TE Vwgh Erkenntnis 2020/9/30 Ra 2019/11/0066

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Veröffentlicht am 30.09.2020
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Index

10/07 Verwaltungsgerichtshof
19/05 Menschenrechte
40/01 Verwaltungsverfahren
68/01 Behinderteneinstellung

Norm

BEinstG
MRK Art6
VwGG §42 Abs2 Z1
VwGVG 2014 §24 Abs4

Betreff

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Schick und die Hofräte Dr. Grünstäudl und Dr. Faber als Richter, unter Mitwirkung der Schriftführerin Mag. Vitecek, über die Revision der M K in W, vertreten durch Mag. Peter A. Miklautz, Rechtsanwalt in 1010 Wien, Rotenturmstraße 19/2/2/36, gegen das Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichts vom 27. März 2019, Zl. W166 2215584-1/3E, betreffend Ausstellung eines Behindertenpasses (belangte Behörde vor dem Verwaltungsgericht: Sozialministeriumservice, Landesstelle Wien), zu Recht erkannt:

Spruch

Das angefochtene Erkenntnis wird wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufgehoben.

Begründung

1        Die Revisionswerberin verfügte über einen bis zum 31. Dezember 2018 befristeten Behindertenpass mit einem festgestellten Grad der Behinderung von 100%. Grundlage dafür war ein medizinisches Sachverständigengutachten vom 20. November 2013, welches als Diagnose ein anaplastisches Ependymom sowie Strahlen- und Chemotherapie anführt, wobei eine Nachuntersuchung im Dezember 2018 empfohlen wurde.

2        Sie beantragte am 21. August 2018 bzw. am 5. September 2018 die Verlängerung des Behindertenpasses samt Vornahme der Zusatzeintragung „Die Inhaberin des Passes bedarf einer Begleitperson“.

3        In einem von der belangten Behörde eingeholten Gutachten vom 17. Dezember 2018 gelangte die allgemeinmedizinische Sachverständige zu folgendem Ergebnis der Begutachtung:

„Lfd.Nr.

Bezeichnung der körperlichen, geistigen oder sinnesbedingten Funktionseinschänkungen, welche voraussichtlich länger als sechs Monate andauern werden:

Begründung der Positionsnummer und des Rahmensatzes:

Pos.Nr.

Gdb %

1

Zustand nach Anaplastischem Ependymom 11-2012 sowie nach Strahlen- und Chemotherapie

2 Stufen über dem unteren Rahmensatz, da nur geringgradige Hemiparese rechte untere Extremität. Die Teilleistungsschwierigkeiten sind in dieser Position mit berücksichtigt.

04.01.01

30

2

Epilepsie

unterer Rahmensatz im 3. Jahr unter Medikation anfallsfrei

04.10.01

20

Gesamtgrad der Behinderung 30 v.H.“

4        Begründend wird im Gutachten für den Gesamtgrad der Behinderung ausgeführt, die führende Gesundheitsbeeinträchtigung unter der Position 1 werde durch das Leiden unter der Position 2 nicht erhöht, da keine ungünstige wechselseitige Leidensbeeinflussung vorliege. Zu den gesundheitlichen Änderungen im Vergleich zum Vorgutachten wird im Gutachten ausgeführt, das führende Leiden habe sich nach Ablauf der Heilungsbewährung gebessert, zu einem Rezidivgeschehen sei es nicht gekommen. Das Leiden unter Position 2 sei hinzugekommen.

5        Im Rahmen des Parteiengehörs zu diesem Gutachten legte die Revisionswerberin einen Arztbrief der Universitätsklinik für Kinder- und Jugendheilkunde der Medizinischen Universität Wien vom 9. Jänner 2019 vor, wonach sie infolge ihrer Erkrankung und der damit verbundenen Behandlung mit körperlichen und vor allem auch psychosozialen Spätfolgen zu kämpfen habe. Die Revisionswerberin habe wiederkehrende Schmerzen in den Beinen sowie Kopfschmerzen und psychische Probleme. Sie könne sich schwer motivieren, aus dem Bett aufzustehen und benötige bei vielen Tätigkeiten wie Körperpflege und Essenszubereitung die Unterstützung ihrer Mutter. Zusätzlich bestünden neuropsychologische Beeinträchtigungen, die in Zusammenhang mit der onkologischen Erkrankung stünden, und zwar Schwierigkeiten beim Lernen und Merken, bei der Aufmerksamkeit und Konzentration sowie der Verarbeitungsgeschwindigkeit.

