TE Vwgh Erkenntnis 2021/2/5 Ra 2018/19/0685

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Veröffentlicht am 05.02.2021
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Index

10/07 Verwaltungsgerichtshof
40/01 Verwaltungsverfahren
41/02 Passrecht Fremdenrecht

Norm

AsylG 2005 §20 Abs1
AsylG 2005 §20 Abs2
AVG §37
VwGG §42 Abs2 Z1
VwGVG 2014 §24
VwGVG 2014 §28
VwGVG 2014 §28 Abs3

Betreff

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch die Vorsitzende Senatspräsidentin Dr. Büsser sowie den Hofrat Dr. Pürgy und die Hofrätin Dr.in Sembacher als Richter, unter Mitwirkung des Schriftführers Mag. Schara, über die Revision des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl in 1030 Wien, Modecenterstraße 22, gegen den Beschluss des Bundesverwaltungsgerichtes vom 22. Oktober 2018, W215 1254743-2/10E, W215 1268140-2/10E, W215 1268141-2/10E, W215 1268142-2/11E, betreffend Angelegenheiten nach dem AsylG 2005 und dem FPG (mitbeteiligte Parteien: 1. I G, 2. S G, 3. U G, 4. A G, alle in W und alle vertreten durch Dr. Christian Schmaus, Rechtsanwalt in 1060 Wien, Chwallagasse 4/11), zu Recht erkannt:

Spruch

Der angefochtene Beschluss wird wegen Rechtswidrigkeit seines Inhalts aufgehoben.

Begründung

I.

1        Die mitbeteiligten Parteien sind Angehörige der Russischen Föderation, Teilrepublik Dagestan. Der Erstmitbeteiligte und die Zweitmitbeteiligte sind miteinander verheiratet. Der Drittmitbeteiligte und der Viertmitbeteiligte sind ihre minderjährigen Kinder.

2        Der Erstmitbeteiligte stellte am 3. Mai 2004 einen Asylantrag, der mit Bescheid vom 22. Oktober 2004 des Bundesasylamts abgewiesen wurde. Die Zweit- bis Viertmitbeteiligten stellten am 6. Dezember 2005 Asylanträge, die mit Bescheiden vom 1. Februar 2006 vom Bundesasylamt ebenso abgewiesen wurden.

3        Die dagegen erhobenen Berufungen wies der Unabhängige Bundesasylsenat mit Bescheiden vom 3. Dezember 2007 hinsichtlich der Nichtzuerkennung des Status der Asylberechtigten ab. Er stellte jedoch fest, dass gemäß § 8 Abs. 1 Asylgesetz 1997 die Zurückweisung, Zurückschiebung oder Abschiebung der mitbeteiligten Parteien in die Russische Föderation nicht zulässig sei und erteilte eine befristete Aufenthaltsberechtigung bis zum 3. Dezember 2008.

4        Die Aufenthaltsberechtigungen wurden antragsgemäß bis zum 14. Dezember 2010 verlängert. Der Erstmitbeteiligte war ab 12. Oktober 2011, die Zweit- bis Viertmitbeteiligte waren ab 9. Mai 2012 nicht mehr im Bundesgebiet gemeldet bzw. unbekannten Aufenthalts.

5        Am 23. Februar 2017 meldeten sich die mitbeteiligten Parteien wieder in Österreich an und stellten am 27. Februar 2017 Verlängerungsanträge.

6        Das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (BFA) leitete ein Verfahren zur Aberkennung des Schutzes gemäß § 9 Asylgesetz 2005 (AsylG 2005) ein, weil es vom Wegfall der Voraussetzungen zur Zuerkennung des subsidiären Schutzes ausging.

7        Dazu wurden die mitbeteiligten Parteien - soweit relevant - von einem männlichen Organwalter des BFA einvernommen. Im Rahmen ihrer Einvernahme gaben sie an, sich zwischenzeitlich in Dagestan aufgehalten zu haben. Der Erstmitbeteiligte brachte vor, dass im August 2016 vier bewaffnete Männer versucht hätten, die Zweitmitbeteiligte zu vergewaltigen. Die Zweitmitbeteiligte befürchtete, bei einer Rückkehr vergewaltigt zu werden.

8        Mit Bescheiden vom 24. Mai 2017 erkannte das BFA den mitbeteiligten Parteien den Status der subsidiär Schutzberechtigten von Amts wegen gemäß § 9 Abs. 1 AsylG 2005 ab, entzog ihnen jeweils die befristete Aufenthaltsberechtigung, erteilte keine Aufenthaltstitel gemäß § 57 AsylG 2005, erließ jeweils eine Rückkehrentscheidung und setzte die Frist zur freiwilligen Ausreise mit 14 Tagen fest.

Begründend führte das BFA zusammengefasst aus, dass auf Grund einer nachhaltigen Verbesserung der Lage in Dagestan die Voraussetzungen zur Zuerkennung von subsidiärem Schutz nicht mehr vorlägen.

