TE Bvwg Erkenntnis 2020/8/18 I405 2180398-1

JUSLINE Entscheidung

Veröffentlicht am 18.08.2020
beobachten
merken

Entscheidungsdatum

18.08.2020

Norm

BFA-VG §21 Abs7
BFA-VG §9
B-VG Art133 Abs4
EMRK Art8
FPG §66 Abs1
FPG §66 Abs2
FPG §70 Abs3
NAG §55 Abs3
VwGVG §24
VwGVG §28 Abs1
VwGVG §28 Abs2
VwGVG §28 Abs5

Spruch

I405 2180398-1/12E

IM NAMEN DER REPUBLIK!

Das Bundesverwaltungsgericht erkennt durch die Richterin Mag. Sirma KAYA als Einzelrichterin über die Beschwerde von XXXX, geb. XXXX, StA. Tunesien, vertreten durch Mag. Susanne SINGER, RA in 4600 Wels, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 24.11.2017, Zl. 1101570904-171050925, zu Recht:

A) Der Beschwerde wird stattgegeben und der angefochtene Bescheid wird ersatzlos behoben.

B) Die Revision ist gemäß Art 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.


Text


Entscheidungsgründe:

I. Verfahrensgang:

1.       Der Beschwerdeführer (in Folge auch: BF) heiratete am XXXX 2014 in Tunesien eine polnische Staatsangehörige mit Wohnsitz in Deutschland. In weiterer Folge reiste der BF im März 2015 in das Bundesgebiet der Republik Deutschland ein und wurde ihm dort eine Aufenthaltskarte als Familienangehöriger EU mit einer Gültigkeitsdauer von 12.10.2015 bis 21.08.2020 ausgestellt.

2.       Im Jänner 2016 reiste der BF in das österreichische Bundesgebiet ein und meldete er am 04.01.2016 gemeinsam mit seiner Ehefrau einen Wohnsitz an.

3.       Aufgrund seines Antrages vom 11.01.2016 wurde dem BF ein Aufenthaltstitel „Aufenthaltskarte (Angehöriger eines EWR-Bürgers oder Schweizer Bürgers)“ mit Gültigkeitsdauer bis 11.01.2021 erteilt.

4.       Mit Beschluss des Bezirksgerichtes XXXX vom XXXX 2017 wurde die Ehe des BF mit seiner polnischen Ehefrau geschieden und hat diese seit dem 16.11.2016 auch keinen gemeldeten Wohnsitz mehr in Österreich.

5.       Mit Schreiben der Bezirkshauptmannschaft XXXX vom 26.07.2017 wurde dem BF mitgeteilt, dass ihm das – vormals aufgrund seiner Eheschließung mit einer polnischen Staatsangehörigen aufgrund seines Antrages vom 11.01.2016 erteilte – unionsrechtliche Aufenthaltsrecht aufgrund seiner Ehescheidung am XXXX 2017 nun nicht mehr zukommt; dies weil die Voraussetzungen des § 54 Abs 5 NAG nicht vorliegen, da die Ehe keine drei Jahre bestanden habe.

6.       Mit Schreiben des Bundesamtes für Fremdenswesen und Asyl (in Folge auch: BFA, belangte Behörde) vom 12.09.2017 wurde der BF zur Klärung seines Aufenthaltsstatus bzw. der Erlassung von aufenthaltsbeendenden Maßnahmen aufgefordert, binnen einer Frist von zwei Wochen schriftlich Stellung zu nehmen sowie seine Privat- und Familienverhältnisse darzulegen.

7.       Am 29.09.2017 langte eine Stellungnahme vom rechtsfreundlich vertretenen BF ein.

8.       Mit Bescheid der belangten Behörde vom 24.11.2017, Zl. 1101570904-171050925, wurde der BF gem. § 66 Abs 1 Fremdenpolizeigesetz (FPG) 2005 iVm § 55 Abs 3 Niederlassungs- und Aufenthaltsgesetz (NAG) 2005, aus dem österreichischen Bundesgebiet ausgewiesen (Spruchpunkt I.) und wurde ihm gem. § 70 Abs 2 FPG ein Durchsetzungsaufschub von einem Monat ab Durchsetzbarkeit dieser Entscheidung erteilt (Spruchpunkt II.).

9.       Gegen diesen Bescheid erhob die Rechtsvertretung des BF mit Schriftsatz vom 13.12.2017 Beschwerde. Hierin wurde ausgeführt, dass es Tatsache sei, dass die Ehe des BF mit einer freizügigkeitsberechtigten Person die gesetzlich geforderte Dreijahresfrist offensichtlich um wenige Monate nicht erfülle und dass dem BF daher kein weiteres Aufenthaltsrecht in diesem Zusammenhang zukomme. Jedoch hätte die Interessenabwägung aufgrund der guten Integration des BF im Sinne des Artikel 8 EMRK zu dessen Gunsten ausfallen müssen.

