen Disputes zwischen Ashraf Ghani und Abdullah Abdullah, die beide die Präsidentschaft für sich beanspruchten. Die Taliban haben seit dem unterzeichneten Abkommen im Februar mehr als 4.500 Angriffe verübt. Die von dieser Gewalt am stärksten betroffenen Provinzen sind auch jene Provinzen, die am stärksten von COVID-19-Fällen betroffen sind (AJ 07.05.2020). In den innerafghanischen Gesprächen wird es um die künftige Staatsordnung, eine Machtteilung und die Integration der Aufständischen gehen (NZZ 20.04.2020).
Das Abkommen mit den US-Amerikanern
Das Abkommen zwischen den Vereinigten Staaten und den Taliban enthält das Versprechen der US-Amerikaner, ihre noch rund 13.000 Armeeangehörigen in Afghanistan innerhalb von 14 Monaten abzuziehen. Auch die verbliebenen nichtamerikanischen NATO-Truppen (Stand Ende 2019: rund 6.700 Mann) sollen abgezogen werden. In den ersten 135 Tagen nach der Unterzeichnung werden die US-Amerikaner ihre Truppen in Afghanistan auf 8.600 Mann reduzieren. Der Abzug der ausländischen Truppenangehörigen, von denen die meisten Beratungs- und Ausbildungsfunktionen wahrnehmen, ist abhängig davon, ob die Taliban ihren Teil der Abmachung einhalten. Sie haben im Abkommen zugesichert, terroristischen Gruppierungen wie etwa al-Qaida keine Zuflucht zu gewähren. Die Taliban verpflichteten sich weiter, innerhalb von zehn Tagen nach Unterzeichnung Gespräche mit einer afghanischen Delegation aufzunehmen (NZZ 20.04.2020; vgl. USDOS 29.02.2020).
2. Sicherheitslage
Letzte Änderung: 22.4.2020
Die Sicherheitslage in Afghanistan ist nach wie vor volatil (UNGASC 17.03.2019). Die afghanische Regierung behält die Kontrolle über Kabul, die wichtigsten Bevölkerungszentren und Transitrouten sowie Provinzhauptstädte und die meisten Distriktzentren. Nichtsdestotrotz hat die afghanische Regierung wichtige Transitrouten verloren (USDOD 12.2019).
Der Konflikt in Afghanistan befindet sich nach wie vor in einer „strategischen Pattsituation“, die nur durch Verhandlungen zwischen der afghanischen Regierung und den Taliban gelöst werden kann (SIGAR 30.01.2020). Die afghanische Regierung führte zum ersten Mal persönliche Gespräche mit den Taliban, inhaltlich wurde über den Austausch tausender Gefangener verhandelt; bis dahin hatten die beiden Seiten sich nur per Videokonferenz unterhalten (BBC 01.04.2020). Ein erster Schritt Richtung inner-afghanischer Verhandlungen, welcher Teil eines zwischen Taliban und US-Amerikanern unterzeichneten Abkommens ist (TD 02.04.2020). Die Gespräche fanden vor dem Hintergrund anhaltender Gewalt im Land statt (BBC 01.04.2020).
Für den Berichtszeitraum 08.11.2019 - 06.02.2020 verzeichnete die UNAMA 4.907 sicherheitsrelevante Vorfälle – ähnlich dem Vorjahreswert. Die Sicherheitslage blieb nach wie vor volatil. Die höchste Anzahl sicherheitsrelevanter Vorfälle wurden in der südlichen Region, gefolgt von den nördlichen und östlichen Regionen, registriert, die allesamt 68% der Zwischenfälle ausmachten. Die aktivsten Konfliktregionen waren in den Provinzen Kandahar, Helmand, Nangarhar und Balkh zu finden. Entsprechend saisonaler Trends gingen die Kämpfe in den Wintermonaten – Ende 2019 und Anfang 2020 – zurück (UNGASC 17.03.2020).