9        Nach Beschwerdeerhebung wurde die Rechtssache vom Bundesverwaltungsgericht (BVwG) zunächst einem männlichen Richter der Gerichtsabteilung W147 und - nach einer Unzuständigkeitseinrede - einer weiblichen Richterin der Gerichtsabteilung W215 zugewiesen.

10       Mit dem angefochtenen Beschluss hob das BVwG die Bescheide vom 24. Mai 2017 gemäß § 28 Abs. 3 zweiter Satz VwGVG auf und verwies die Sachen zur neuerlichen Entscheidung an das BFA zurück. Die Revision gegen diesen Beschluss erklärte das BVwG gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG für nicht zulässig.

11       Begründend führte das BVwG aus, die Zweitmitbeteiligte habe bei ihrer Einvernahme vor dem BFA unter anderem angegeben, sie befürchte im Fall der Rückkehr eine Vergewaltigung. Im Sinn des § 20 Abs. 1 AsylG 2005 wäre es daher unentbehrlich, dass die Befragung der Zweitmitbeteiligten durch eine Referentin und Dolmetscherin gleichen Geschlechts erfolge. Weiters habe die Behörde gemäß § 34 Abs. 4 erster Satz AsylG 2005 Anträge von Familienmitgliedern gesondert zu prüfen. Die Verfahren müssten daher unter einem geführt werden, weshalb auch in Hinblick auf § 28 Abs. 3 zweiter Satz VwGVG das Ergebnis der Beschwerden der Familienangehörigen das „Gleiche zu sein hat“ und die Angelegenheiten aus diesem Grund ebenfalls zu beheben und zur Erlassung neuer Bescheide an das BFA zurückzuverweisen seien.

12       Dagegen richtet sich die vorliegende Amtsrevision, die zu ihrer Zulässigkeit vorbringt, es fehle Rechtsprechung dahingehend, ob im Aberkennungsverfahren § 20 und § 34 AsylG 2005 anzuwenden seien. Auch liege eine Abweichung von der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes vor, weil die Aufhebung und Zurückverweisung nicht den in der Rechtsprechung entwickelten Voraussetzungen zu § 28 Abs. 3 VwGVG entspreche.

13       Die mitbeteiligten Parteien erstatteten eine Revisionsbeantwortung, in der sie die kostenpflichtige Zurück-, in eventu Abweisung der Revision beantragen.

II.

Der Verwaltungsgerichtshof hat in einem gemäß § 12 Abs. 1 Z 2 VwGG gebildeten Senat erwogen:

14       Die Revision ist in Hinblick auf die aufgezeigte Abweichung von der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes zulässig. Sie erweist sich aus diesem Grund auch als berechtigt.

15       Nach ständiger Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes ist in § 28 VwGVG ein prinzipieller Vorrang der meritorischen Entscheidungspflicht der Verwaltungsgerichte normiert, weswegen die in § 28 Abs. 3 zweiter Satz VwGVG vorgesehene Möglichkeit der Kassation eines verwaltungsbehördlichen Bescheides streng auf ihren gesetzlich zugewiesenen Raum zu beschränken ist (vgl. grundlegend VwGH 26.6.2014, Ro 2014/03/0063; sowie aus der ständigen Rechtsprechung etwa VwGH 30.11.2020, Ra 2020/19/0284, mwN).

16       Von der Möglichkeit der Zurückverweisung kann nur bei krassen bzw. besonders gravierenden Ermittlungslücken Gebrauch gemacht werden; eine Zurückverweisung der Sache an die Verwaltungsbehörde zur Durchführung notwendiger Ermittlungen kommt daher nur dann in Betracht, wenn die Verwaltungsbehörde jegliche erforderliche Ermittlungstätigkeit unterlassen hat, wenn sie zur Ermittlung des maßgebenden Sachverhaltes (vgl. § 37 AVG) lediglich völlig ungeeignete Ermittlungsschritte gesetzt oder bloß ansatzweise ermittelt hat. Gleiches gilt, wenn konkrete Anhaltspunkte annehmen lassen, dass die Verwaltungsbehörde (etwa schwierige) Ermittlungen unterlassen hat, damit diese dann durch das Verwaltungsgericht vorgenommen werden (vgl. VwGH 14.12.2016, Ro 2016/19/0005, sowie die Nachweise bei Fister/Fuchs/Sachs, Verwaltungsgerichtsverfahren2 [2018] § 28 VwGVG Anm. 13 f).

17       Sind somit (lediglich) ergänzende Ermittlungen vorzunehmen, liegt die (ergänzende) Feststellung des maßgeblichen Sachverhaltes durch das Verwaltungsgericht im Interesse der Raschheit im Sinn des § 28 Abs. 2 Z 2 erster Fall VwGVG, zumal diesbezüglich nicht bloß auf die voraussichtliche Dauer des verwaltungsgerichtlichen Verfahrens alleine, sondern auf die Dauer des bis zur meritorischen Entscheidung insgesamt erforderlichen Verfahrens abzustellen ist.