10.      Mit Schriftsatz vom 19.12.2017, beim Bundesverwaltungsgericht eingelangt am 21.12.2017, legte die belangte Behörde die Beschwerde und den Verwaltungsakt dem Bundesverwaltungsgericht vor.

11.      Am 31.07.2020 wurde vor dem Bundesverwaltungsgericht eine mündliche Verhandlung im Beisein des BF, seiner rechtsfreundlichen Vertretung sowie eines Dolmetschers für die arabische Sprache durchgeführt.

II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:

1. Feststellungen:

1.1. Der volljährige BF ist Staatsangehöriger von Tunesien. Seine Identität steht fest. Er heiratete am XXXX 2014 eine polnische Staatsangehörige, mit der ab dem 04.01.2016 in Österreich einen gemeinsamen Wohnsitz hatte. Dem BF wurde als begünstigter Drittstaatsangehöriger eine Aufenthaltskarte mit der Gültigkeit bis 11.01.2021 erteilt.

Die Ehe des BF mit seiner polnischen Frau wurde mit Beschluss des Bezirksgerichtes XXXX vom XXXX 2017 geschieden. Er war somit keine drei Jahre mit seiner polnischen Frau verheiratet.

Der ist gesund und arbeitsfähig. Außerdem ist er strafrechtlich unbescholten. Er geht in Österreich einer Beschäftigung als Arbeiter nach und ist selbsterhaltungsfähig. Er verfügt über Sprachkenntnisse auf dem Niveau B1. In Österreich lebt ein Bruder und ein Cousin des BF, die ebenfalls aufenthaltsberechtigt sind. In Tunesien leben die Eltern und zwei Schwestern des BF. Der BF pflegt regelmäßigen Kontakt zu diesen. Außerdem verfügt der BF über einen Freundeskreis und ist bemüht, sich ehrenamtlich zu engagieren.

Der BF hat sich während seines Aufenthaltes in Österreich einen Freundes- und Bekanntenkreis aufgebaut und ist in sprachlicher, sozialer und familiärer Hinsicht integriert.

2. Beweiswürdigung:

2.1. Zur Feststellung des für die Entscheidung maßgebenden Sachverhaltes wurde Beweis erhoben durch Einsichtnahme in den von der belangten Behörde vorgelegten Verfahrensakt unter zentraler Zugrundelegung der Angaben des BF sowie des Inhaltes der gegen den angefochtenen Bescheid erhobenen Beschwerde, ferner durch Vernehmung des BF als Partei in der vor dem erkennenden Gericht am 31.07.2020 durchgeführten mündlichen Verhandlung, die vom BF anlässlich der Verhandlung vorgelegten Urkunden.

2.2. Der eingangs angeführte Verfahrensgang ergibt sich aus dem unbestrittenen Inhalt des vorgelegten Verfahrensakts der belangten Behörde. Identität und Staatsangehörigkeit des BF sowie dessen persönliche und familiäre Lebensumstände ergeben sich aus den vom Bundesverwaltungsgericht als wahr erachteten widerspruchsfreien Angaben des BF sowie ergänzend auf dem vom BF anlässlich der mündlichen Verhandlung gewonnenen Eindruck (insbesondere in Ansehung der Kenntnisse der deutschen Sprache) und den in Vorlage gebrachten Urkunden. Die Feststellungen zur Beschäftigung des BF im Bundesgebiet ergibt sich aus dem Akteninhalt und den diesbezüglichen Angaben des BF in der mündlichen Verhaltung vor dem erkennenden Gericht sowie einem Sozialversicherungsdatenauszug. Die Feststellungen zu Sprachkenntnisse des BF ergeben sich aus dem vorgelegten Zertifikat sowie des persönlichen Eindruckes der erkennenden Richterin.

2.3. Die Eheschließung und die Scheidung konnte aufgrund vor in Vorlage gebrachten unbedenklichen Urkunden festgestellt werden.

