TE Vfgh Erkenntnis 1995/9/28 G249/94, G250/94, G251/94, G252/94, G253/94, G254/94

JUSLINE Entscheidung

Veröffentlicht am 28.09.1995
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Index

16 Medienrecht
16/01 Medien, Presseförderung

Norm

B-VG Art7 Abs1 / Gesetz
B-VG Art140 Abs1 / Individualantrag
StGG Art5
StGG Art13
EMRK 1. ZP Art1
EMRK Art6 Abs1 / Verfahrensgarantien
EMRK Art6 Abs2
EMRK Art10
StEG §2 Abs1 litb
MedienG §7b
StPO §393a

Leitsatz

Zulässigkeit der Individualanträge auf Aufhebung des Schutzes der Unschuldsvermutung im Medienrecht; Abweisung der Anträge; keine Verletzung der Meinungsäußerungsfreiheit durch das durch Ersatzansprüche der Betroffenen sanktionierte Verbot der medialen Vorverurteilung; Notwendigkeit zum Schutz der Rechtsprechung und Verhältnismäßigkeit im Sinne der Vorbehalte des Art10 Abs2 EMRK gegeben; keine Gleichheitsverletzung im Hinblick auf Regelungen über Kostenersatz für Verteidiger und Haftentschädigungen bei Freispruch; keine Verletzung des Eigentumsrechts; zivilrechtlicher Entschädigungsanspruch angemessenes Mittel zur Erreichung des angestrebten Zieles der Reinheit der Rechtspflege

Spruch

Den Anträgen wird nicht Folge gegeben.

Begründung

Entscheidungsgründe:

1.1. Mit den zu G 249 bis 254/94 protokollierten - im wesentlichen gleichlautend begründeten - ("Individual"-)Anträgen gemäß Art140 B-VG beantragen neun Medieninhaber iSd §1 Abs1 Z8 MedienG die Aufhebung des §7 b MedienG idF BGBl. 20/1993 zur Gänze, in eventu näher bezeichneter Wortfolgen in §7 b Abs2 Z5 leg.cit. als verfassungswidrig, und zwar wegen Verstoßes gegen Art13 StGG iVm Art10 EMRK, Art7 Abs1 B-VG und Art5 StGG iVm Art1 Abs1 des 1. ZPzEMRK.

1.2.1. Die zur Äußerung eingeladene Bundesregierung nahm in einem Schriftsatz zu allen Anträgen Stellung.

Sie begehrte, "der Verfassungsgerichtshof wolle die Anträge ... mangels Antragslegitimation zurückweisen", weil es "an der Unmittelbarkeit und Aktualität des Eingriffs in die Rechtssphäre der Antragsteller" fehle, in eventu aber aussprechen, daß die angefochtene Vorschrift nicht als verfassungswidrig aufgehoben werde.

1.2.2. Dazu langte eine schriftliche Replik der Antragsteller ein.

1.3. Die für das gegenständliche Verfahren relevanten Bestimmungen der Mediengesetznovelle 1992, BGBl. 20/1993 lauten (samt Überschriften):

"Schutz der Unschuldsvermutung

§7 b (1) Wird in einem Medium eine Person, die einer gerichtlich strafbaren Handlung verdächtig, aber nicht rechtskräftig verurteilt ist, als überführt oder schuldig hingestellt oder als Täter dieser strafbaren Handlung und nicht bloß als tatverdächtig bezeichnet, so hat der Betroffene gegen den Medieninhaber (Verleger) Anspruch auf eine Entschädigung für die erlittene Kränkung. Der Entschädigungsbetrag darf 200 000 S nicht übersteigen; im übrigen ist §6 Abs1 zweiter Satz anzuwenden.

(2) Der Anspruch nach Abs1 besteht nicht, wenn

1. es sich um einen wahrheitsgetreuen Bericht über eine Verhandlung in einer öffentlichen Sitzung des Nationalrates, des Bundesrates, der Bundesversammlung, eines Landtages oder eines Ausschusses eines dieser allgemeinen Vertretungskörper handelt,

2. es sich um einen wahrheitsgetreuen Bericht über ein Strafurteil erster Instanz handelt und dabei zum Ausdruck gebracht wird, daß das Urteil nicht rechtskräftig ist,

3. der Betroffene öffentlich oder gegenüber einem Medium die Tat eingestanden und dies nicht widerrufen hat,

4. es sich um eine unmittelbare Ausstrahlung im Rundfunk (Live-Sendung) handelt, ohne daß ein Mitarbeiter oder Beauftragter des Rundfunks die gebotene journalistische Sorgfalt außer acht gelassen hat, oder

5. es sich um eine wahrheitsgetreue Wiedergabe der Äußerung eines Dritten handelt und ein überwiegendes Interesse der Öffentlichkeit an der Kenntnis der zitierten Äußerung bestanden hat."

"Gemeinsame Bestimmungen

§8 (1) Den Anspruch auf einen Entschädigungsbetrag nach den §§6, 7, 7 a oder 7 b kann der Betroffene in dem strafgerichtlichen Verfahren, an dem der Medieninhaber (Verleger) als Beschuldigter oder nach dem §41 Abs6 beteiligt ist, bis zum Schluß der Hauptverhandlung oder Verhandlung geltend machen. Kommt es nicht zu einem solchen strafgerichtlichen Verfahren, so kann der Anspruch mit einem selbständigen Antrag geltend gemacht werden.

(2) Das Gericht ist bei der Entscheidung über einen Entschädigungsanspruch nach den §§6, 7, 7 a oder 7 b an die rechtliche Beurteilung des Betroffenen nicht gebunden. Hat ein Betroffener auf Grund einer Veröffentlichung nach mehreren Bestimmungen Anspruch auf Entschädigung, so ist ein einziger Entschädigungsbetrag zu bestimmen, der das Höchstmaß des höchsten in Betracht kommenden Entschädigungsanspruchs nicht übersteigen darf; das Zusammentreffen mehrerer Ansprüche ist bei der Bemessung zu berücksichtigen.

(3) Das Vorliegen der Ausschlußgründe nach §6 Abs2, §7 Abs2, §7 a Abs3 und §7 b Abs2 hat der Medieninhaber (Verleger) zu beweisen. Beweise darüber sind nur aufzunehmen, wenn sich der Medieninhaber (Verleger) auf einen solchen Ausschlußgrund beruft."

"Selbständiges Entschädigungsverfahren

§8 a (1) Für das Verfahren über einen selbständigen Antrag gelten, soweit in diesem Bundesgesetz nichts anderes bestimmt ist, die Bestimmungen für das strafgerichtliche Verfahren auf Grund einer Privatanklage dem Sinne nach.