Nur mit dieser Sichtweise kann ein dem Ausbau des Rechtsschutzes im Sinn einer Verfahrensbeschleunigung Rechnung tragendes Ergebnis erzielt werden, führt doch die mit der verwaltungsgerichtlichen Kassation einer verwaltungsbehördlichen Entscheidung verbundene Eröffnung eines neuerlichen Rechtszugs gegen die abermalige verwaltungsbehördliche Entscheidung an ein Verwaltungsgericht insgesamt zu einer Verfahrensverlängerung (vgl. VwGH 30.11.2020, Ra 2020/19/0284, mwN).

18       Im vorliegenden Fall begründete das BVwG die Aufhebung der angefochtenen Bescheide und die Zurückverweisung der Angelegenheit an die Behörde zur Erlassung neuer Bescheide damit, dass die Befragung der Zweitmitbeteiligten - entgegen § 20 Abs. 1 AsylG 2005 - nicht durch eine Referentin und Dolmetscherin gleichen Geschlechts erfolgt wäre. Eine ernsthafte Prüfung eines Antrages und die Feststellung des maßgeblichen Sachverhalts solle jedoch nicht erst bei der „Beschwerdebehörde“ beginnen. Das BVwG verwies zudem auf § 34 Abs. 4 erster Satz AsylG 2005. Danach müsste auch in Hinblick auf § 28 Abs. 3 zweiter Satz VwGVG das Ergebnis der Beschwerden der Familienangehörigen das „Gleiche“ sein. Die Angelegenheiten seien aus diesem Grund ebenfalls zu beheben und zur Erlassung neuer Bescheide an die Behörde zurückzuverweisen gewesen.

19       Das BVwG zeigt damit keine krassen bzw. besonders gravierenden Ermittlungsmängel auf, die im Sinn der dargestellten Rechtsprechung eine auf § 28 Abs. 3 zweiter Satz VwGVG gestützte Behebung und Zurückverweisung rechtfertigen könnten.

20       Zunächst ergibt sich schon anhand der oben dargestellten Grundsätze unzweifelhaft, dass nicht jede einer Behörde unterlaufende Verletzung von Verfahrensvorschriften das Verwaltungsgericht zur Vorgangsweise nach § 28 Abs. 3 zweiter Satz VwGVG berechtigt (vgl. VwGH 10.8.2018, Ra 2018/20/0314).

21       Ebenso hat der Verwaltungsgerichtshof in Zusammenhang mit einer Missachtung der Bestimmungen des § 20 Abs. 1 AsylG 2005 durch das BFA ausgesprochen, dass ein solcher vor der Verwaltungsbehörde unterlaufener Fehler durch ein ordnungsgemäß vor dem Verwaltungsgericht geführtes Verfahren saniert werden kann (vgl. VwGH 6.9.2018, Ra 2018/18/0191).

22       Vor allem ist durch die Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes auch geklärt, dass das Erfordernis weiterer Vernehmungen (hier: die Einvernahme der Zweitmitbeteiligten) für sich genommen eine Aufhebung und Zurückverweisung nicht rechtfertigt (vgl. nochmals VwGH Ra 2020/19/0284).

23       Im vorliegenden Fall ergeben sich somit keine krassen bzw. besonders gravierenden Ermittlungslücken im Sinn der oben dargestellten Rechtsprechung.

24       Indem das BVwG dies verkannte und eine Entscheidung gemäß § 28 Abs. 3 zweiter Satz VwGVG traf, belastete es seinen Beschluss mit inhaltlicher Rechtswidrigkeit, weshalb dieser gemäß § 42 Abs. 2 Z 1 VwGG aufzuheben war.

25       Da im vorliegenden Fall der (vom BVwG angenommene) Verstoß gegen § 20 Abs. 1 AsylG 2005 für sich genommen jedenfalls keine Aufhebung und Zurückverweisung gemäß § 28 Abs. 3 zweiter Satz VwGVG zu begründen vermag, kann die Frage, ob § 20 Abs. 1 AsylG 2005 im Aberkennungsverfahren anzuwenden ist, bei diesem Ergebnis dahingestellt bleiben. Das gilt ebenso für die vom BVwG in seiner Begründung in Hinblick auf den Erst- sowie den Dritt- und Viertmitbeteiligten auch herangezogene Bestimmung des § 34 AsylG 2005 (vgl. zu deren Anwendbarkeit im Aberkennungsverfahren im Übrigen VwGH 23.10.2019, Ra 2019/19/0059).

Wien, am 5. Februar 2021

Schlagworte

Sachverhalt Sachverhaltsfeststellung Verfahrensmangel

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:VWGH:2021:RA2018190685.L00

Im RIS seit

23.03.2021

Zuletzt aktualisiert am

23.03.2021
Quelle: Verwaltungsgerichtshof VwGH, http://www.vwgh.gv.at
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