2.4. Die Unbescholtenheit des BF ergibt sich aus einem aktuellen Strafregisterauszug.

3. Rechtliche Beurteilung:

Zu A)

3.1. Gemäß § 66 Abs. 1 FPG können EWR-Bürger, Schweizer Bürger und begünstigte Drittstaatsangehörige ausgewiesen werden, wenn ihnen aus den Gründen des § 55 Abs. 3 NAG das unionsrechtliche Aufenthaltsrecht nicht oder nicht mehr zukommt, es sei denn, sie sind zur Arbeitssuche eingereist und können nachweisen, dass sie weiterhin Arbeit suchen und begründete Aussicht haben, eingestellt zu werden; oder sie bereits das Daueraufenthaltsrecht (§§ 53a, 54a NAG) erworben haben; im letzteren Fall ist eine Ausweisung nur zulässig, wenn ihr Aufenthalt eine schwerwiegende Gefahr für die öffentliche Ordnung oder Sicherheit darstellt.

Soll ein EWR-Bürger, Schweizer Bürger oder begünstigter Drittstaatsangehöriger ausgewiesen werden, hat das Bundesamt gemäß § 66 Abs. 2 FPG insbesondere die Dauer des Aufenthalts im Bundesgebiet, sein Alter, seinen Gesundheitszustand, seine familiäre und wirtschaftliche Lage, seine soziale und kulturelle Integration im Bundesgebiet und das Ausmaß seiner Bindung zum Herkunftsstaat zu berücksichtigen.

3.2. § 66 FPG enthält als lex specialis besondere Vorschriften für die Erlassung einer aufenthaltsbeendenden Maßnahme gegen EWR-Bürger und begünstigte Drittstaatsangehörige. Der Behörde ist hiezu – wie sich bereits aus dem Gesetzeswortlaut ergibt – Ermessen eingeräumt (Szymanski in Schrefler-König/Szymanski, Fremdenpolizei- und Asylrecht § 66 FPG Anm 1). Die Ausübung des Ermessens hat anhand der in § 66 Abs. 2 FPG genannten Kriterien zu erfolgen. Da das Bundesverwaltungsgericht im gegenständlichen Fall eine Sachentscheidung zu treffen hat, ist es auch zur Ausübung des gesetzlich eingeräumten Ermessens berufen (VwGH 21.02.2017, Ro 2016/12/0004 mwN).

Dass es sich beim BF um einen begünstigten Drittstaatsangehörigen handelt, wurde von der belangten Behörde angenommen, in der Beschwerde wird dem nicht entgegengetreten.

Dem öffentlichen Interesse an einem geordneten Fremdenwesen ist bei der Prüfung, ob eine Ausweisung im Sinne des § 66 Abs 1 FPG dringend geboten ist, das persönliche Interesse des Fremden an einem weiteren Verbleib in Österreich, das grundsätzlich mit der Dauer seines bisherigen Aufenthaltes zunimmt, gegenüber zu stellen. Die bloße Aufenthaltsdauer ist freilich nicht allein maßgeblich, sondern es ist an Hand der jeweiligen Umstände des Einzelfalles vor allem zu prüfen, inwieweit der Fremde die in Österreich verbrachte Zeit dazu genützt hat, sich sozial und beruflich zu integrieren. Dieses private Interesse ist in seinem Gewicht aber gemildert, wenn der Fremde keine genügende Veranlassung gehabt hatte, von einer Erlaubnis zu einem dauernden Aufenthalt in Österreich auszugehen. Das ist insbesondere dann der Fall, wenn die integrationsbegründenden Umstände während eines Aufenthaltes erworben wurden, der sich auf einen (von Anfang an) nicht berechtigten Asylantrag gründet (VwGH 22.11.2007, Zl. 2007/21/0317, 0318).

Der Verschaffung eines persönlichen Eindrucks kommt bei der Erlassung aufenthaltsbeendender Maßnahmen in der Regel besondere Bedeutung zu (VwGH 23.02.2017, Ra 2017/21/0028). Das Bundesverwaltungsgericht sah sich deshalb dazu veranlasst, eine mündliche Verhandlung durchzuführen und die gegenständliche Entscheidung insbesondere auch anhand des vom BF gewonnenen persönlichen Eindrucks zu treffen.

3.3. § 9 Abs. 1 BFA-G zufolge ist, wenn durch eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 FPG, eine Anordnung zur Außerlandesbringung gemäß § 61 FPG, eine Ausweisung gemäß § 66 FPG oder ein Aufenthaltsverbot gemäß § 67 FPG in das Privat- oder Familienleben des Fremden eingegriffen wird, die Erlassung der Entscheidung zulässig, wenn dies zur Erreichung der im Art. 8 Abs. 2 EMRK genannten Ziele dringend geboten ist.