(2) Der selbständige Antrag muß bei sonstigem Verlust des Anspruchs binnen sechs Monaten nach Beginn der dem Anspruch zugrundeliegenden Verbreitung bei dem nach §41 Abs2 zuständigen Strafgericht eingebracht werden. Die Verhandlung und die Entscheidung in erster Instanz obliegen dem Einzelrichter. Dieser hat auch die sonst der Ratskammer nach den §§485 und 486 StPO zukommenden Entscheidungen zu treffen; gegen eine Entscheidung, womit das Verfahren eingestellt wird, steht dem Antragsteller die Beschwerde an den übergeordneten Gerichtshof zu. Die Öffentlichkeit der Verhandlung ist auf Verlangen des Antragstellers jedenfalls auszuschließen, soweit Tatsachen des höchstpersönlichen Lebensbereiches erörtert werden.

(3) Im Verfahren über einen selbständigen Antrag sind die Bestimmungen der Zivilprozeßordnung (§§63 bis 73 ZPO) über die Verfahrenshilfe mit der Maßgabe sinngemäß anzuwenden, daß den Parteien gegen Beschlüsse in Verfahrenshilfeangelegenheiten die Beschwerde an den übergeordneten Gerichtshof zusteht.

(4) Im Urteil, in dem ein Entschädigungsbetrag zuerkannt wird, ist eine Leistungsfrist von vierzehn Tagen festzusetzen. Das Urteil kann dem Grunde und der Höhe nach mit Berufung angefochten werden. Die Zuerkennung ist ein Exekutionstitel im Sinn des §1

EO.

(5) Im Verfahren über einen selbständigen Antrag auf Entschädigung nach den §§6, 7, 7 a oder 7 b hat das Gericht auf Antrag des Betroffenen die Veröffentlichung einer kurzen Mitteilung über das eingeleitete Verfahren anzuordnen, wenn anzunehmen ist, daß die Anspruchsvoraussetzungen vorliegen; im übrigen ist §37 sinngemäß anzuwenden. Ist eine solche Veröffentlichung erfolgt und das Verfahren beendet worden, ohne daß dem Antragsteller eine Entschädigung zuerkannt worden ist, so ist §39 Abs2 bis 6 sinngemäß anzuwenden.

(6) Im Urteil, in dem auf Grund eines selbständigen Antrags eine Entschädigung nach den §§6, 7, 7 a oder 7 b zuerkannt wird, ist auf Antrag des Betroffenen auf Urteilsveröffentlichung zu erkennen; §34 ist sinngemäß anzuwenden."

2. Über die zur gemeinsamen Entscheidung verbundenen Anträge wurde erwogen:

2.1. Zu den Prozeßvoraussetzungen:

2.1.1. Zur Antragslegitimation wird in den Anfechtungsschriften ausgeführt, daß die angefochtene gesetzliche Bestimmung ein Verbot normiere, dessen unmittelbare Normadressaten die antragstellenden Medieninhaber seien. Einen anderen zumutbaren Weg als die Antragstellung nach Art140 Abs1 letzter Satz B-VG räume die Rechtsordnung nicht ein.

2.1.2. Der Verfassungsgerichtshof vertritt seit seinem Beschluß VfSlg. 8009/1977 in ständiger Rechtsprechung den Standpunkt, die Antragslegitimation nach Art140 Abs1 letzter Satz B-VG setze voraus, daß die bekämpfte Bestimmung die (rechtlich geschützten) Interessen des Antragstellers nicht bloß potentiell, sondern aktuell beeinträchtigen muß und daß der durch Art140 Abs1 B-VG dem einzelnen eingeräumte Rechtsbehelf dazu bestimmt ist, Rechtsschutz gegen rechtswidrige generelle Normen nur insoweit zu gewähren, als ein anderer zumutbarer Weg hiefür nicht zur Verfügung steht (zB VfSlg. 10481/1985, 11684/1988).

Angesichts der Grundsatzentscheidung des Bundesverfassungsgesetzgebers, die Initiative zur Prüfung genereller Normen - vom Standpunkt des Betroffenen aus - zu mediatisieren, wenn die Rechtsverfolgung vor Gerichten stattfindet, kommt es wesentlich darauf an, daß sich im Zug eines derartigen Verfahrens Gelegenheit bietet, verfassungsrechtliche Bedenken gegen präjudizielle Vorschriften im Wege der ordentlichen Gerichte an den Verfassungsgerichtshof heranzutragen (vgl. VfSlg. 9170/1981, 9285/1981, 10592/1985, 11889/1988). Andernfalls gelangte man zu einer Doppelgleisigkeit des Rechtsschutzes, die mit dem Charakter eines sog. Individualantrags als eines subsidiären Rechtsbehelfs nicht in Einklang stünde (vgl. zB VfSlg. 9939/1984, 11454/1987). Ob und inwieweit allerdings das Gericht auf die Kritik der Partei des Gerichtsverfahrens an der Verfassungsmäßigkeit von Gesetzesbestimmungen eingeht, ist hiebei nicht ausschlaggebend (vgl. VfSlg. 11890/1988, 12046/1989). Eine verbotene Handlung zu begehen, um sich in einem daraufhin eingeleiteten Verfahren mit der Behauptung zur Wehr zu setzen, daß die verletzte Norm verfassungswidrig sei, kann dem Normunterworfenen aber nach der ständigen Judikatur des Verfassungsgerichtshofs nicht zugemutet werden (vgl. VfSlg. 11853/1988 und 12379/1990).

2.1.3. Die bekämpfte Bestimmung des §7 b Abs1 MedienG normiert - entgegen der von der Bundesregierung zur Antragslegitimation vertretenen Auffassung (s. im übrigen aber S 20 der Äußerung: "§7 b MedienG untersagt in seinem Kern, ...") - der Sache nach tatsächlich ein unter der Sanktion der Verpflichtung zur Leistung einer Geldentschädigung für erlittene Kränkung stehendes Verbot, in einem Medium eine Person, die einer gerichtlich strafbaren Handlung verdächtig, aber nicht rechtskräftig verurteilt ist, als überführt oder schuldig hinzustellen oder als Täter dieser strafbaren Handlung und nicht bloß als tatverdächtig zu bezeichnen, es sei denn, daß einer der in Abs2 leg.cit. angeführten (Rechtfertigungs-)Gründe vorliegt. Dieses Verbot begrenzt und beschränkt die Antragsteller in ihrer Meinungsäußerungsfreiheit und trifft sie darum in ihrer Rechtssphäre, und zwar aktuell, weil die strittige Vorschrift (mit ihren Ausnahmen) sich an den Medieninhaber selbst wendet, ihm jedenfalls eine bestimmte Berichterstattung untersagt, keiner weiteren Konkretisierung bedarf und jede einschlägige mediale Äußerung unmittelbar erfaßt.

