TE OGH 2020/10/22 15Os78/20i

JUSLINE Entscheidung

Veröffentlicht am 22.10.2020
beobachten
merken

Kopf

Der Oberste Gerichtshof hat am 22. Oktober 2020 durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofs Hon.-Prof. Dr. Kirchbacher als Vorsitzenden sowie den Hofrat des Obersten Gerichtshofs Mag. Lendl und die Hofrätinnen des Obersten Gerichtshofs Dr. Michel-Kwapinski, Mag. Fürnkranz und Dr. Mann in der Strafsache gegen DI M***** S***** wegen Verbrechen des sexuellen Missbrauchs von Unmündigen nach § 207 Abs 1 StGB und weiterer strafbarer Handlungen über die Nichtigkeitsbeschwerde und die Berufung des Angeklagten gegen das Urteil des Landesgerichts für Strafsachen Graz als Schöffengericht vom 10. Dezember 2019, GZ 20 Hv 98/19t-15, nach Anhörung der Generalprokuratur nichtöffentlich (§ 62 Abs 1 zweiter Satz OGH-Geo 2019) zu Recht erkannt:

Spruch

In Stattgebung der Nichtigkeitsbeschwerde wird das angefochtene Urteil, das im Übrigen unberührt bleibt, im Schuldspruch 2./ und demzufolge auch im Strafausspruch aufgehoben und die Sache in diesem Umfang zu neuer Verhandlung und Entscheidung an das Landesgericht für Strafsachen Graz verwiesen.

Mit seiner Berufung wird der Angeklagte auf diese Entscheidung verwiesen.

Dem Angeklagten fallen auch die Kosten des Rechtsmittelverfahrens zur Last.

Text

Gründe:

Mit dem angefochtenen Urteil wurde DI M***** S***** mehrerer Verbrechen des sexuellen Missbrauchs von Unmündigen nach § 207 Abs 1 StGB (1./) und mehrerer Vergehen des Missbrauchs eines Autoritätsverhältnisses nach § 212 Abs 1 Z 2 StGB (2./) schuldig erkannt.

Danach hat er im Zeitraum von spätestens Juni 2011 bis 31. Dezember 2014 in G***** in mehreren Angriffen

1./ außer dem Fall des § 206 StGB geschlechtliche Handlungen an einer unmündigen Person vorgenommen, indem er der am 23. März 2002 geborenen M***** D***** auf deren nackte Brüste griff, diese knetete und die Brustwarzen massierte,

2./ die unter Punkt 1./ beschriebenen geschlechtlichen Handlungen mit einer minderjährigen Person, „die zumindest vorübergehend unter seiner Aufsicht stand“, unter Ausnützung seiner Stellung gegenüber dieser Person vorgenommen.

Rechtliche Beurteilung

Nur gegen den Schuldspruch 2./ richtet sich die auf § 281 Abs 1 Z 5 und 9 lit a StPO gestützte Nichtigkeitsbeschwerde des Angeklagten, der Berechtigung zukommt:

Zutreffend zeigt die Rechtsrüge (Z 9 lit a) auf, dass die erstgerichtlichen Feststellungen die Annahme eines Aufsichtsverhältnisses und damit die Subsumtion der Taten unter den Tatbestand des Missbrauchs eines Autoritätsverhältnisses nach § 212 Abs 1 Z 2 StGB nicht zu tragen vermögen.

Nach den Konstatierungen des Erstgerichts unterhielten der Angeklagte und die Mutter des Tatopfers, Mag. G***** D*****, im Tatzeitraum eine Beziehung zueinander, führten jedoch (weiterhin) getrennte Haushalte. Der Angeklagte nächtigte im Tatzeitraum (lediglich) zeitweise, vor allem am Wochenende, in der G***** Wohnung der Mag. D*****, die diese mit ihrem Sohn und ihrer am 23. März 2002 geborenen Tochter M***** bewohnt habe. Die meisten sexuellen Übergriffe auf M***** D***** fanden statt, nachdem ihre Mutter sie zu Bett gebracht hatte und damit beschäftigt war, auch ihren Sohn zu Bett zu bringen. Dabei suchte der Angeklagte gegen den ausdrücklichen Willen deren im Zimmer des Bruders in der Wohnung anwesenden Mutter das Zimmer von M***** D***** auf, wobei er deren sich sukzessive entwickelnden Brüste oberhalb und unterhalb der Kleidung „knetete“ und deren Brustwarzen massierte (US 3 ff).