Bei der Beurteilung des Privat- und Familienlebens im Sinne des Art. 8 EMRK sind gemäß § 9 Abs. 2 BFA-VG insbesondere zu berücksichtigen:

1.       die Art und Dauer des bisherigen Aufenthaltes und die Frage, ob der bisherige Aufenthalt des Fremden rechtswidrig war,

2.       das tatsächliche Bestehen eines Familienlebens,

3.       die Schutzwürdigkeit des Privatlebens,

4.       der Grad der Integration,

5.       die Bindungen zum Heimatstaat des Fremden,

6.       die strafgerichtliche Unbescholtenheit,

7.       Verstöße gegen die öffentliche Ordnung, insbesondere im Bereich des Asyl-, Fremdenpolizei- und Einwanderungsrechts,

8.       die Frage, ob das Privat- und Familienleben des Fremden in einem Zeitpunkt entstand, in dem sich die Beteiligten ihres unsicheren Aufenthaltsstatus bewusst waren,

9.       die Frage, ob die Dauer des bisherigen Aufenthaltes des Fremden in den Behörden zurechenbaren überlangen Verzögerungen begründet ist.

Das Recht auf Achtung des Familienlebens nach Art. 8 EMRK schützt das Zusammenleben der Familie. Es umfasst jedenfalls alle durch Blutsverwandtschaft, Eheschließung oder Adoption verbundenen Familienmitglieder, die effektiv zusammenleben; das Verhältnis zwischen Eltern und minderjährigen Kindern auch dann, wenn es kein Zusammenleben gibt (VfSlg. 16928/2003).

Bei der Setzung einer aufenthaltsbeendenden Maßnahme kann ein ungerechtfertigter Eingriff in das Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens des Fremden nach Art. 8 Abs. 1 EMRK vorliegen. Daher muss überprüft werden, ob sie einen Eingriff und in weiterer Folge eine Verletzung des Rechts des BF auf Achtung seines Privat- und Familienlebens in Österreich darstellt.

Nach der Rechtsprechung des EGMR garantiert die Europäische Menschenrechtskonvention Fremden kein Recht auf Einreise und Aufenthalt in einem Staat (vgl. EGMR U 16.6.2005, Sisojeva u.a. gegen Lettland, Nr. 60654/00). Unter gewissen Umständen können von den Staaten getroffene Entscheidungen auf dem Gebiet des Aufenthaltsrechts aber in das Privatleben eines Fremden eingreifen. Dies beispielsweise dann, wenn ein Fremder den größten Teil seines Lebens in dem Gastland zugebracht oder besonders ausgeprägte soziale oder wirtschaftliche Bindungen im Aufenthaltsstaat vorliegen, die sogar jene zum eigentlichen Herkunftsstaat an Intensität deutlich übersteigen (vgl. EGMR U 30.11.1999, Baghli gegen Frankreich, Nr. 34374/97; VfSlg 10.737/1985; 13.660/1993).

Im Bundesgebiet lebt der Bruder und Cousin des BF, jedoch wurde über eine übliche verwandtschaftliche Beziehung hinaus kein besonders berücksichtigungswürdiges Nahe- oder finanzielles Abhängigkeitsverhältnis geltend gemacht, weshalb diese Beziehungen im Rahmen des Privatlebens des BF bei der gebotenen Abwägung zu berücksichtigen sind.

Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte geht davon aus, dass die Konvention kein Recht auf Aufenthalt in einem bestimmten Staat garantiert. Die Konventionsstaaten sind nach völkerrechtlichen Bestimmungen berechtigt, Einreise, Ausweisung und Aufenthalt von Fremden ihrer Kontrolle zu unterwerfen, soweit ihre vertraglichen Verpflichtungen dem nicht entgegenstehen (EGRM U 30.10.1991, Vilvarajah u.a. gegen Vereinigtes Königreich, Nr. 13163/87).

Der Abwägung der öffentlichen Interessen gegenüber den Interessen eines Fremden an einem Verbleib in Österreich in dem Sinne, ob dieser Eingriff im Sinn des Art 8 Abs. 2 EMRK notwendig und verhältnismäßig ist, ist voranzustellen, dass die Rückkehrentscheidung jedenfalls der innerstaatlichen Rechtslage nach einen gesetzlich zulässigen Eingriff darstellt.

Nach dem Urteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte im Fall Moustaquim ist eine Maßnahme dann in einer demokratischen Gesellschaft notwendig, wenn sie einem dringenden sozialen Bedürfnis entspricht und zum verfolgten legitimen Ziel verhältnismäßig ist. Das bedeutet, dass die Interessen des Staates, insbesondere unter Berücksichtigung der Souveränität hinsichtlich der Einwanderungs- und Niederlassungspolitik, gegen jene des Berufungswerbers abzuwägen sind (EGMR U 18.02.1991, Moustaquim gegen Belgien, Nr. 12313/86).

Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hat fallbezogen unterschiedliche Kriterien herausgearbeitet, die bei einer solchen Interessenabwägung zu beachten sind und als Ergebnis einer Gesamtbetrachtung dazu führen können, dass Art. 8 EMRK einer Ausweisung entgegensteht (zur Maßgeblichkeit dieser Kriterien vgl. VfSlg. 18.223/2007).

Er hat etwa die Aufenthaltsdauer, die der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte keine fixen zeitlichen Vorgaben knüpft (EGMR U 31.1.2006, Rodrigues da Silva und Hoogkamer gegen die Niederlande, Nr. 50435/99; U 16.9.2004, M. C. G. gegen Deutschland, Nr. 11.103/03), das tatsächliche Bestehen eines Familienlebens (EGMR GK 28.05.1985, Abdulaziz, Cabales und Balkandali gegen Vereinigtes Königreich, Nrn. 9214/80, 9473/81, 9474/81; U 20.6.2002, Al-Nashif gegen Bulgarien, Nr. 50.963/99) und dessen Intensität (EGMR U 02.08.2001, Boultif gegen Schweiz, Nr. 54.273/00), die Schutzwürdigkeit des Privatlebens, den Grad der Integration des Fremden, der sich in intensiven Bindungen zu Verwandten und Freunden, der Selbsterhaltungsfähigkeit, der Schulausbildung, der Berufsausbildung, der Teilnahme am sozialen Leben, der Beschäftigung und ähnlichen Umständen manifestiert (vgl. EGMR U 04.10.2001, Adam gegen Deutschland, Nr. 43.359/98; GK 09.10.2003, Slivenko gegen Lettland, Nr. 48321/99; vgl. VwGH 5.7.2005, Zl. 2004/21/0124; 11.10.2005, Zl. 2002/21/0124), die Bindungen zum Heimatstaat, die strafgerichtliche Unbescholtenheit, aber auch Verstöße gegen das Einwanderungsrecht und Erfordernisse der öffentlichen Ordnung (EGMR U 11.04.2006, Useinov gegen Niederlande Nr. 61292/00) für maßgeblich erachtet.

Auch die Frage, ob das Privat- und Familienleben in einem Zeitpunkt entstand, in dem sich die Beteiligten ihres unsicheren Aufenthaltsstatus bewusst waren – was bei einem bloß vorläufigen Aufenthaltsrecht während des Asylverfahrens jedenfalls als gegeben angenommen werden kann – ist bei der Abwägung in Betracht zu ziehen (EGMR U 24.11.1998, Mitchell gegen Vereinigtes Königreich, Nr. 40.447/98; U 05.09.2000, Solomon gegen die Niederlande, Nr. 44.328/98; 31.1.2006, U 31.01.2006, Rodrigues da Silva und Hoogkamer gegen die Niederlande, Nr. 50435/99).

Bereits vor Inkrafttreten des nunmehrigen § 9 Abs. 2 BFA-VG entwickelten die Gerichtshöfe des öffentlichen Rechts in den Erkenntnissen VfSlg. 18.224/2007 und VwGH 17.12.2007, Zl. 2006/01/0216 unter ausdrücklichen Bezug auf die Judikatur des EGMR nachstehende Leitlinien, welche im Rahmen der Interessensabwägung gem. Art. 8 Abs. 2 EMRK zu berücksichtigen sind. Nach der mittlerweile ständigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofs ist bei der Beurteilung, ob im Falle der Erlassung einer Rückkehrentscheidung in das durch Art. 8 MRK geschützte Privat- und Familienleben des oder der Fremden eingegriffen wird, eine gewichtende Abwägung des öffentlichen Interesses an einer Aufenthaltsbeendigung mit den gegenläufigen privaten und familiären Interessen in Form einer Gesamtbetrachtung vorzunehmen, die auf alle Umstände des Einzelfalls Bedacht nimmt (VwGH 28.04.2014, Ra 2014/18/0146-0149, mwN). Maßgeblich sind dabei die Aufenthaltsdauer, das tatsächliche Bestehen eines Familienlebens und dessen Intensität sowie die Schutzwürdigkeit des Privatlebens, weiters der Grad der Integration des Fremden, der sich in intensiven Bindungen zu Verwandten und Freunden, der Selbsterhaltungsfähigkeit, der Schulausbildung, der Berufsausbildung, der Teilnahme am sozialen Leben, der Beschäftigung und ähnlichen Umständen manifestiert sowie die Bindungen zum Heimatstaat (VwGH 13.06.2016, Ra 2015/01/0255). Ferner sind nach der eingangs zitieren Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte sowie des Verfassungsgerichtshofs die strafgerichtliche Unbescholtenheit aber auch Verstöße gegen das Einwanderungsrecht sowie Erfordernisse der öffentlichen Ordnung und schließlich die Frage, ob das Privat- und Familienleben in einem Zeitpunkt entstand, in dem sich die Beteiligten ihres unsicheren Aufenthaltsstatus bewusst waren, bei der Abwägung in Betracht zu ziehen.