Nach der verfassungsgerichtlichen Rechtsprechung steht hier auch kein anderer zumutbarer Weg zur Verfügung, die Frage der Verfassungsmäßigkeit der bekämpften Vorschrift an den Verfassungsgerichtshof heranzutragen: Der Gerichtshof hält an seiner bisherigen Auffassung fest, daß es einem Normunterworfenen nicht zumutbar ist, Verbotenes zu tun, um dann erst in einem gegen ihn angestrengten Verfahren einzuwenden, daß die Verbotsnorm verfassungswidrig sei; insbesondere darf der Normunterworfene nicht auf einen Medienstrafprozeß verwiesen werden, den er nur provozieren kann, indem er sich in einer gesetzlich verpönten Weise verhält (vgl. VfSlg. 8396/1978, 8464/1978, 11684/1988, 11853/1988, 12379/1990; VfGH 11.3.1994 G73/93 ua.).

2.1.4. Die Anträge sind daher - und zwar wegen des untrennbaren Zusammenhangs der Absätze 1 und 2 des bekämpften Gesetzesparagraphen - zur Gänze zulässig.

2.2. Zur Sache selbst:

2.2.1. Zu Art13 StGG iVm Art10 EMRK.

2.2.1.1. Die Antragsteller bringen - zusammengefaßt - vor:

Zur Auslegung des Art10 EMRK im Spannungsverhältnis zwischen Unschuldsvermutung und Meinungsfreiheit sei auch der europäische Standard heranzuziehen. Nach der Judikatur des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte seien die Voraussetzungen für eine Beschränkung des Rechts auf freie Meinungsäußerung gemäß Art10 Abs2 EMRK eng auszulegen. Die durch Art6 Abs2 EMRK garantierte Unschuldsvermutung sei im Zusammenhang mit dem Grundsatz eines fairen Verfahrens zu sehen, sie greife aber erst mit dem Beginn irgendeines staatlichen Verfahrens zur Aufklärung einer strafbaren Handlung. Man könne nicht ohne weiteres davon ausgehen, daß die in Art10 Abs2 EMRK genannten Zwecke, die eine Einschränkung der Meinungsfreiheit rechtfertigen, ein aktives Tun des Staates erforderlich machen. Grundsätzlich habe der Gesetzgeber - ebenso wie die Vollziehung - der Vertragsstaaten bei der Beurteilung der Frage, ob ein dringendes soziales Bedürfnis (zur Einschränkung der Meinungsfreiheit) bestehe, einen weiten Ermessensspielraum. Doch enthalte der mit Art10 Abs2 EMRK geschaffene Vorbehalt Voraussetzungen, die diesen Spielraum abstecken. Die Wahrnehmung des Spielraums stehe nicht im Belieben der einzelnen Vertragsstaaten, sondern unterliege letztlich einer Kontrolle der Konventionsorgane, und zwar in Beziehung sowohl auf die Gesetzgebung als auch auf Einzelentscheidungen der Behörden und der Gerichte. Die Europäische Kommission für Menschenrechte habe in bisher anhängig gewesenen Fällen eine Verletzung des Art6 Abs1 EMRK durch Medienberichterstattung verneint. Die Antragsteller gehen in der Folge auch auf den Schutz der Unschuldsvermutung vor Verletzungen durch Private in der Bundesrepublik Deutschland und in der Schweiz ausführlich ein. Sie vertreten den Standpunkt, daß die erörterten Systeme in ihrem Kern letztlich eine Abwägung zwischen den Rechtsgütern Pressefreiheit und Persönlichkeitsrecht im Einzelfall vorsehen. Es solle eine "Absolutsetzung" eines dieser Rechte verhindert werden, weil dies nur zur Unterminierung des anderen Rechts führen könne. Ein europäischer Standard in der Frage "Unschuldsvermutung und Pressefreiheit" sei darin zu erblicken, daß ein demokratischer Pluralismus und ein freiheitlicher Rechtsstaat nur bei Beachtung und Respektierung aller Menschenrechte bestehen könne. Die isolierte Betrachtung eines einzelnen Menschenrechts und die "Absolutsetzung" dieses Rechts im Verhältnis zu anderen Menschenrechten widerspreche dem universalistischen Prinzip von Demokratie und Menschenrechten. Grundsätzlich sei der Schutz der Unschuldsvermutung als zwingendes soziales Bedürfnis iS der Judikatur des Verfassungsgerichtshofs und der Straßburger Instanzen zu den Einschränkungen des Rechts auf freie Meinungsäußerung anzuerkennen, wenn bereits ein Verfahren zur Aufklärung einer Straftat eingeleitet worden sei. Fraglich bleibe nur, ob §7 b Mediengesetz zur Erreichung des in Art10 Abs2 EMRK genannten rechtfertigenden Zwecks des Schutzes des guten Rufs oder der Rechte anderer bzw. des Ansehens und der Unparteilichkeit der Rechtsprechung verhältnismäßig iS der Judikatur des Verfassungsgerichtshofs und der Straßburger Instanzen sei. Dabei müsse beachtet werden, daß die Unschuldsvermutung auf das Verhalten privater Dritter nur mittelbar wirken könne. Da §7 b Mediengesetz den Schutz der Unschuldsvermutung gegenüber dem Recht auf freie Meinungsäußerung "absolut setze", werde Art10 EMRK jedenfalls dann verletzt, wenn ein öffentliches Informationsinteresse bestehe. §7 b Mediengesetz sei überall dort zu beachten, wo eine Individualisierung iZm einer strafbaren Handlung stattfinde. Diesen individualisierten Personen gegenüber greife die Unschuldsvermutung. Sie dürfen, ausgenommen in den Fällen des §7 b Abs2 Mediengesetz, vor einer rechtskräftigen Verurteilung einer gerichtlich strafbaren Handlung weder als überführt oder schuldig hingestellt noch als Täter bezeichnet werden. Immer dann, wenn aufgrund des Berichts eine handelnde Person individualisiert werden könne, sei dem Subjekt eines jeden in den Medien veröffentlichten Satzes, der eine strafbare Handlung zum Gegenstand habe, ein Adjektiv beizugeben, das sicherstelle, daß es sich bei dem Vorwurf bloß um einen Tatverdacht handle. Weiters sei in derartigen Fällen statt des Indikativs der Konjunktiv oder eine sonstige Umschreibung zu verwenden, um den noch nicht rechtskräftig verurteilten "mutmaßlichen Täter" nicht als einer gerichtlich strafbaren Handlung überführt oder schuldig hinzustellen. Dazu suchen die Antragsteller darzutun, daß eine Einhaltung des §7 b Mediengesetz eine objektive Berichterstattung über strafbare Handlungen geradezu verhindere.