6        Zu diesem Schreiben erstattete die medizinische Sachverständige am 17. Jänner 2019 eine Stellungnahme. Darin führte sie aus, da nach Ablauf der fünfjährigen Heilungsbewährung kein Rezidivgeschehen dokumentiert sei, habe der Grad der Behinderung abgesenkt werden müssen, wobei auch die Folgebeschwerden miterfasst seien. Es ergäben sich daher keine neuen Aspekte hinsichtlich noch nicht berücksichtigter Leidenszustände, sodass an der Beurteilung festgehalten werde.

7        Mit Bescheid vom 17. Jänner 2019 wies die belangte Behörde den Antrag auf Ausstellung des Behindertenpasses ab, da der Grad der Behinderung, der in der ärztlichen Begutachtung festgestellt worden sei, lediglich 30% betrage.

8        Gegen diesen Bescheid erhob die Revisionswerberin Beschwerde und beantragte die Durchführung einer mündlichen Verhandlung. Begründend brachte sie vor, dem Sachverständigengutachten sei nicht schlüssig zu entnehmen, wie es zu der Verbesserung des Gesundheitszustandes gekommen sei. Aus dem angefochtenen Bescheid gehe auch nicht hervor, in welcher Art und Weise das Schreiben der Universitätsklinik vom 9. Jänner 2019 berücksichtigt worden sei. Aus einem mit der Beschwerde vorgelegten Schreiben einer Psychotherapeutin vom 19. Februar 2019 ergebe sich nach wie vor eine chronische und massive Beeinträchtigung ihres Gesundheitszustandes. In diesem Schreiben führt die Psychotherapeutin aus, die Revisionswerberin nehme Medikamente gegen Epilepsie und stehe seit April 2017 in psychotherapeutischer Behandlung. „Erst kürzlich“ habe sie einen epileptischen Anfall erlitten. Die Revisionswerberin könne sich derzeit höchstens zwei Stunden lang gut konzentrieren und benötige regelmäßige Pausen.

9        Mit dem angefochtenen Erkenntnis wies das Bundesverwaltungsgericht - ohne Durchführung einer mündlichen Verhandlung - die Beschwerde der Revisionswerberin ab und sprach aus, dass die Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig sei.

10       Das Verwaltungsgericht stellte, nach Wiedergabe des Verfahrensgangs, einschließlich des Sachverständigengutachtens vom 17. Dezember 2018 und der Stellungnahme der Sachverständigen vom 9. Jänner 2019, fest, bei der Revisionswerberin bestünden aktuell die beiden im Gutachten genannten Funktionseinschränkungen, wobei gegenüber dem Vorgutachten eine Verbesserung eingetreten sei. Die Revisionswerberin sei seit der Totalresektion des Tumors im November 2012 rezidivfrei. Das zweite Leiden (Epilepsie) sei gegenüber dem Vorgutachten hinzugetreten, wobei eine wechselseitige Leidensbeeinflussung der beiden festgestellten Funktionseinschränkungen nicht bestehe. Es ergebe sich insgesamt eine Herabsetzung des Grades der Behinderung von 100% auf 30%.

11       Beweiswürdigend stützte sich das Verwaltungsgericht auf das Sachverständigengutachten vom 17. Dezember 2018, welches vollständig, nachvollziehbar und widerspruchsfrei sei. Die Reduzierung des Grades der Behinderung sei im Gutachten nachvollziehbar und schlüssig mit dem Ablauf der Heilungsbewährung (fünf Jahre) ohne Rezidivgeschehen begründet. Das Schreiben der Universitätsklinik vom 9. Jänner 2019 habe im Gutachten bei der Bewertung der aktuellen Funktionseinschränkungen bereits Berücksichtigung gefunden. Die neu hinzugetretene Funktionseinschränkung „Epilepsie“ habe die Sachverständige der Position 04.10.01 der Anlage zur Einschätzungsverordnung zugeordnet und den unteren Rahmensatz gewählt, da die Revisionswerberin im dritten Jahr unter Medikation anfallsfrei sei. Dies habe die Revisionswerberin in der klinischen Untersuchung am 17. Dezember 2018 angegeben. Das mit der Beschwerde vorgelegte Schreiben der Psychotherapeutin zeige keine neuen Einschränkungen auf, welche nicht bereits im ärztlichen Sachverständigengutachten berücksichtigt seien. Die Revisionswerberin sei dem ärztlichen Sachverständigengutachten nicht auf gleicher fachlicher Ebene entgegengetreten.