Der Verfassungsgerichtshof hat sich bereits im Erkenntnis VfSlg. 19.203/2010 eingehend mit der Frage auseinandergesetzt, unter welchen Umständen davon ausgegangen werden kann, dass das Privat- und Familienleben des Fremden in einem Zeitpunkt entstanden ist, in dem sich die Beteiligten ihres unsicheren Aufenthalts bewusst waren. Der Verfassungsgerichtshof stellt dazu fest, dass das Gewicht der Integration nicht allein deshalb als gemindert erachtet werden darf, weil ein stets unsicherer Aufenthalt des Betroffenen zugrunde liege, so dass eine Verletzung des Art. 8 EMRK durch die Ausweisung ausgeschlossen sei. Vielmehr müsse die handelnde Behörde sich dessen bewusst sein, dass es in der Verantwortung des Staates liegt, Voraussetzungen zu schaffen, um Verfahren effizient führen zu können und damit einhergehend prüfen, ob keine schuldhafte Verzögerungen eingetreten sind, die in der Sphäre des Betroffenen liegen (vgl. auch VfSlg. 19.357/2011).

Das Gewicht einer aus dem langjährigen Aufenthalt in Österreich abzuleitenden Integration ist weiter dann gemindert, wenn dieser Aufenthalt lediglich auf einen unberechtigten Asylantrag zurückzuführen ist (VwGH 26.6.2007, Zl. 2007/01/0479 mwN). Beruht der bisherige Aufenthalt auf rechtsmissbräuchlichem Verhalten wie insbesondere bei Vortäuschung eines Asylgrundes, relativiert dies die ableitbaren Interessen des Asylwerbers wesentlich (VwGH 2.10.1996, Zl. 95/21/0169; 28.06.2007, Zl. 2006/21/0114; VwGH 20.12.2007, 2006/21/0168).

Bei der Abwägung der Interessen ist auch zu berücksichtigen, dass es dem BF nicht verwehrt ist, bei Erfüllung der allgemeinen aufenthaltsrechtlichen Regelungen wieder in das Bundesgebiet zurückzukehren. Es wird dadurch nur jener Zustand hergestellt, der bestünde, wenn er sich rechtmäßig (hinsichtlich der Zuwanderung) verhalten hätte und wird dadurch lediglich anderen Fremden gleichgestellt, welche ebenfalls gemäß dem Grundsatz der Auslandsantragsstellung ihren Antrag nach den fremdenpolizeilichen bzw. niederlassungsrechtlichen Bestimmungen vom Ausland aus stellen müssen und die Entscheidung der zuständigen österreichischen Behörde dort abzuwarten haben.

Die Schaffung eines Ordnungssystems, mit dem die Einreise und der Aufenthalt von Fremden geregelt werden, ist auch im Lichte der Entwicklungen auf europäischer Ebene notwendig. Dem öffentlichen Interesse an der Einhaltung der die Einreise und den Aufenthalt von Fremden regelnden Bestimmungen kommt im Interesse des Schutzes der öffentlichen Ordnung nach Art 8 Abs. 2 EMRK daher ein hoher Stellenwert zu (VfSlg. 18.223/2007; VwGH 16.01.2001, Zl. 2000/18/0251).

Die öffentliche Ordnung, hier im Besonderen das Interesse an einer geordneten Zuwanderung, erfordert es daher, dass Fremde, die nach Österreich einwandern wollen, die dabei zu beachtenden Vorschriften einhalten. Die öffentliche Ordnung wird etwa beeinträchtigt, wenn einwanderungswillige Fremde, ohne das betreffende Verfahren abzuwarten, sich unerlaubt nach Österreich begeben, um damit die österreichischen Behörden vor vollendete Tatsachen zu stellen. Die Ausweisung kann in solchen Fällen trotz eines vielleicht damit verbundenen Eingriffs in das Privatleben und Familienleben erforderlich sein, um jenen Zustand herzustellen, der bestünde, wenn sich der Fremde gesetzestreu verhalten hätte (VwGH 21.2.1996, Zl. 95/21/1256). Dies insbesondere auch deshalb, weil als allgemein anerkannter Rechtsgrundsatz gilt, dass aus einer unter Missachtung der Rechtsordnung geschaffenen Situation keine Vorteile gezogen werden dürfen. (VwGH 11.12.2003, Zl. 2003/07/0007). Der VwGH hat weiters festgestellt, dass beharrliches illegales Verbleiben eines Fremden nach rechtskräftigem Abschluss des Asylverfahrens bzw. ein länger dauernder illegaler Aufenthalt eine gewichtige Gefährdung der öffentlichen Ordnung im Hinblick auf ein geordnetes Fremdenwesen darstellen würde, was eine Ausweisung als dringend geboten erscheinen lässt (VwGH 31.10.2002, Zl. 2002/18/0190).