2.2.1.2.1. Gemäß Art13 Abs1 StGG hat jedermann das Recht, durch Wort, Schrift, Druck oder durch bildliche Darstellung seine Meinung innerhalb der gesetzlichen Schranken frei zu äußern. Das Recht der freien Meinungsäußerung ist danach zwar nur innerhalb der (einfach-)gesetzlichen Schranken gewährleistet, doch darf auch ein solches Gesetz keinen Inhalt haben, der den Wesensgehalt des Grundrechts einschränkt (vgl. VfSlg. 6166/1970). Eine nähere Bestimmung dieses Wesensgehalts findet sich nunmehr in der Verfassungsnorm des Art10 EMRK, die den Anspruch auf freie Meinungsäußerung bekräftigt und klarstellt, daß dieses Recht die Freiheit der Meinung und die Freiheit zum Empfang und zur Mitteilung von Nachrichten oder Ideen ohne Eingriffe öffentlicher Behörden und ohne Rücksicht auf Landesgrenzen einschließt. Art10 EMRK erlaubt aber (in seinem Abs2), daß die Ausübung dieser Freiheiten, da sie Pflichten und Verantwortung mit sich bringt, bestimmten, vom Gesetz vorgesehenen Formvorschriften, Bedingungen, Einschränkungen oder Strafdrohungen unterworfen wird, wie sie in einer demokratischen Gesellschaft im Interesse der nationalen Sicherheit, der territorialen Unversehrtheit oder der öffentlichen Sicherheit, der Aufrechterhaltung der Ordnung und der Verbrechensverhütung, des Schutzes der Gesundheit und der Moral, des Schutzes des guten Rufs oder der Rechte anderer unentbehrlich sind, um die Verbreitung von vertraulichen Nachrichten zu verhindern oder das Ansehen und die Unparteilichkeit der Rechtsprechung zu gewährleisten (VfSlg. 10700/1985).

   Ein verfassungsrechtlich zulässiger Eingriff in die Freiheit

der Meinungsäußerung muß sohin, wie auch der Europäische

Gerichtshof für Menschenrechte ausgesprochen hat (Fall Sunday

Times v. 26.4.1979 = EuGRZ 1979, 390; Fall Barthold v. 25.3.1985

= EuGRZ 1985, 173),

   (1) gesetzlich vorgesehen sein,

   (2) einen oder mehrere der in Art10 Abs2 EMRK ge-

       nannten rechtfertigenden Zwecke verfolgen und

   (3) zur Erreichung dieses Zwecks oder dieser Zwecke

       "in einer demokratischen Gesellschaft notwendig"

       sein (vgl. VfSlg. 11996/1989).

   Die Antragsteller bringen dazu im einzelnen wörtlich vor:

   "... Wendet man nun dieses (in VfSlg. 11996/1989

wiedergegebene) Prüfungsschema auf §7 b Mediengesetz an, so kommt man zum Ergebnis, daß im letzten Prüfungsschritt Probleme auftreten, die die EMRK- und Verfassungswidrigkeit dieser Bestimmung zur Folge haben.

Inhalt der durch Art6 Abs2 EMRK garantierten Unschuldsvermutung ist, daß ein Angeklagter bis zum gesetzlichen Nachweis seiner Schuld als unschuldig zu gelten hat. Da sich die Konvention unmittelbar nur an die Vertragsstaaten richtet ..., greift dieses Konventionsrecht erst mit dem Beginn irgendeines staatlichen Verfahrens zur Aufklärung einer strafbaren Handlung. Es ist auch in engem Zusammenhang mit dem in Art6 Abs1 EMRK grundgelegten Grundsatz eines fairen Verfahrens zu sehen (vgl. EGMR Fall Deweer, Serie A Vol. 35, §56)...

Grundsätzlich sind nur die Vertragsstaaten an die Beachtung der Konventionsrechte gebunden. Eine unmittelbare Drittwirkung der Grundrechte scheidet aus (vgl. zB VfSlg. 7400/1974). Der EGMR hat jedoch ebenso wie der Verfassungsgerichtshof (zB VfSlg. 12501/1990) grundsätzlich die Pflicht des Staates bejaht, aktiv für den Schutz der Konventionsrechte auch gegenüber privaten Dritten tätig zu werden (vgl. Frowein/Peukert, EMRK-Kommentar, 1985, Art1 Rz 9ff mwN). Betrachtet man jedoch den Fall, daß einander zwei durch die EMRK garantierte Rechte widerstreitend gegenüberstehen (zB Meinungsfreiheit und Unschuldsvermutung), so kann man nicht ohne weiteres davon ausgehen, daß die in Art10 Abs2 EMRK genannten Zwecke, die eine Einschränkung der Meinungsfreiheit rechtfertigen, ein aktives Tun des Staates zur Einschränkung der Meinungsfreiheit (soweit sie die in diesen Zwecken grundgelegten Prinzipien verletzt und damit andere Konventionsrechte gefährdet) erforderlich machen können. Denn im Fall Handyside (EuGRZ 1977 45, §54) hat der EGMR apodiktisch ausgesprochen, daß nicht übersehen werden darf, 'daß die Konvention, wie sich insbesondere aus ihrem Art60 ergibt, niemals die verschiedenen Organe der Vertragsstaaten verpflichtet, die von ihr garantierten Rechte und Freiheiten zu beschränken.' ...

Grundsätzlich haben Gesetzgeber und Vollziehung der Vertragsstaaten bei der Beurteilung der Frage, ob ein 'dringendes soziales Bedürfnis' besteht, einen weiten Ermessensspielraum. Der mit Art10 Abs2 EMRK geschaffene Vorbehalt enthält jedoch Voraussetzungen, die diesen Ermessensspielraum abstecken. Die Wahrnehmung dieses Ermessensspielraums unterliegt daher letztlich einer Kontrolle des Verfassungsgerichtshofs und der Konventionsorgane, und zwar sowohl hinsichtlich der Gesetzgebung als auch hinsichtlich der Einzelentscheidungen der Behörden und Gerichte (zB EGMR Fall Lingens, EuGRZ 1986 428, §39 mwN), und steht demnach nicht im Belieben der einzelnen Vertragsstaaten...