Die Sicherheitslage im Jahr 2019
Die geographische Verteilung aufständischer Aktivitäten innerhalb Afghanistans blieb, im Vergleich der beiden Jahre 2018 und 2019, weitgehend konstant. Im Jahr 2019 fanden auch weiterhin im Süden und Westen Afghanistans weiterhin schwere Kampfhandlungen statt; feindliche Aktivitäten nahmen zu und breiteten sich in größeren Gebieten des Nordens und Ostens aus. Der Resolute Support (RS) Mision (seit 2015 die Unterstützungsmission der NATO in Afghanistan) zufolge waren für das Jahr 2019 29.083 feindlich-initiierte Angriffe landesweit zu verzeichnen. Im Gegensatz waren es im Jahr 2018 27.417 (SIGAR 30.01.2020). Mit einer hohen Anzahl an sicherheitsrelevanten Vorfällen – speziell in den südlichen, nördlichen und östlichen Regionen – blieb die Sicherheitslage vorerst volatil, bevor ein Zeitraum der Reduzierung der Gewalt registriert werden konnte. Die UNAMA (Hilfsmission der Vereinten Nationen in Afghanistan) registrierte für das gesamte Jahr 2019 10.392 zivile Opfer, was einem Rückgang von 5% gegenüber 2018 entspricht (UNGASC 17.03.2020).
Seit Ende des Jahres 2019 haben Angriffe durch regierungsfeindliche Elemente erheblich zugenommen. Im September 2019 fanden die afghanischen Präsidentschaftswahlen statt, in diesem Monat wurde auch die höchste Anzahl feindlicher Angriffe eines einzelnen Monats seit Juni 2012 und die höchste Anzahl effektiver feindlicher Angriffe seit Beginn der Aufzeichnung der RS-Mission im Januar 2010 registriert. Dieses Ausmaß an Gewalt setzte sich auch nach den Präsidentschaftswahlen fort, denn im Oktober 2019 wurde die zweithöchste Anzahl feindlicher Angriffe in einem Monat seit Juli 2013 dokumentiert. Betrachtet man jedoch das Jahr 2019 in dessen Gesamtheit, so waren scheinbar feindliche Angriffe, seit Anfang des Jahres, im Zuge der laufenden Friedensgespräche zurückgegangen. Nichtsdestotrotz führte ein turbulentes letztes Halbjahr zu verstärkten Angriffen feindlicher Elemente von insgesamt 6% und effektiver Angriffe von 4% im Jahr 2019 im Vergleich zu den bereits hohen Werten des Jahres 2018 (SIGAR 30.01.2020).
Zivile Opfer
Für das Jahr 2019 registrierte die Hilfsmission der Vereinten Nationen in Afghanistan (UNAMA) als Folge des bewaffneten Konflikts 10.392 zivile Opfer (3.403 Tote und 6.989 Verletzte), was einen Rückgang um 5% gegenüber dem Vorjahr, aber auch die niedrigste Anzahl an zivilen Opfern seit dem Jahr 2013 bedeutet. Nachdem die Anzahl der durch ISKP verursachten zivilen Opfer zurückgegangen war, konnte ein Rückgang aller zivilen Opfer registriert werden, wenngleich die Anzahl ziviler Opfer speziell durch Taliban und internationale Streitkräfte zugenommen hatte. Im Laufe des Jahres 2019 war das Gewaltniveau erheblichen Schwankungen unterworfen, was auf Erfolge und Misserfolge im Rahmen der Friedensverhandlungen zwischen Taliban und den US-Amerikanern zurückzuführen war. In der ersten Jahreshälfte 2019 kam es zu intensiven Luftangriffen durch die internationalen Streitkräfte und Suchaktionen der afghanischen Streitkräfte – insbesondere der Spezialkräfte des afghanischen Geheimdienstes NDS (National Directorate of Security Special Forces) (UNAMA 2.2020).
Aufgrund der Suchaktionen der afghanischen Streitkräfte gab es zur Jahresmitte mehr zivile Opfer durch regierungsfreundliche Truppen als durch regierungsfeindliche Truppen. Das dritte Quartal des Jahres 2019 registrierte die höchste Anzahl an zivilen Opfern seit 2009, was hauptsächlich auf verstärkte Anzahl von Angriffen durch Selbstmordattentäter und IEDs (improvisierte Sprengsätze) der regierungsfeindlichen Seite – insbesondere der Taliban – sowie auf Gewalt in Zusammenhang mit den Präsidentschaftswahlen zurückzuführen ist. Das vierte Quartal 2019 verzeichnete, im Vergleich zum Jahr 2018, eine geringere Anzahl an zivilen Opfern; wenngleich sich deren Anzahl durch Luftangriffe, Suchoperationen und IEDs seit dem Jahr 2015 auf einem Rekordniveau befand (UNAMA 2.2020).
