TE Vwgh Erkenntnis 2020/11/19 Ra 2020/21/0420

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Veröffentlicht am 19.11.2020
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Index

001 Verwaltungsrecht allgemein
10/07 Verwaltungsgerichtshof
19/05 Menschenrechte
40/01 Verwaltungsverfahren
41/02 Passrecht Fremdenrecht

Norm

AsylG 2005 §55
AVG §13 Abs1
AVG §59 Abs1
AVG §63 Abs3
AVG §66 Abs4
MRK Art8
VwGG §42 Abs2 Z1
VwGVG 2014 §17
VwGVG 2014 §27
VwGVG 2014 §28
VwGVG 2014 §28 Abs3
VwGVG 2014 §9
VwRallg

Betreff

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Pelant sowie die Hofräte Dr. Sulzbacher und Dr. Pfiel, die Hofrätin Dr. Julcher und den Hofrat Dr. Schwarz als Richter, unter Mitwirkung des Schriftführers Mag. Friedwagner, über die Revision des N R in W, vertreten durch Rast & Musliu, Rechtsanwälte in 1080 Wien, Alser Straße 23/14, gegen den Beschluss des Bundesverwaltungsgerichtes vom 25. August 2020, W282 2227566-1/17E, betreffend Zurückweisung einer Beschwerde in einer fremdenrechtlichen Angelegenheit (belangte Behörde vor dem Verwaltungsgericht: Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl), zu Recht erkannt:

Spruch

Das angefochtene Erkenntnis wird wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufgehoben.

Der Bund hat dem Revisionswerber Aufwendungen in der Höhe von € 1.346,40 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.

Begründung

1        Der Revisionswerber, ein kosovarischer Staatsangehöriger, hielt sich beginnend ab Juni 2015 auf Basis von Aufenthaltsbewilligungen als Studierender rechtmäßig in Österreich auf. Nachdem der Revisionswerber in einem diesbezüglichen Zweckänderungsverfahren die dort gegen den abweisenden Bescheid eingebrachte Beschwerde mit Schriftsatz vom 5. März 2019 zurückgezogen hatte, stellte er am selben Tag beim Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (BFA) einen Antrag gemäß § 55 AsylG 2005 auf Erteilung eines „Aufenthaltstitels aus Gründen des Art. 8 EMRK“.

2        Diesen Antrag wies das BFA nach Vernehmung des Revisionswerbers am 23. September 2019 mit Bescheid vom 14. Dezember 2019 gemäß § 55 AsylG 2005 ab. Unter einem erließ es gegen ihn gemäß § 10 Abs. 3 AsylG 2005 iVm § 9 BFA-VG eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs. 3 FPG. Des Weiteren stellte das BFA gemäß § 52 Abs. 9 FPG fest, dass die Abschiebung des Revisionswerbers in den Kosovo zulässig sei und es gewährte gemäß § 55 FPG für die freiwillige Ausreise eine Frist von vierzehn Tagen ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung.

3        Gegen diesen Bescheid erhob der Revisionswerber fristgerecht Beschwerde mit den Anträgen,

„das Bundesverwaltungsgericht möge

1.   eine öffentlich-mündliche Verhandlung unter Ladung der genannten Zeugen, deren Vernehmung zum Beweis der sozialen Integration und des von dem Beschwerdeführer geführten privaten Familienlebens ausdrücklich beantragt wird, durchführen,

2.   den angefochtenen Bescheid ersatzlos beheben, in eventu

3.   den angefochtenen Bescheid zu beheben und das Verfahren zur neuerlichen Entscheidung an die erstinstanzliche Behörde zurückzuverweisen.“

4        Diese Beschwerde wies das Bundesverwaltungsgericht (BVwG) mit dem nunmehr angefochtenen Beschluss vom 25. August 2020 gemäß § 9 Abs. 1 Z 4 und § 27 VwGVG iVm § 28 Abs. 1 VwGVG als unzulässig zurück. Gemäß § 25a Abs. 1 VwGG sprach es aus, dass eine Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig sei.