Die geordnete Zuwanderung von Fremden ist auch für das wirtschaftliche Wohl des Landes von besonderer Bedeutung, da diese sowohl für den sensiblen Arbeitsmarkt als auch für das Sozialsystem gravierende Auswirkung hat. Es entspricht der allgemeinen Lebenserfahrung, dass insbesondere nicht rechtmäßig im Bundesgebiet aufhältige Fremde, welche daher auch über keine arbeitsrechtliche Berechtigung verfügen, die reale Gefahr besteht, dass sie zur Finanzierung ihres Lebensunterhaltes auf den inoffiziellen Arbeitsmarkt drängen, was wiederum erhebliche Auswirkungen auf den offiziellen Arbeitsmarkt, das Sozialsystem und damit auf das wirtschaftliche Wohl des Landes hat.

3.4 Im Hinblick auf die nach § 66 Abs. 1 und 2 FPG iVm § 9 Abs. 1 BFA-G zu treffende Ermessensentscheidung ist festzuhalten, dass sich die von der belangten Behörde vorgenommene Abwägung in Ansehung der Ergebnisse des Rechtsmittelverfahrens als im Ergebnis unzutreffend erweist:

Der BF hält sich seit Jänner 2016 im Bundesgebiet auf, er reiste legal als Ehegatte einer freizügigkeitsberechtigen Uniosbürgerin unter Verwendung eines deutschen Aufenthaltstitels ein. In der Folge stellte der BF als Ehegatte einer EWR-Bürgerin einen Antrag auf Ausstellung einer Aufenthaltskarte und wurde ihm eine solche mit Gültigkeit bis 11.01.2021 auch erteilt.

Das Alter des BF spricht weder für dessen Ausweisung aus dem Bundesgebiet, noch dagegen. Die Eltern des BF und zwei Schwestern leben noch in Tunesien. Die Beziehung des BF zu seinem Herkunftsstaat ist als nach wie vor als aufrecht einzuschätzen und ist er mit der Sprache und den dortigen Gepflogenheiten vertraut. Die nach wie vor vorhandenen Bindungen zum Heimatstaat stehen einer Ausweisung demnach nicht entgegen.

Der BF ist gesund und verfügt über eine aufrechte Krankenversicherung, sodass sämtliche Risiken aufgrund von Krankheit abgesichert sind und insoweit eine Ausweisung des BF nicht als geboten erscheint. Eine einer Ausweisung entgegenstehende Erkrankung des BF kann ebenfalls nicht erkannt werden.

Die soziale und kulturelle Integration des BF ist im Kontext der im Bundesgebiet zugebrachten Zeit als ausreichend zu beurteilen. In Österreich lebt der aufenthaltsberechtige Bruder und der Cousin des BF, zu denen er einen guten Kontakt pflegt. Darüber hinaus pflegt der BF auch freundschaftliche Kontakte zu verschiedenen Personen, unter anderem auch Österreichern und ist bemüht, sich auch gesellschaftlich bzw. ehrenamtlich zu engagieren. Zudem spricht er die deutsche Sprache gut und verfügt über ein B1 Zertifikat, sodass die mündliche Verhandlung überwiegend in Deutsch geführt werden konnte.

Im Hinblick auf die wirtschaftliche Lage des BF ist darauf hinzuweisen, dass der BF seit seiner Einreise im Bundesgebiet bis auf ein paar Unterbrechungen von wenigen Monaten gearbeitet hat und selbsterhaltungsfähig war bzw. ist. Unter dem Gesichtspunkt des wirtschaftlichen Wohls des Landes erscheint die Ausweisung des BF jedenfalls nicht als erforderlich.

Die Feststellung der strafrechtlichen Unbescholtenheit des BF stellt der Judikatur folgend weder eine Stärkung der persönlichen Interessen noch eine Schwächung der öffentlichen Interessen dar (VwGH 21.01.1999, Zl. 98/18/0420).