[…]
Die RS-Mission sammelt ebenfalls Informationen zu zivilen Opfern in Afghanistan, die sich gegenüber der Datensammlung der UNAMA unterscheiden, da die RS-Mission Zugang zu einem breiteren Spektrum an forensischen Daten und Quellen hat. Der RS-Mission zufolge ist im Jahr 2019 die Anzahl ziviler Opfer in den meisten Provinzen (19 von 34) im Vergleich zum Jahr 2018 gestiegen; auch haben sich die Schwerpunkte verschoben. So verzeichneten die Provinzen Kabul und Nangarhar weiterhin die höchste Anzahl ziviler Opfer. Im letzten Quartal schrieb die RS-Mission 91% ziviler Opfer regierungsfeindlichen Kräften zu (29% wurden den Taliban zugeschrieben, 11% ISKP, 4% dem Haqqani-Netzwerk und 47% unbekannten Aufständischen). 4% wurden regierungsnahen/-freundlichen Kräften zugeschrieben (3% der ANDSF und 1% den Koalitionskräften), während 5% anderen oder unbekannten Kräften zugeschrieben wurden. Diese Prozentsätze entsprechen in etwa den RS-Opferzahlen für Anfang 2019. Als Hauptursache für zivile Opfer waren weiterhin improvisierte Sprengsätze (43%), gefolgt von direkten (25%) und indirekten Beschüssen (5%) verantwortlich – dies war auch schon zu Beginn des Jahres 2019 der Fall (SIGAR 30.01.2020).
High-Profile Angriffe (HPAs)
Sowohl in den ersten fünf Monaten 2019, als auch im letzten Halbjahr 2019 führten Aufständische, Taliban und andere militante Gruppierungen, insbesondere in der Hauptstadtregion, weiterhin Anschläge auf hochrangige Ziele aus, um die Aufmerksamkeit der Medien auf sich zu ziehen, die Legitimität der afghanischen Regierung zu untergraben und die Wahrnehmung einer weit verbreiteten Unsicherheit zu schaffen (USDOD 12.2019; vgl. USDOD 6.2019). Das Haqqani-Netzwerk führte von September bis zum Ende des Berichtszeitraums keine HPA in der Hauptstadtregion durch. Die Gesamtzahl der öffentlichkeitswirksamen Angriffe ist sowohl in Kabul als auch im ganzen Land in den letzten anderthalb Jahren stetig zurückgegangen (USDOD 12.2019). Zwischen 01.06.2019 und 31.10.2019 fanden 19 HPAs in Kabul statt (Vorjahreswert: 17) (USDOD 12.2019), landesweit betrug die Zahl 88 (USDOD 12.2019).
Öffentlichkeitswirksame Angriffe durch regierungsfeindliche Elemente setzten sich im Berichtszeitraum (08.11.2019 - 06.02.2020) fort: acht Selbstmordanschläge wurden verzeichnet; im Berichtszeitraum davor (09.08. - 07.11.2019) wurden 31 und im Vergleichszeitraum des Vorjahres zwölf Selbstmordanschläge verzeichnet. Der Großteil der Anschläge richtetet sich gegen die ANDSF (afghanischen Verteidigungs- und Sicherheitskräfte) und die internationalen Streitkräfte; dazu zählte ein komplexer Angriff der Taliban auf den Militärflughafen Bagram im Dezember 2019. Im Februar 2020 kam es in Provinz Nangarhar zu einem sogenannten „green-on-blue-attack“: der Angreifer trug die Uniform der afghanischen Nationalarmee und eröffnete das Feuer auf internationale Streitkräfte, dabei wurden zwei US-Soldaten und ein Soldat der afghanischen Nationalarmee getötet. Zu einem weiteren Selbstmordanschlag auf eine Militärakademie kam es ebenso im Februar in der Stadt Kabul; bei diesem Angriff wurden mindestens sechs Personen getötet und mehr als zehn verwundet (UNGASC 17.3.2020). Dieser Großangriff beendete mehrere Monate relativer Ruhe in der afghanischen Hauptstadt (DS 11.02.2020; vgl. UNGASC 17.03.2020).
Die Taliban setzten außerdem improvisierte Sprengkörper in Selbstmordfahrzeugen gegen Einrichtungen der ANDSF in den Provinzen Kandahar, Helmand und Balkh ein (UNGASC 17.03.2020).
Anschläge gegen Gläubige und Kultstätten, religiöse Minderheiten
Nach Unterzeichnung des Abkommens zwischen den USA und den Taliban war es bereits Anfang März 2020 zu einem ersten großen Angriff des ISKP gekommen (BBC 06.03.2020; vgl. AJ 06.03.2020). Der ISKP hatte sich an den Verhandlungen nicht beteiligt (BBC 06.03.2020) und bekannte sich zu dem Angriff auf eine Gedenkfeier eines schiitischen Führers; Schätzungen zufolge wurden dabei mindestens 32 Menschen getötet und 60 Personen verletzt (BBC 06.03.2020; vgl. AJ 06.03.2020).