5        Das BVwG vertrat unter Bezugnahme auf das Erkenntnis VwGH 30.6.2016, Ra 2016/11/0044, die Auffassung, aus der Sachentscheidungspflicht des § 28 Abs. 2 VwGVG ergebe sich für den vorliegenden Fall nur die Zulässigkeit eines Beschwerdebegehrens im Sinne des § 9 Abs. 1 Z 4 VwGVG, das primär auf eine Entscheidung des Verwaltungsgerichtes in der Sache selbst gerichtet sei. Ein Begehren, das nur auf Kassation gerichtet sei, sei daher in dieser Beschwerdesache jedenfalls unzulässig, stelle doch die ersatzlose Behebung eine (negative) Sachentscheidung dar, mit der ausgesprochen werde, dass die belangte Behörde den angefochtenen Bescheid (dem Grunde nach oder in dieser Form) gar nicht zu erlassen gehabt hätte. Ein solcher Fall liege hier, in dem das BFA den verfahrenseinleitenden Antrag mangels Vorliegens eines Zurückweisungsgrundes zu Recht inhaltlich erledigt habe, nicht vor.

In der vorliegenden Beschwerde werde aber kein Begehren auf eine anderslautende Sachentscheidung durch das BVwG gestellt. Im Gegenteil, es werde bloß die ersatzlose Behebung des angefochtenen Bescheides, eventualiter die Behebung und die Zurückverweisung an das BFA beantragt. Dass diese Formulierung des Beschwerdebegehrens nicht bloß auf einem Irrtum beruhe, ergebe sich auch aus den Beschwerdegründen, in denen mehrfach darauf „referenziert“ werde, dass das BFA selbst zu einem anderen Bescheid hätte kommen müssen. Es werde also erkennbar der Standpunkt vertreten, dass schon die belangte Behörde einen anderen Bescheid zu erlassen gehabt hätte, weshalb dieser wegen Rechtswidrigkeit aufzuheben sei.

Im vorliegenden Fall könne das BVwG aber nur entweder - sofern die Voraussetzungen für die Erteilung des Aufenthaltstitels nicht vorlägen - die Beschwerde abweisen und damit die behördliche Entscheidung bestätigen oder aber - sofern die Voraussetzungen für die Erteilung des Aufenthaltstitels vorlägen - der Beschwerde stattgeben, den Antrag positiv erledigen und dem Revisionswerber den beantragten Aufenthaltstitel erteilen. Der in der Beschwerde gestellte Hauptantrag auf Kassation im Sinne einer ersatzlosen Behebung liege daher außerhalb der Sache des gegenständlichen Beschwerdeverfahrens und sei somit unzulässig. Dieses Verfahrensergebnis entspreche auch dem Primat der Sachentscheidung durch das Verwaltungsgericht, zumal dem Revisionswerber mit einer ersatzlosen Behebung des angefochtenen Bescheides nicht weitergeholfen wäre, weil ihm diesfalls nach wie vor kein Aufenthaltstitel erteilt worden wäre und er auch gegenüber dem BFA darauf keinen Rechtsanspruch hätte.

Auch der gestellte Eventualantrag ändere an diesem Verfahrensergebnis nichts, weil es sich - abgesehen davon, dass von einem Vorliegen der Voraussetzungen für eine Zurückverweisung nach § 28 Abs. 3 VwGVG nicht die Rede sein könne - schon mangels Zulässigkeit des Hauptbegehrens als unzulässig erweise.

Zusammenfassend kam das BVwG dann zum Ergebnis, die Beschwerde sei zurückzuweisen, weil das dort erhobene Begehren außerhalb der Sache des gegenständlichen Beschwerdeverfahrens liege.

6        Gegen dieses Beschluss richtet sich die vorliegende außerordentliche Revision, über die der Verwaltungsgerichtshof nach Durchführung eines Vorverfahrens, in dessen Rahmen keine Revisionsbeantwortungen erstattet wurden, erwogen hat:

7        Die Revision ist - entgegen dem gemäß § 34 Abs. 1a erster Satz VwGG nicht bindenden Ausspruch des BVwG - unter dem Gesichtspunkt des Art. 133 Abs. 4 B-VG zulässig; sie ist auch berechtigt.

8        Die Beschwerde hat gemäß § 9 Abs. 1 VwGVG (unter anderem) neben den Gründen, auf die sich die Behauptung der Rechtswidrigkeit stützt (Z 3), auch das Begehren (Z 4) zu enthalten.