Zur Begründung des Bestehens eines „Autoritätsverhältnisses“ (US 7) verwies das Erstgericht auf die mehr als vierjährige (geschlechtliche) Beziehung zwischen der Mutter des Tatopfers und dem Angeklagten, die im Urteil schlicht – also ohne Bezugnahme auf eine auf längere Dauer ausgerichtete Wohn- und Wirtschaftsgemeinschaft (vgl aber Jerabek/Ropper in WK2 StGB § 72 Rz 14 f) – als „Lebensgemeinschaft“ bezeichnet wird, und auf die Forderung des Angeklagten nach Einhaltung bestimmter Umgangsformen wie einer abendlichen Verabschiedung vor dem Zu-Bett-Gehen und einer von der Mutter geschilderten Ermahnung ihrer Kinder durch den Angeklagten, auf sie, also ihre Mutter „zu hören“ (US 7 f).

§ 212 Abs 1 Z 2 StGB stellt auf die Vornahme einer geschlechtlichen Handlung mit einer minderjährigen Person ab, die der Erziehung, Ausbildung oder Aufsicht des Täters untersteht, und zwar unter Ausnützung seiner Stellung dieser gegenüber. Entscheidend dafür ist, dass zwischen dem Täter und der minderjährigen Person ein faktisches Verhältnis der Über- und Unterordnung („Eltern-Kind ähnliches Verhältnis“) sowie eine wenn auch nur vorübergehende Pflicht zur sittlichen Beaufsichtigung besteht (RIS-Justiz RS0095273, RS0095216; Philipp in WK2 StGB § 212 Rz 5; Leukauf/Steininger/Tipold, StGB4 Update 2018 § 212 Rz 4 ff). Ein schlichtes, nicht näher definiertes „Autoritätsverhältnis“ genügt nicht zur Verwirklichung dieses Tatbestands.

Da der Angeklagte weder mit der Ausbildung noch mit der Erziehung des Opfers, die dessen Mutter ausschließlich für sich in Anspruch nahm (US 8), betraut war, kommt – wovon die Tatrichter ausdrücklich ausgingen (US 3) – lediglich ein Aufsichtsverhältnis in Betracht, für dessen Annahme die Entscheidungsgründe aber keine ausreichenden Anhaltspunkte bieten. Danach hat der Angeklagte vielmehr sein Opfer wiederholt (bloß) eigenmächtig – nämlich gegen den erklärten Willen der in der Wohnung anwesenden und die Aufsicht über ihre Tochter keineswegs an ihn delegierenden Erziehungsberechtigten (vgl US 6) – in dessen Zimmer aufgesucht, um sich an ihm zu vergreifen.

Weitere Gelegenheiten, bei welchen Übergriffe des Angeklagten auf M***** D***** stattgefunden haben sollen, werden im Urteil nicht beschrieben.

Dieser Rechtsfehler (§ 281 Abs 1 Z 9 lit a StPO) machte die Aufhebung wie aus dem Spruch ersichtlich und die Anordnung der Verfahrenswiederholung notwendig (§ 285e StPO).

Mit seiner Berufung wegen des Ausspruchs über die Strafe war der Angeklagte auf diese Entscheidung zu verweisen.

Die Kostenentscheidung gründet sich auf § 390a Abs 1 StPO.

Textnummer

E129642

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:OGH0002:2020:0150OS00078.20I.1022.000

Im RIS seit

13.11.2020

Zuletzt aktualisiert am

17.11.2020
Quelle: Oberster Gerichtshof (und OLG, LG, BG) OGH, http://www.ogh.gv.at
Zurück Haftungsausschluss Vernetzungsmöglichkeiten

Sofortabfrage ohne Anmeldung!

Jetzt Abfrage starten