Am 25.03.2020 kam es zu einem tödlichen Angriff des ISKP auf eine Gebetsstätte der Sikh (Dharamshala) in Kabul. Dabei starben 25 Menschen, acht weitere wurden verletzt (NYT 26.03.2020; vgl. TN 26.03.2020; BBC 25.03.2020). Regierungsnahe Quellen in Afghanistan machen das Haqqani-Netzwerk für diesen Angriff verantwortlich, sie werten dies als Vergeltung für die Gewalt an Muslimen in Indien (AJ 27.03.2020; vgl. TTI 26.03.2020). Die Taliban distanzierten sich von dem Angriff (NYT 26.03.2020). Am Tag nach dem Angriff auf die Gebetsstätte detonierte eine magnetische Bombe beim Krematorium der Sikh, als die Trauerfeierlichkeiten für die getöteten Sikh-Mitglieder im Gange waren. Mindestens eine Person wurde dabei verletzt (TTI 26.03.2020; vgl. NYT 26.03.2020).
Regierungsfeindliche Gruppierungen
In Afghanistan sind unterschiedliche regierungsfeindliche Gruppierungen aktiv – insbesondere die Grenzregion zu Pakistan bleibt eine Zufluchtsstätte für unterschiedliche Gruppierungen, wie Taliban, Islamischer Staat, al-Qaida, Haqqani-Netzwerk, Lashkar-e Tayyiba, Tehrik-e Taliban Pakistan, sowie Islamic Movement of Uzbekistan (USDOD 12.2019; vgl. CRS 12.02.2019) und stellt nicht nur für die beiden Länder eine Sicherheitsherausforderung dar, sondern eine Bedrohung für die gesamte regionale Sicherheit und Stabilität (USDOD 12.2019):
Taliban
Der derzeitige Taliban-Führer ist nach wie vor Haibatullah Akhundzada (REU 17.08.2019; vgl. FA 03.01.2018) – Stellvertreter sind Mullah Mohammad Yaqub – Sohn des ehemaligen Taliban-Führers Mullah Omar – und Serajuddin Haqqani (CTC 1.2018; vgl. TN 26.05.2016) Sohn des Führers des Haqqani-Netzwerkes (TN 13.01.2017). Die Taliban bezeichnen sich selbst als das Islamische Emirat Afghanistan (VOJ o.D.). Die Regierungsstruktur und das militärische Kommando sind in der Layha, einem Verhaltenskodex der Taliban definiert (AAN 04.07.2011), welche zuletzt 2010 veröffentlicht wurde (AAN 06.12.2018). Die Taliban sind keine monolithische Organisation (NZZ 20.04.2020); nur allzu oft werden die Taliban als eine homogene Einheit angesehen, während diese aber eine lose Zusammenballung lokaler Stammesführer, unabhängiger Warlords sowie abgekoppelter und abgeschotteter Zellen sind (BR 05.03.2020).
Ein Bericht über die Rekrutierungspraxis der Taliban teilt die Taliban-Kämpfer in zwei Kategorien: professionelle Vollzeitkämpfer, die oft in den Madrassen rekrutiert werden, und Teilzeit-Kämpfer vor Ort, die gegenüber einem lokalen Kommandanten loyal und in die lokale Gesellschaft eingebettet sind (LI 29.06.2017). Die Gesamtstärke der Taliban wurde von einem Experten im Jahr 2017 auf über 200.000 geschätzt, darunter angeblich 150.000 Kämpfer (rund 60.000 Vollzeitkämpfer mobiler Einheiten, der Rest sei ein Teil der lokalen Milizen). Der Experte schätzte jedoch, dass die Zahl der Vollzeitkämpfer, die gleichzeitig in Afghanistan aktiv sind, selten 40.000 übersteigt (LI 23.08.2017). Im Jänner 2018 schätzte ein Beamter des US-Verteidigungsministeriums die Gesamtstärke der Taliban in Afghanistan auf 60.000 (NBC 30.01.2018). Laut dem oben genannten Experten werden die Kämpfe hauptsächlich von den Vollzeitkämpfern der mobilen Einheiten ausgetragen (LI 23.08.2017; vgl. AAN 03.01.2017; AAN 17.03.2017).