12       Gegen dieses Erkenntnis richtet sich die vorliegende (außerordentliche) Revision.

13       Das Verwaltungsgericht hat die Verfahrensakten vorgelegt. Eine Revisionsbeantwortung wurde nicht erstattet.

14       Der Verwaltungsgerichtshof hat in dem gemäß § 12 Abs. 1 Z 2 VwGG gebildeten Senat erwogen:

15       Die Revision ist zulässig, weil sie zutreffend vorbringt, das Verwaltungsgericht habe entgegen der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes von einer mündlichen Verhandlung abgesehen. Die Revision ist auch begründet.

16       Nach der ständigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes fehlt es in Fällen wie dem vorliegenden regelmäßig schon an der ersten Voraussetzung für den Entfall einer mündlichen Verhandlung nach § 24 Abs. 4 VwGVG, dass nämlich die „mündliche Verhandlung eine weitere Klärung der Rechtssache nicht erwarten lässt“, ermöglicht doch die Durchführung einer mündlichen Verhandlung, ergänzende Fragen an den Antragsteller und den (die) beigezogenen Sachverständigen zu stellen und auch den für die Entscheidungsfindung wesentlichen persönlichen Eindruck vom Betroffenen zu gewinnen (vgl. VwGH 15.7.2019, Ra 2017/11/0254, mwN).

17       So hat die Revisionswerberin mit ihrer Beschwerde das Schreiben einer Psychotherapeutin vorgelegt, wonach diese „kürzlich“ einen epileptischen Anfall erlitten habe, was für die Einstufung der festgestellten Funktionseinschränkung „Epilepsie“ nicht von vornherein unmaßgeblich war (vgl. Position 04.10. der Einschätzungsverordnung). Demgegenüber beruht das vom Verwaltungsgericht zugrunde gelegte ärztliche Gutachten noch darauf, dass die Revisionswerberin im dritten Jahr „anfallsfrei“ sei. Es stand daher keineswegs fest, dass eine mündliche Erörterung eine weitere Klärung der Rechtssache nicht erwarten ließ, sodass die Voraussetzungen für das Absehen von der mündlichen Verhandlung gemäß § 24 Abs. 4 VwGVG nicht vorlagen.

18       Auch bringt die Revision zu Recht vor, dass sich das Verwaltungsgericht nicht nachvollziehbar mit den im Arztbrief vom 9. Jänner 2019 genannten psychischen Problemen und neuropsychologischen Beeinträchtigungen befasst hat, zu denen die ärztliche Sachverständige in ihrer Stellungnahme vom 17. Jänner 2019 nur ausgeführt hat, dass die „Folgebeschwerden“ von der von ihr getroffenen Einschätzung „miterfasst“ seien. Auch unter diesem Gesichtspunkt hätte das Verwaltungsgericht nicht von einem geklärten Sachverhalt ausgehen dürfen.

19       Da das Verwaltungsgericht die Rechtslage in Bezug auf die Erfordernisse der Durchführung einer mündlichen Verhandlung verkannt hat, war das angefochtene Erkenntnis schon aus diesem Grund gemäß § 42 Abs. 2 Z 1 VwGG wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufzuheben.

20       Ein Aufwandersatz kommt schon mangels Antrags nicht in Betracht (vgl. § 59 Abs. 1 VwGG).

Wien, am 30. September 2020

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:VWGH:2020:RA2019110066.L00

Im RIS seit

17.11.2020

Zuletzt aktualisiert am

17.11.2020
Quelle: Verwaltungsgerichtshof VwGH, http://www.vwgh.gv.at
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