Damit ein Eingriff durch ein 'zwingendes soziales Bedürfnis' gerechtfertigt ist, muß er auch verhältnismäßig zu dem verfolgten berechtigten Zweck iSd Art10 Abs2 EMRK sein (EGMR Fall Sunday Times, EuGRZ 1979 390f, §§65, 67; VfSlg. 11996/1989).

Als zwingendes soziales Bedürfnis ist in der Straßburger Rechtsprechung die Verhinderung eines 'trial by newspaper' anerkannt (EGMR Fall Sunday Times). Dieses Bedürfnis ist jedoch dann nicht gegeben, wenn zum einen über einen Fall objektiv informiert wird und zum anderen bereits im ganzen Land eine Kampagne angelaufen ist. Es liegt auch dann nicht vor, wenn ein öffentliches Interesse an der Information über einen speziellen Fall besteht (EGMR Fall Sunday Times, §66); demnach bleiben Tatsachen von öffentlichem Interesse auch dann solche, wenn sie Hintergrund eines Rechtsstreits bilden. Gerechtfertigt ist es auch, die Öffentlichkeit über ein Strafverfahren objektiv zu unterrichten und dabei auf die Gefährlichkeit mutmaßlicher Straftäter hinzuweisen, wenn dies durch eindeutiges Informationsmaterial (Vorstrafen, Benutzen von Schußwaffen bei der Festnahme, etc.) belegbar ist (EKMR Fall Baader, Ensslin und Raspe, EuGRZ 1978 323, §15)..."

Der Verfassungsgerichtshof wies in seiner Judikatur wiederholt auf die besondere Aufgabe hin, die der Presse in einem demokratischen Rechtsstaat zukommt (VfSlg. 11297/1987, 13577/1993).

Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte betonte mehrfach die Bedeutung, welche die durch Art10 EMRK garantierte Freiheit der Meinungsäußerung für eine demokratische Gesellschaft hat (vgl. EGMR 7.12.1976, Handyside, EuGRZ 1977 38 ff., sowie die im folgenden zitierten Entscheidungen), und maß den daraus abgeleiteten Grundsätzen für den Bereich der Presse ganz besondere Wichtigkeit zu (s. EGMR 26.4.1979, Sunday Times, EuGRZ 1979 386 ff., 8.7.1986, Lingens, EuGRZ 1986 424 ff., 23.5.1991, Oberschlick, EuGRZ 1991 216 ff. = ÖJZ 1991 641 ff., 26.11.1991, Observer und Guardian, ÖJZ 1992 378 ff.). In den erwähnten Entscheidungen wurde darauf abgestellt, daß sich der besondere Schutz der Presse auf die ihr obliegende Aufgabe bezieht, Nachrichten und Ideen über politische Fragen sowie über andere Fragen von öffentlichem Interesse zu verbreiten (s. VfGH 11.3.1994 G73/93-21 ua. Zl.).

Die Bundesregierung bringt in ihrer Äußerung im gegebenen Kontext ua. vor:

"Zu dem im vorliegenden Fall bestehenden Konflikt zwischen der Unschuldsvermutung und der Meinungsäußerungsfreiheit ist zu bemerken, daß die EMRK keine ausdrückliche Lösung für dieses Problem enthält. Die Organe der EMRK haben jedoch in ihrer Rechtsprechung immer wieder Fälle behandelt, in denen zwei oder mehrere in der Konvention garantierte Rechte berührt sind, die miteinander konkurrieren (vgl. etwa das Urteil im Fall Otto Preminger Institut gegen Österreich v. 20.9.1994 und die Entscheidung der EKMR v. 4.7.1978 über die Beschw.Nr. 7945/77, DR 14, 228)...

Im Zusammenhang mit der Meinungsäußerungsfreiheit ist bei geäußerter Kritik an Personen auch das Recht auf Achtung des Privatlebens (Art8 EMRK) berührt. Der EGMR prüft Eingriffe in die Meinungsäußerungsfreiheit unter diesem Gesichtspunkt - ebenso wie alle anderen Eingriffe - anhand der in Art10 Abs2 EMRK normierten Schranken (siehe etwa EGMR im Fall Lingens, Z37ff; im Fall Schwabe, Z26ff). Dabei sind stets die öffentlichen Informationsinteressen gegen die berechtigten Interessen der von der Meinungsäußerung betroffenen Personen abzuwägen; der Eingriff muß stets verhältnismäßig sein (s. dazu auch Berka, Die Kommunikationsfreiheit sowie die Informationsfreiheit, Freiheit der Meinungsäußerung, Pressefreiheit und Zensurverbot, in Machacek/Pahr/Stadler, Grund- und Menschenrechte in Österreich, Bd II (1992) 451f). Die im Einzelfall vorzunehmende Abwägung kann es auch erforderlich machen, verschiedene Grundrechte in diese Abwägung einzubeziehen (siehe auch das erwähnte Urteil des EGMR im Fall Otto Preminger Institut gegen Österreich v. 20.9.1994, in dem sich der Gerichtshof mit dem Verhältnis der beiden Grundrechte Religionsfreiheit und Meinungsäußerungsfreiheit befaßte).

Der von den Antragstellern im gegebenen Zusammenhang angeführte Fall Handyside kann zu der vorliegenden Rechtsfrage nichts beitragen: Die zitierte Stelle (Z54) bezieht sich nämlich darauf, daß Art10 Abs2 EMRK die Mitgliedstaaten nicht zwingt, Einschränkungen oder Strafdrohungen im Bereich der Meinungsfreiheit vorzuschreiben; er hindere sie in keiner Weise daran, von den Möglichkeiten, die er ihnen an die Hand gibt, keinen Gebrauch zu machen (s. die Worte 'kann ... unterworfen werden')..."

2.2.1.2.2. Es ist im Verfahren unbestritten, daß §7 b Mediengesetz in das Recht auf freie Meinungsäußerung eingreift. Zu prüfen bleibt, ob diese Gesetzesbestimmung angesichts des verfolgten Ziels gemäß Art10 Abs2 EMRK zum Schutz des "guten Rufes oder der Rechte anderer" und überdies zum Schutz der "Unparteilichkeit der Rechtsprechung" notwendig und als verhältnismäßiges Mittel zur Erreichung dieses Ziels anzusehen ist.