Der Verwaltungsgerichtshof judizierte zu § 63 Abs. 3 AVG, bei der Auslegung des Begriffs „begründeter Berufungsantrag“ sei kein übertriebener Formalismus anzuwenden. Es sei vielmehr der wesentliche Inhalt, der sich aus dem gestellten Antrag erkennen lasse, und die Art des in diesem gestellten Begehrens maßgebend (vgl. VwGH 27.2.2015, Ra 2014/17/0035, mwN). Daran anknüpfend wurde diese Rechtsprechungslinie auf die Beschwerdebegründung und den Beschwerdeantrag übertragen und festgehalten, es gebe keinen Anhaltspunkt dafür, dass die grundsätzlichen Anforderungen an bei Verwaltungsgerichten eingebrachte Beschwerden gegenüber den Anforderungen des AVG an Berufungen verschärft werden sollten. Demnach genüge es, wenn das vor dem Verwaltungsgericht erhobene Rechtsmittel erkennen lasse, was die Partei anstrebe und womit sie ihren Standpunkt vertreten zu können glaube (siehe VwGH 24.5.2016, Ra 2016/03/0037, Rn. 9).

9        Dem BVwG ist zwar darin beizupflichten, dass in Bezug auf die vom BFA vorgenommene Abweisung des Antrags auf Erteilung eines Aufenthaltstitels nach § 55 AsylG 2005 der Beschwerdeantrag auf ersatzlose Behebung dieses Spruchteiles nicht zum angestrebten Ziel hätte führen können. Das gilt allerdings nicht für die darauf aufbauenden Aussprüche der Erlassung einer Rückkehrentscheidung samt Festlegung einer Ausreisefrist und der Feststellung der Zulässigkeit der Abschiebung in den Herkunftsstaat, die ausgehend vom Standpunkt des Revisionswerbers - Erfüllung der Voraussetzungen für die Erteilung eines Aufenthaltstitels nach § 55 AsylG 2005 - sehr wohl vom BVwG ersatzlos zu beheben gewesen wären.

10       Aber auch in Bezug auf das Beschwerdebegehren betreffend die Abweisung des gegenständlichen Antrags auf Erteilung eines Aufenthaltstitels hätte das BVwG am Maßstab der in Rn. 8 referierten Judikatur nicht von dessen Unzulässigkeit ausgehen dürfen. In der Beschwerdebegründung wurde nämlich ausdrücklich das Vorliegen der Voraussetzungen nach § 55 AsylG 2005, und zwar dass die Erteilung dieses Aufenthaltstitels zur Aufrechterhaltung des Privat- und Familienlebens im Sinne des Art. 8 EMRK geboten sei, behauptet. Dazu wurde die vom Revisionswerber während seines Aufenthalts in Österreich erlangte „tiefe Integration“ samt „enger familiärer Beziehungen zu nahen Verwandten“ ins Treffen geführt und es wurden die für diese Annahme sprechenden Umstände auch näher dargelegt. Auch der in der Beschwerde gestellte Verhandlungsantrag zielte darauf, seine „soziale Integration“ und das in Österreich geführte Familienleben unter Beweis zu stellen. Angesichts dieses Beschwerdeinhaltes war nicht zweifelhaft, dass der Revisionswerber die Erteilung des beantragten Aufenthaltstitels im Beschwerdeweg erreichen wollte und mit seinem Beschwerdeantrag die Eliminierung der gegenteiligen Entscheidung des BFA aus dem Rechtsbestand anstrebte, um den Weg für die Erteilung (Ausfolgung) des beantragten Aufenthaltstitels frei zu machen. Angesichts dessen hätte das BVwG den Beschwerdeantrag nicht nur in formalistischer Weise entsprechend seinem Wortlaut verstehen und ihm damit einen unzulässigen Inhalt beimessen dürfen, sondern es hätte eine verständige Deutung im Sinne des Gesamtinhalts der Beschwerde vornehmen müssen. Das wird in der Zulässigkeitsbegründung der Revision im Ergebnis zutreffend geltend gemacht.