3.5. Da die mit dem angefochtenen Bescheid verfügte Ausweisung des BF in dessen Privatleben eingreift, ist diese gemäß § 9 Abs. 1 BFA-VG nur zulässig, wenn sie zur Erreichung der in Art 8 Abs 2 EMRK genannten Ziele dringend geboten ist. Bei dieser Beurteilung ist unter Bedachtnahme auf alle Umstände des Einzelfalls eine gewichtete Abwägung des öffentlichen Interesses an einer Aufenthaltsbeendigung mit den gegenläufigen privaten und familiären Interessen des BF unter Berücksichtigung der in § 9 Abs. 2 BFA-VG genannten Kriterien und unter Einbeziehung der Wertungen, die sich aus § 9 Abs. 3 BFA-VG ergeben, in Form einer Gesamtbetrachtung vorzunehmen (vgl VwGH 30.06.2016, Ra 2016/21/0165).

Die im angefochtenen Bescheid angeordnete Ausweisung aus dem österreichischen Bundesgebiet würde sohin einen ungerechtfertigten Eingriff in das durch Art. 8 EMRK gewährleistete Recht auf Privat- und Familienleben des BF darstellen und ist demnach unverhältnismäßig im Sinne des Art. 8 Abs. 2 EMRK.

3.6. Unter Berücksichtigung der vorstehend erörterten Umstände gelangt das Bundesverwaltungsgericht zusammenfassend zum Ergebnis, dass zwar dem öffentlichen Interesse an einem geordneten Fremdenwesen ein hoher Stellenwert zukommt (VwGH 20.12.2012, Zl. 2011/23/0472), jedoch unter Berücksichtigung der Umstände des Einzelfalles die berechtigten individuellen Interessen des BF im Sinn des Art. 8 Abs. 1 EMRK so ausgeprägt sind, dass sie insbesondere das öffentliche Interesse an der Aufenthaltsbeendigung nach Abschluss des verwaltungsgerichtlichen Verfahrens und der Einhaltung der österreichischen aufenthalts- und fremdenrechtlichen Bestimmungen gerade überwiegen, da der BF am Arbeitsmarkt integriert ist, über gute Sprachkenntnisse und soziale Kontakte verfügt und wie soeben ausgeführt eine Ausweisung einen ungerechtfertigten Eingriff in das durch Art. 8 EMRK gewährleistete Recht auf Privat- und Familienleben des BF darstellen würde. In Anbetracht der angeführten Aspekte kann nicht erkannt werden, dass der BF eine Gefahr für die öffentliche Ordnung oder ein geordnetes Fremdenwesen darstellt. Darüber hinaus wurde der BF nicht straffällig und er fällt den Systemen der sozialen Sicherheit derzeit nicht zur Last.

Die Abwägung gemäß § 66 Abs. 1 und 2 FPG sowie nach Maßgabe der im Sinne des § 9 BFA-VG angeführten Kriterien führt demnach zum Ergebnis, dass vor dem Hintergrund der gesetzlichen Kriterien die privaten Interessen des BF das öffentliche Interesse an einer Aufenthaltsbeendigung überwiegen und ist Spruchpunkt I des angefochtenen Bescheides daher ersatzlos aufzuheben.

Zu B)

Gemäß § 25a Abs. 1 VwGG hat das Verwaltungsgericht im Spruch seines Erkenntnisses oder Beschlusses auszusprechen, ob die Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG zulässig ist. Der Ausspruch ist kurz zu begründen.

Die Revision gegen die gegenständliche Entscheidung ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig, weil die Entscheidung nicht von der Lösung einer Rechtsfrage abhängt, der grundsätzliche Bedeutung zukommt und einer solche Rechtsfrage von grundsätzlicher Bedeutung weder in der Beschwerde vorgebracht wurde, noch im Verfahren vor dem Bundesverwaltungsgericht hervorgekommen ist. Die Ausübung von Ermessen – wie im gegenständlichen Fall – im Rahmen der gesetzlichen Kriterien stellt darüber hinaus regelmäßig keine Rechtsfrage grundsätzlicher Bedeutung im Sinn des Art. 133 Abs. 4 B-VG dar (VwGH 24.05.2017, Ra 2017/09/0017).

Schlagworte

Ausweisung Ausweisung aufgehoben Ausweisungsverfahren begünstigte Drittstaatsangehörige Behebung der Entscheidung Ermessen Ermessensausübung Ermessensübung ersatzlose Behebung Interessenabwägung Kassation öffentliche Interessen Privat- und Familienleben private Interessen

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:BVWG:2020:I405.2180398.1.00

Im RIS seit

23.11.2020

Zuletzt aktualisiert am

23.11.2020
Quelle: Bundesverwaltungsgericht BVwg, https://www.bvwg.gv.at
Zurück Haftungsausschluss Vernetzungsmöglichkeiten

Sofortabfrage ohne Anmeldung!

Jetzt Abfrage starten