Die Antragsteller machen zusammengefaßt geltend, die angefochtene Gesetzesbestimmung erfülle nicht die Voraussetzungen des Gesetzesvorbehalts nach Art10 Abs2 EMRK.

Sie legen dazu ua. besonders dar:

"... Ohne Einleitung irgendeines staatlichen Verfahrens zur Aufklärung einer Straftat fällt jedenfalls das zwingende soziale Bedürfnis für einen Rechtseingriff zur Erreichung des Zwecks der Unparteilichkeit der Rechtsprechung weg. Für andere Fälle und für das Vorliegen eines zwingenden sozialen Bedürfnisses zur Erreichung des Zwecks des Schutzes des guten Rufs oder der Rechte anderer bleibt die Verhältnismäßigkeit des Eingriffs zu prüfen. Diese ist ... zu verneinen, wenn ein überwiegendes öffentliches Interesse an der Information besteht (EGMR Fall Sunday Times, §66). Da §7 b Mediengesetz den Schutz der Unschuldsvermutung gegenüber dem Recht auf freie Meinungsäußerung absolut setzt, wird Art10 EMRK jedenfalls dann verletzt, wenn ein öffentliches Informationsinteresse besteht..."

Der Verfassungsgerichtshof führte in seinem Erk. VfSlg. 11062/1986 zur Unschuldsvermutung nach Art6 EMRK aus:

"Nach der ... Norm des §2 Abs1 Z1 lita (RFG) hat der

'Österreichische Rundfunk ... durch die Herstellung und Sendung

von Hörfunk- und Fernsehprogrammen sowie durch die Planung, die Errichtung und den Betrieb der hiefür notwendigen technischen Einrichtungen, insbesondere von Studios und Sendeanlagen, vor allem zu sorgen für 1. die umfassende Information der Allgemeinheit über alle wichtigen politischen, wirtschaftlichen, kulturellen und sportlichen Fragen durch a) objektive Auswahl und Vermittlung von Nachrichten und Reportagen, einschließlich der Berichterstattung über die Tätigkeit der gesetzgebenden Organe und der Übertragung ihrer Verhandlungen ...'. Mit diesem hier statuierten Objektivitätsgebot läßt es sich - vor dem Hintergrund des die gesamte österreichische Rechtsordnung beherrschenden Grundsatzes der Unschuldsvermutung (Art6 EMRK) - nicht vereinbaren, wenn der Österreichische Rundfunk jemanden öffentlich ausdrücklich oder auch bloß der Sache nach als Täter einer strafbaren Handlung kennzeichnet, der dieses Delikts von den hiezu verfassungsmäßig berufenen Instanzen (noch) gar nicht schuldig gesprochen wurde. Ob die mit der Sache befaßten Rundfunkorgane den Wahrheitsgehalt der strittigen Meldung - wie in der Beschwerdeschrift behauptet - den Umständen nach sorgsam genug nachprüften, ist, so gesehen, rechtlich belanglos: Die öffentliche Brandmarkung eines (nicht einmal gehörten) Verdächtigen als Täter war im damaligen Stadium des Strafverfahrens - es wurde ja gerade erst Anzeige erstattet - keinesfalls zulässig.

Soll nicht ein bloß Verdächtiger in Ausübung einer Art von 'Medienjustiz' vorzeitig als Schuldiger hingestellt werden, müssen Meldungen der hier relevanten Art - dem Objektivitätsgebot entsprechend - in einer den Entscheidungen der Strafgerichte nicht vorgreifenden Form klar und deutlich zum Ausdruck bringen, daß es sich (keineswegs um die tatsächliche Begehung einer strafbaren Handlung, sondern) n u r um Verdachtsgründe handelt, über die der Öffentlichkeit berichtet wird."

Zu Art6 Abs2 EMRK (über die Unschuldsvermutung) wird in der Literatur und in der Judikatur die Auffassung vertreten, es sei aus diesem Prinzip ein Gebot für den Staat abzuleiten, durch positive Maßnahmen dafür Sorge zu tragen, daß sich die Presse bei der Berichterstattung über anhängige Strafverfahren in den Grenzen der gebotenen Sachlichkeit hält (s. Frowein/Peukert, EMRK-Kommentar (1985) Rz 114 zu Art6; Villiger, Handbuch der Europäischen Menschenrechtskonvention (1993) Rz 492; IntKomm EMRK (Vogler) Rz 410 zu Art6). Auch die EKMR nahm den Standpunkt ein, daß eine heftige Pressekampagne geeignet sein kann, ein faires Verfahren negativ zu beeinflussen (s. EKMR 8.7.1978, Ensslin, Baader und Raspe, EuGRZ 1978 323).

Wie der Verfassungsgerichtshof (s. VfSlg. 12501/1990) zu Art11 EMRK zum Ausdruck brachte, verpflichtet diese Verfassungsbestimmung den Staat jedenfalls dann, wenn es darum geht, die dort verankerten Freiheiten gegenüber verfassungsgesetzlich gewährleisteten Freiheiten anderer Personen zu wahren, zu einem positiven Tun, also nicht bloß dazu, selbst Grundrechtseingriffe zu unterlassen; dies gebietet Art11 EMRK, denn ohne staatlichen Schutz wäre das - gegen Störungen von dritter Seite besonders empfindliche - Recht auf Versammlungsfreiheit entweder faktisch überhaupt wirkungslos, oder aber die Versammlungsteilnehmer müßten ihr Recht in Selbsthilfe durchsetzen (vgl. Ermacora, Handbuch der Grundfreiheiten und der Menschenrechte (1963) 313 und 319; Novak, EuGRZ 1984 133 ff., insb. 140 f.; Funk, ZfV 1987 620 ff.; vgl. auch die bei Anderle, Österreichisches Versammlungsrecht (1988) zu RN 356 ff. und 369 zit. litund Jud.).