Die Taliban betreiben Trainingslager in Afghanistan. Seit Ende 2014 wurden 20 davon öffentlich zur Schau gestellt. Das Khalid bin Walid-Camp soll zwölf Ableger in acht Provinzen betreiben (Helmand, Kandahar, Ghazni, Ghor, Saripul, Faryab, Farah und Maidan Wardak). 300 Militärtrainer und Gelehrte sind dort tätig, und es soll möglich sein, in diesem Camp bis zu 2.000 Rekruten auf einmal auszubilden (LWJ 14.08.2019).
Die Mehrheit der Taliban sind immer noch Paschtunen, obwohl es eine wachsende Minderheit an Tadschiken, Usbeken, Belutschen und sogar mehreren hundert Hazara (einschließlich Schiiten) gibt (LI 23.08.2017). In einigen nördlichen Gebieten sollen die Taliban bereits überwiegend Nicht-Paschtunen sein, da sie innerhalb der lokalen Bevölkerung rekrutieren (LI 23.08.2017).
Haqqani-Netzwerk
Das seit 2012 bestehende Haqqani-Netzwerk ist eine teilautonome Organisation, Bestandteil der afghanischen Taliban und Verbündeter von al-Qaida (CRS 12.02.2019). Benannt nach dessen Begründer, Jalaluddin Haqqani (AAN 01.07.2010; vgl. USDOS 19.09.2018; vgl. CRS 12.02.2019), einem führenden Mitglied des antisowjetischen Jihad (1979-1989) und einer wichtigen Taliban-Figur; sein Tod wurde von den Taliban im September 2018 verlautbart. Der derzeitige Leiter ist dessen Sohn Serajuddin Haqqani, der seit 2015 als stellvertretender Leiter galt (CTC 1.2018).
Als gefährlichster Arm der Taliban hat das Haqqani-Netzwerk seit Jahren Angriffe in den städtischen Bereichen ausgeführt (NYT 20.08.2019) und wird für einige der tödlichsten Angriffe in Afghanistan verantwortlich gemacht (CRS 12.02.2019).
Islamischer Staat (IS/ISIS/ISIL/Daesh), Islamischer Staat Khorasan Provinz (ISKP)
Erste Berichte über den Islamischen Staat (IS, auch ISIS, ISIL oder Daesh genannt) in Afghanistan gehen auf den Sommer 2014 zurück (AAN 17.11.2014; vgl. LWJ 05.03.2015). Zu den Kommandanten gehörten zunächst oft unzufriedene afghanische und pakistanische Taliban (AAN 01.08.2017; vgl. LWJ 04.12.2017). Schätzungen zur Stärke des ISKP variieren zwischen 1.500 und 3.000 (USDOS 18.09.2018) bzw. 2.500 und 4.000 Kämpfern (UNSC 13.06.2019). Nach US-Angaben vom Frühjahr 2019 ist ihre Zahl auf 5.000 gestiegen. Auch soll der Islamische Staat vom zahlenmäßigen Anstieg der Kämpfer in Pakistan und Usbekistan sowie von aus Syrien geflohenen Kämpfern profitieren (BAMF 03.06.2019; vgl. VOA 21.05.2019).
Der ISKP geriet in dessen Hochburg in Ostafghanistan nachhaltig unter Druck (UNGASC 17.03.2020). Jahrelange konzentrierten sich Militäroffensiven der US-amerikanischen und afghanischen Streitkräfte auf diese Hochburgen. Auch die Taliban intensivierten in jüngster Zeit ihre Angriffe gegen den ISKP in diesen Regionen (NYT 02.12.2020; vgl. SIGAR 30.01.2020). So sollen 5.000 Talibankämpfer aus der Provinz Kandahar gekommen sein, um den ISKP in Nangarhar zu bekämpfen (DW 26.02.2020; vgl. MT 27.02.2020). Schlussendlich ist im November 2019 die wichtigste Hochburg des islamischen Staates in Ostafghanistan zusammengebrochen (NYT 02.12.2020; vgl. SIGAR 30.01.2020). Über 1.400 Kämpfer und Anhänger des ISKP, darunter auch Frauen und Kinder, kapitulierten. Zwar wurde der ISKP im November 2019 weitgehend aus der Provinz Nangarhar vertrieben, jedoch soll er weiterhin in den westlichen Gebieten der Provinz Kunar präsent sein (UNGASC 17.03.2020). Die landesweite Mannstärke des ISKP wurde seit Anfang 2019 von 3.000 Kämpfern auf 300 Kämpfer reduziert (NYT 02.12.2020).