11       Ein solches Verständnis war im vorliegenden Fall aber auch deshalb geboten, weil nach Erörterung dieser Frage in der mündlichen Verhandlung - so das BVwG im angefochtenen Beschluss - „hervorkam“, dass „eigentlich eine Sachentscheidung des Verwaltungsgerichtes tatsächlich gewollt“ gewesen sei. Angesichts dessen hätte das BVwG bei seiner Entscheidung jedenfalls nicht (mehr) unterstellen dürfen, die Formulierung des Beschwerdehauptbegehrens beruhe „nicht bloß auf einem Irrtum“ des Rechtsvertreters. Richtig ist zwar, dass in der Beschwerde die Ansicht vertreten wurde, schon das BFA hätte zu einem anderen Bescheid kommen müssen. Damit wurde aber - entgegen der Meinung des BVwG - nur die nach dem Standpunkt des Revisionswerbers vorliegende Rechtswidrigkeit dieses Bescheides zum Ausdruck gebracht, jedoch nicht - in der angenommenen unmissverständlichen Weise - eine abändernde Entscheidung in der Sache durch das BVwG abgelehnt. Insoweit unterscheidet sich der vorliegende Fall auch von jenem, der dem vom BVwG ins Treffen geführten Erkenntnis VwGH 30.6.2016, Ra 2016/11/0044, zugrunde lag und in dem wegen Verkennung des Inhalts der in Beschwerde gezogenen behördlichen Erledigung bewusst nur ein Begehren auf Kassation gestellt worden war.

12       Dazu kommt (ebenfalls anders als im Fall des Erkenntnisses Ra 2016/11/0044), dass in der gegenständlichen Beschwerde auch ein Eventualantrag auf Aufhebung und Zurückverweisung der Sache an das BFA im Sinne des § 28 Abs. 3 VwGVG gestellt wurde, der jedenfalls „innerhalb der Sache des Beschwerdeverfahrens“ gelegen war (vgl. VwGH 9.9.2016, Ro 2016/12/0002, Rn. 47). Der Eventualantrag ist seinem Wesen nach - bei Erfolglosigkeit des Hauptantrags - eigenständig zu beurteilen (vgl. etwa VwGH 24.4.2018, Ra 2017/05/0215, Rn. 31), sodass - entgegen der nicht weiter begründeten Meinung des BVwG - die von ihm unterstellte Unzulässigkeit des Hauptantrags nicht auf den Eventualantrag hätte durchschlagen können. Dass die Voraussetzungen nach § 28 Abs. 3 VwGVG nicht vorgelegen seien, wie das BVwG annahm, änderte nichts an der grundsätzlichen Zulässigkeit dieses Begehrens, sondern hätte nur zur Konsequenz haben müssen, dass der Eventualantrag entsprechend dem aus der Beschwerde eindeutig erkennbaren Ziel und auch vor dem Hintergrund des - im angefochtenen Beschluss angesprochenen - für die Verwaltungsgerichte geltenden prinzipiellen Vorrangs der meritorischen Entscheidungspflicht (vgl. etwa VwGH 25.9.2018, Ra 2017/21/0253, Rn. 14, mwN) als Abänderungsantrag zu behandeln gewesen wäre. Das galt im vorliegenden Fall im Besonderen, weil nach der Erörterung dieser Frage in der Beschwerdeverhandlung dann im Schriftsatz vom 13. August 2020 eine entsprechenden Klarstellung im Sinne eines abändernden Begehrens auf Erteilung des beantragten Aufenthaltstitels durch das BVwG vorgenommen wurde. Eine innerhalb der Sache gelegene Modifikation des Beschwerdebegehrens ist aber bis zur Entscheidung darüber zulässig (vgl. noch einmal VwGH 9.9.2016, Ro 2016/12/0002, Rn. 47).

13       Der auf einer gegenteiligen Rechtsauffassung beruhende angefochtene Beschluss war somit gemäß § 42 Abs. 2 Z 1 VwGG wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufzuheben.

14       Von der in der Revision beantragten Durchführung einer Verhandlung vor dem Verwaltungsgerichtshof konnte gemäß § 39 Abs. 2 Z 5 und 6 VwGG abgesehen werden.

15       Der Kostenzuspruch gründet sich auf die §§ 47 ff VwGG in Verbindung mit der VwGH-Aufwandersatzverordnung 2014.

Wien, am 19. November 2020

Schlagworte

Allgemein Anzuwendendes Recht Maßgebende Rechtslage VwRallg2 Beschränkungen der Abänderungsbefugnis Beschränkung durch die Sache Besondere Rechtsprobleme Änderung von Anträgen und Ansuchen im Berufungsverfahren Besondere Rechtsgebiete Individuelle Normen und Parteienrechte Auslegung von Bescheiden und von Parteierklärungen VwRallg9/1 Trennbarkeit gesonderter Abspruch

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:VWGH:2020:RA2020210420.L00

Im RIS seit

11.01.2021

Zuletzt aktualisiert am

11.01.2021
Quelle: Verwaltungsgerichtshof VwGH, http://www.vwgh.gv.at
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