So gesehen, erfüllte der Gesetzgeber eine verfassungsgesetzliche Verpflichtung, wenn er mit der angefochtenen Norm - in Beziehung auf Art10 EMRK - verhindern wollte, daß die jedermann verfassungsgesetzlich garantierte Unschuldsvermutung durch eine - unter Umständen sogar nach Art einer Kampagne betriebene - mediale Vorverurteilung, wenn auch vor Einleitung eines (gerichtlichen) Strafverfahrens gegen den bereits in Medien als "schuldig" und überführt Gebrandmarkten, wirkungs- und gegenstandslos wird, weil ein fairer Strafprozeß vor unbefangenen Richtern angesichts des vorauseilenden Schuldspruchs einer "Medienjustiz" nicht mehr gesichert ist. Zutreffend schrieb Berka (Unschuldsvermutung und Recht auf Anonymität, Medien und Recht 1/87, 6 (8)), es werde in dem Erk. VfSlg. 11062/1986 "anerkannt, daß sich in Art6 Abs2 EMRK ein übergreifendes Prinzip ausdrückt und daß dieser Bestimmung eine verfassungsrechtliche Wertentscheidung zugrunde liegt, die den Respekt vor der Unschuldsvermutung als ein allseitig zu schützendes hochrangiges rechtliches Interesse ausweist; in dieser übergreifenden Bedeutung kann die Unschuldsvermutung auch einen rechtlichen Maßstab für die Beurteilung publizistischer Vorverurteilungen darstellen, weil die Massenmedien als Träger publizistischer Macht gerade diesen Wert massiv gefährden können."

Die Bundesregierung weist im übrigen richtig darauf hin, daß der Verfassungsgerichtshof in seinem Erkenntnis VfSlg. 11062/1986 den Grundsatz der Unschuldsvermutung nicht erst vom Beginn eines (gerichtlichen) Strafverfahrens an für bedeutsam erachtet habe, und daß es hier nur darauf ankomme, ob §7 b Mediengesetz zulässigerweise, nämlich in Erfüllung der Voraussetzungen des Art10 Abs2 EMRK, in das Recht auf Meinungsäußerungsfreiheit eingreife.

Nach Meinung des Verfassungsgerichtshofs durfte der einfache Gesetzgeber entgegen der Rechtsmeinung der Antragsteller - innerhalb seines ihm nach der Judikatur des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte bei Handhabung der Konventionsnorm des Art10 Abs2 EMRK eingeräumten Gestaltungsspielraums, den die Mitgliedsstaaten unter nachprüfender gerichtlicher Kontrolle unterschiedlich ausfüllen können - jedenfalls den Standpunkt einnehmen, daß §7 b Mediengesetz in einer demokratischen Gesellschaft notwendig sei, um die "Rechte anderer" zu schützen und die "Unparteilichkeit der Rechtsprechung" zu gewährleisten. Denn ein faires Verfahren (Art6 EMRK) ist, wie schon dargetan, jedenfalls gefährdet, wenn ein Verdächtiger vor der Entscheidung der zuständigen Strafbehörden unter Einsatz medialer Mittel - uU sogar kampagneartig - öffentlich als überführter Rechtsbrecher hingestellt und auf diese Weise "vorverurteilt" wird. Diese Gefährdung tritt nämlich nicht erst mit der Einleitung des Strafverfahrens ein, sie besteht auch bereits dann, wenn die "Vorverurteilung" in eine Phase fällt, die zeitlich vor der Einleitung eines (gerichtlichen) Strafverfahrens liegt, weil sie in diesem späteren Gerichtsverfahren durchaus noch nachwirken kann.

Es wäre auch verfehlt, sollten die Antragsteller für ein gerechtfertigtes Interesse der Öffentlichkeit eintreten, jemanden als überführten Rechtsbrecher medial angeprangert und gebrandmarkt zu sehen, dessen Schuld - nach rechtsstaatlichen Regeln - noch gar nicht erwiesen ist. Nur solchen Medienberichten steht §7 b Mediengesetz entgegen, nicht aber einer wahrheitsgemäßen Berichterstattung über Straffälle. Der Verfassungsgerichtshof stimmt der Bundesregierung zu, daß der einem Straffall zugrundeliegende Sachverhalt immer berichtbar bleibt und bloß eine verfassungsgesetzlich den Gerichten vorbehaltene Wertung - iS einer Lösung der Tat- und Schuldfrage - verpönt ist. Eine Berichterstattung, die eine (vorzeitige) Schuldzuweisung enthält, kann niemals "wahrheitsgemäß" sein, weil diese Beurteilung einzig und allein den nach der Verfassung eingesetzten Gerichten zugewiesen ist und vorbehalten bleibt, will das Medium nicht in Verkennung seiner öffentlichen Aufgabe - wie auch der Aufgabe der unabhängigen Justiz - sich selbst zum Richter aufschwingen und auf den anschließenden Strafprozeß unzulässigen - weil eine faire Prozeßführung gefährdenden - Einfluß gewinnen. Dies trifft auch auf jene Fälle zu, welche die Antragsteller - aus medialer Sicht - als sog. "Härtefälle" einstufen.

Bei all dem sind entgegen der Rechtsauffassung der Antragsteller sämtliche Voraussetzungen des Art10 Abs2 EMRK iS einer gesetzlichen Maßnahme vor allem zum Schutz des guten Rufs und der Rechte anderer sowie einer unparteilichen Rechtsprechung zur Gänze erfüllt: Wird mit in Betracht gezogen, daß das Recht, bis zum gesetzlichen Nachweis der Schuld als unschuldig zu gelten, auf Verfassungsstufe garantiert ist (Art6 Abs2 EMRK), so kann auch von einer Unverhältnismäßigkeit der angefochtenen Vorschrift, wie sie die Antragsteller behaupten, schon im Blick auf den weitreichenden Ausnahmskatalog des §7 b Abs2 Mediengesetz keine Rede sein.

Vielmehr kann nach dem Gesagten zum einen die vom Gesetzgeber bejahte Notwendigkeit eines möglichst umfassenden Schutzes dieses Rechts (Art6 Abs2 EMRK) nicht bezweifelt werden, zum anderen besteht kein wie immer gerechtfertigtes öffentliches Interesse an einer medialen Untergrabung des Rechts jedes Angeklagten auf ein faires Verfahren vor den zuständigen Gerichtsbehörden.

2.2.2. Zu Art7 Abs1 B-VG.

2.2.2.1. Unter Hinweis auf die Entscheidung des Verfassungsgerichtshofs VfSlg. 10492/1985 (wonach dem Normgeber sachlich nicht gerechtfertigte Differenzierungen innerhalb der Normunterworfenen verwehrt sind) vergleichen die Antragsteller die angefochtene gesetzliche Vorschrift mit den Bestimmungen des §393 a StPO und des §2 Abs1 litb StEG und suchen damit die Unsachlichkeit des §7 b Mediengesetz darzutun.