49 Angriffe werden dem ISKP im Zeitraum 08.11.2019 - 06.02.2020 zugeschrieben, im Vergleichszeitraum des Vorjahres wurden 194 Vorfälle registriert. Im Berichtszeitraum davor wurden 68 Angriffe registriert (UNGASC 17.03.2020).
Die Macht des ISKP in Afghanistan ist kleiner als jene der Taliban; auch hat er viel Territorium verloren. Der ISKP war bzw. ist nicht Teil der Friedensverhandlungen mit den USA und ist weiterhin in der Lage, tödliche Angriffe durchzuführen (BBC 25.03.2020). Aufgrund des Territoriumsverlustes ist die Rekrutierung und Planung des ISKP stark eingeschränkt (NYT 02.12.2020).
Der ISKP verurteilt die Taliban als „Abtrünnige“, die nur ethnische und/oder nationale Interessen verfolgen (CRS 12.02.2019). Die Taliban und der Islamische Staat sind verfeindet. In Afghanistan kämpfen die Taliban seit Jahren gegen den IS, dessen Ideologien und Taktiken weitaus extremer sind als jene der Taliban (WP 19.08.2019; vgl. AP 19.08.2019). Während die Taliban ihre Angriffe weitgehend auf Regierungsziele und afghanische und internationale Sicherheitskräfte beschränken (AP 19.08.2019), zielt der ISKP darauf ab, konfessionelle Gewalt in Afghanistan zu fördern, indem sich Angriffe gegen Schiiten richten (WP 19.08.2019).
Al-Qaida und ihr verbundene Gruppierungen
Al-Qaida sieht Afghanistan auch weiterhin als sichere Zufluchtsstätte für ihre Führung, basierend auf langjährigen und engen Beziehungen zu den Taliban. Beide Gruppierungen haben immer wieder öffentlich die Bedeutung ihres Bündnisses betont (UNSC 15.01.2019). Unter der Schirmherrschaft der Taliban ist al-Qaida in den letzten Jahren stärker geworden; dabei wird die Zahl der Mitglieder auf 240 geschätzt, wobei sich die meisten in den Provinzen Badakhshan, Kunar und Zabul befinden. Mentoren und al-Qaida-Kadettenführer sind oftmals in den Provinzen Helmand und Kandahar aktiv (UNSC 13.06.2019).
Al-Qaida will die Präsenz in der Provinz Badakhshan stärken, insbesondere im Distrikt Shighnan, der an der Grenze zu Tadschikistan liegt, aber auch in der Provinz Paktika, Distrikt Barmal, wird versucht, die Präsenz auszubauen. Des Weiteren fungieren al-Qaida-Mitglieder als Ausbilder und Religionslehrer der Taliban und ihrer Familienmitglieder (UNSC 13.06.2019).
Im Rahmen der Friedensgespräche mit US-Vertretern haben die Taliban angeblich im Jänner 2019 zugestimmt, internationale Terrorgruppen wie Al-Qaida aus Afghanistan zu verbannen (TEL 24.01.2019).
2.2. Kabul
Letzte Änderung: 22.04.2020
Die Provinz Kabul liegt im Zentrum Afghanistans (PAJ o.D.) und grenzt an Parwan und Kapisa im Norden, Laghman im Osten, Nangarhar im Südosten, Logar im Süden sowie Wardak im Westen. Provinzhauptstadt ist Kabul-Stadt (NPS o.D.). Die Provinz besteht aus den folgenden Distrikten: Bagrami, Chahar Asyab, Dehsabz, Estalef, Farza, Guldara, Kabul, Kalakan, Khak-e-Jabar, Mir Bacha Kot, Musahi, Paghman, Qara Bagh, Shakar Dara und Surubi/Surobi/Sarobi (CSO 2019; vgl. IEC 2018).
Laut dem UNODC Opium Survey 2018 verzeichnete die Provinz Kabul 2018 eine Zunahme der Schlafmohnanbaufläche um 11% gegenüber 2017. Der Schlafmohnanbau beschränkte sich auf das Uzbin-Tal im Distrikt Surubi (UNODC/MCN 11.2018).
Kabul-Stadt – Geographie und Demographie
Kabul-Stadt ist die Hauptstadt Afghanistans und auch ein Distrikt in der Provinz Kabul. Es ist die bevölkerungsreichste Stadt Afghanistans, mit einer geschätzten Einwo