2.2.2.2. Der Verfassungsgerichtshof vermag den Antragstellern allerdings nicht zu folgen, denn der angestellte Vergleich ist - angesichts der vollkommenen Unterschiedlichkeit der herangezogenen Regelungsbereiche - schon vom Ansatz her verfehlt, weil die Bestimmungen des §393 a StPO und des §2 Abs1 litb StEG nicht an eine Verletzung der Unschuldsvermutung anknüpfen, sondern Verdächtigen im Falle eines Freispruchs einen Pauschalbeitrag für die Kosten der Verteidigung bzw. Ersatz für materielle Schäden aufgrund erlittener Untersuchungshaft gewähren. Die von den Antragstellern herangezogenen Bestimmungen schaffen folglich keine Sanktionen für Verstöße staatlicher Organe gegen die verfassungsgesetzlich festgelegte Unschuldsvermutung, sondern sie suchen Nachteile auszugleichen, die ein letzten Endes Freigesprochener, der in Verdacht geraten war und sich einem Strafverfahren unterwerfen mußte, im Verlauf dieses Strafprozesses - durch strafprozessuale Maßnahmen - zu erleiden hatte. Von einer Verletzung der Unschuldsvermutung durch die zuständigen Strafverfolgungsorgane, wie sie die Antragsteller behaupten, kann im gegebenen Zusammenhang nicht die Rede sein.

Entgegen der Auffassung der Antragsteller kann aber auch nicht von der "Erdrosselung" einer wahrheitsgemäßen Kriminalberichterstattung gesprochen werden, wie allein schon der umfangreiche und weitgreifende Ausnahmskatalog des Abs2 des §7 b Mediengesetz zeigt (s. Abschnitt 1.3.). Der Meinung der Antragsteller zuwider ist in der Höhe eines mediengesetzlich vorgesehenen Entschädigungsbetrags aber auch kein "Wertungsexzeß" zu erblicken. Der Gesetzgeber der Mediengesetznovelle 1992 entschied sich innerhalb seines rechtspolitischen Gestaltungsspielraums für das - verglichen mit einer zur Wahl stehenden Freiheitsstrafe - weniger einschneidende Mittel eines zivilrechtlichen Entschädigungsanspruchs, um das aus der Verfassungsrechtsordnung (Art6 EMRK) ableitbare Ziel der Unterbindung medialer Vorverurteilungen zu erreichen. Der Verfassungsgerichtshof tritt hier der Rechtsmeinung der Bundesregierung bei, die im gegebenen Zusammenhang ua. darlegte:

"Unzulässig ist aber auch der Vergleich der Obergrenze des Entschädigungsbetrags mit den in der österreichischen Judikatur zugesprochenen Entschädigungsbeträgen für materielle Schäden (welche in dem Antrag auch nicht näher dargelegt werden). Auch in bezug auf die Strafdrohungen für Körperverletzungen und für strafbare Handlungen gegen die Ehre müßte in diesem Fall von der abstrakten Obergrenze ausgegangen werden. Nach §19 Abs2 StGB ist der Tagessatz höchstens mit 4.500 S festzusetzen. Sowohl für §83 als auch für §111 StGB beträgt daher das Höchstmaß der Geldstrafe 1.620.000 S. Ein Wertungsexzeß kann in diesem Verhältnis nicht erblickt werden".

2.2.3. Zu Art5 StGG iVm Art1 Abs1 des 1. ZPzEMRK.

2.2.3.1. Ferner hängen die Antragsteller der Auffassung an, daß §7 b Mediengesetz gegen das verfassungsgesetzlich gewährleistete Eigentumsrecht verstoße.

2.2.3.2. Der Verfassungsgerichtshof kann der Meinung der Antragsteller allein schon aus folgenden Überlegungen nicht beipflichten: Dem Gesetzgeber lagen zur Durchsetzung des Schutzes der Unschuldsvermutung in Beziehung auf Medieninhaber grundsätzlich mehrere Modelle vor, so die Anordnung der Veröffentlichung einer Mitteilung, die Gewährung eines Entschädigungsanspruchs und die Schaffung einer Strafandrohung. Die Bundesregierung ist im Recht, wenn sie in ihrer Äußerung darlegt, daß die Normierung einer Strafe jedenfalls als schärfste und einschneidendste Sanktion für mediale Anprangerungen zur Unterlaufung der Unschuldsvermutung anzusehen sei. Demgegenüber kann die Gewährung eines zivilrechtlichen Entschädigungsanspruchs als angemesseneres Mittel zur Erreichung des im Interesse jedes einzelnen wie auch der Reinheit der Rechtspflege angestrebten Ziels gelten.

Die von den Antragstellern zur Untermauerung der behaupteten Verfassungswidrigkeit des §7 b Mediengesetz vorgetragene Forderung, es sei Schadenersatz dann nicht aufzuerlegen, wenn der Verdächtige schließlich rechtskräftig verurteilt werde, geht ins Leere, denn sie verkennt den Zweck der Unschuldsvermutung. Diese verfassungsgesetzliche Garantie soll allen Verdächtigen bis zur Entscheidung der zuständigen Strafbehörden über die Stichhaltigkeit des erhobenen Vorwurfs unterschiedslos zukommen, und zwar unabhängig davon, ob das Strafverfahren in der Folge mit Freispruch/Einstellung oder mit Schuldspruch endet. Eine gleichsam rückwirkende Betrachtung widerspräche dem Wesen der Unschuldsvermutung, zumal ja nach den rechtspolitischen Zielsetzungen des Gesetzgebers (auch) vermieden werden soll, daß sich mediale Vorverurteilungen auf das Ergebnis des Strafverfahrens - in welcher Richtung immer - auswirken.

2.3. Die Anträge waren darum als zur Gänze unbegründet abzuweisen.

Zu bemerken bleibt, daß der Verfassungsgerichtshof in einem auf Antrag eingeleiteten Verfahren zur Prüfung der Verfassungsmäßigkeit eines Gesetzes gemäß Art140 B-VG ausschließlich zu beurteilen hat, ob die angefochtene Bestimmung aus den im Antrag dargelegten Gründen verfassungswidrig ist (vgl. VfSlg. 12592/1990, 12691/1991, VfGH 23.6.1993 G250/92, 11.3.1994 G73/93 ua. Zl.).

2.4. Diese Entscheidung konnte gemäß §19 Abs4 erster Satz VerfGG 1953 ohne mündliche Verhandlung in nichtöffentlicher Sitzung ergehen.

Schlagworte

VfGH / Individualantrag, Meinungsäußerungsfreiheit, Unschuldsvermutung, Medienrecht, Strafprozeßrecht, Verteidigung, fair trial,

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:VFGH:1995:G249.1994

Dokumentnummer

JFT_10049072_94G00249_00
Quelle: Verfassungsgerichtshof VfGH, http://www.vfgh.gv.at
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