TE Vwgh Erkenntnis 2020/9/10 Ra 2020/01/0094

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Veröffentlicht am 10.09.2020
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Index

E1P
10/07 Verwaltungsgerichtshof
19/05 Menschenrechte
41/02 Asylrecht
41/02 Passrecht Fremdenrecht

Norm

AsylG 2005 §9 Abs1 Z1
BFA-VG 2014 §21 Abs7
MRK Art6
VwGG §42 Abs2 Z3 litb
VwGG §42 Abs2 Z3 litc
12010P/TXT Grundrechte Charta Art47

Betreff

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Blaschek sowie die Hofräte Dr. Kleiser und Dr. Fasching als Richter, unter Mitwirkung der Schriftführerin Mag.a Kienesberger, über die Revision des L H in G, vertreten durch Mag. Wolfgang Ehß, Rechtsanwalt in 8102 Semriach als bestellter Verfahrenshelfer, dieser vertreten durch Mag. Nadja Lindenthal, Rechtsanwältin in 1070 Wien, Siebensterngasse 23/3, gegen das Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichts vom 3. Februar 2020, Zl. W191 1411962-3/5E, betreffend eine Angelegenheit nach dem AsylG 2005 (belangte Behörde vor dem Verwaltungsgericht: Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl), zu Recht erkannt:

Spruch

Das angefochtene Erkenntnis wird wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufgehoben.

Der Bund hat dem Revisionswerber Aufwendungen in der Höhe von € 1.106,40 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.

Begründung

1        Mit Bescheid vom 19. Februar 2010 erkannte das Bundesasylamt dem Revisionswerber, einem afghanischen Staatsangehörigen, den Status des subsidiär Schutzberechtigten zu und erteilte ihm eine befristete Aufenthaltsberechtigung.

2        Der Revisionswerber wurde mit Urteil des Bezirksgerichts Graz-West vom 1. Oktober 2014 wegen § 83 StGB zu einer Geldstrafe von 60 Tagessätzen verurteilt.

3        Mit Urteil des Landesgerichts für Strafsachen Graz vom 30. August 2018 wurde der Revisionswerber wegen § 107 StGB zu einer bedingt nachgesehenen Freiheitsstrafe von vier Monaten verurteilt.

4        Mit Urteil des Landesgerichts für Strafsachen Graz vom 5. August 2019 wurde der Revisionswerber wegen §§ 27 Abs. 2a zweiter Fall, 27 Abs. 1 Z 1 zweiter Fall und 27 Abs. 2 SMG zu einer Freiheitsstrafe von sieben Monaten verurteilt.

5        Mit Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl (BFA) vom 31. Oktober 2019 wurde dem Revisionswerber der Status des subsidiär Schutzberechtigten gemäß § 9 Abs. 1 Z 1 AsylG 2005 von Amts wegen aberkannt, ihm die zuletzt mit Bescheid vom 31. Jänner 2018 erteilte Aufenthaltsberechtigung gemäß § 9 Abs. 4 AsylG 2005 entzogen, ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen gemäß § 57 AsylG 2005 nicht erteilt, eine Rückkehrentscheidung gegen den Revisionswerber erlassen, festgestellt, dass seine Abschiebung nach Afghanistan zulässig sei und eine vierzehntägige Frist für die freiwillige Ausreise festgesetzt.

6        Begründend führte das BFA auf das Wesentliche zusammengefasst aus, dass der für die Zuerkennung von subsidiärem Schutz maßgebliche Sachverhalt nicht mehr vorliege. Der Revisionswerber sei volljährig, gesund und arbeitsfähig, verfüge über Berufserfahrung und Schulbildung, weshalb ihm nunmehr eine innerstaatliche Fluchtalternative in Mazar-e Sharif oder Herat zumutbar sei.

7        Mit dem angefochtenen Erkenntnis wies das Bundesverwaltungsgericht (BVwG) die Beschwerde des Revisionswerbers gegen den Bescheid des BFA ohne Durchführung der beantragten mündlichen Verhandlung als unbegründet ab (Spruchpunkt A) und sprach aus, dass die Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig sei (Spruchpunkt B).

8        Die Aberkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten begründete das BVwG im Wesentlichen mit einer in der Person des Revisionswerbers gelegenen Änderung der Umstände. Es stehe dem jungen und gesunden Revisionswerber nunmehr eine zumutbare innerstaatliche Fluchtalternative in Mazar-e Sharif oder Herat zur Verfügung, zumal er in Afghanistan über ein familiäres Netzwerk und mehrjährige Berufserfahrung verfüge.

9        Gegen dieses Erkenntnis richtet sich die vorliegende außerordentliche Revision, die zu ihrer Zulässigkeit zusammengefasst einerseits geltend macht, das BVwG habe nicht offen gelegt habe, worin die für die Aberkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten erforderliche Sachverhaltsänderung liege. Darüber hinaus rügt die Revision ein Abweichen des angefochtenen Erkenntnisses von der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes über die Voraussetzungen der Unterlassung einer mündlichen Verhandlung gemäß § 21 Abs. 7 BFA-VG.

10       Der Verwaltungsgerichtshof hat über die Revision nach Durchführung des Vorverfahrens - eine Revisionsbeantwortung wurde nicht erstattet - in einem gemäß § 12 Abs. 1 Z 2 VwGG gebildeten Senat erwogen:

11       Die Revision bringt zunächst vor, das BVwG habe im Rahmen der Aberkennung gemäß § 9 Abs. 1 Z 1 AsylG 2005 nicht aufgezeigt, inwiefern es seit der letztmaligen Verlängerung der befristeten Aufenthaltsberechtigung zu einer relevanten Sachverhaltsänderung gekommen sei. Dem ist entgegen zu halten, dass das BVwG darlegte, dem Revisionswerber sei nunmehr aufgrund seiner (wie sich aus der Aktenlage ergibt während seines Aufenthaltes in Österreich erworbenen) mehrjährigen Berufserfahrung und des Vorliegens familiärer Anknüpfungspunkte unter Zugrundlegung der aktuellen Berichtslage eine innerstaatliche Fluchtalternative in Herat oder Mazar-e Sharif zumutbar. Die Revision legt nicht dar, dass das BVwG dabei von der maßgeblichen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes zur Aberkennung gemäß § 9 Abs. 1 Z 1 AsylG 2005 abgewichen wäre. Nach dieser Rechtsprechung kann sich der Wegfall der Notwendigkeit, auf den Schutz eines anderen Staates angewiesen zu sein, auch als Ergebnis unterschiedlicher Entwicklungen von Ereignissen, die sowohl in der Person des Fremden als auch in der in seinem Heimatland gegebenen Situation gelegen sind, darstellen und es dürfen bei Hinzutreten neuer Umstände alle für die Entscheidung maßgeblichen Elemente einbezogen werden, selbst wenn sie sich vor der Verlängerung der befristeten Aufenthaltsberechtigung ereignet haben (vgl. dazu grundlegend VwGH 27.5.2019, Ra 2019/14/0153).

12       Soweit die Revision jedoch geltend macht, das BVwG hätte nicht von der Durchführung der beantragten mündlichen Verhandlung Abstand nehmen dürfen, erweist sie sich als zulässig und berechtigt:

13       Der Verwaltungsgerichtshof erkennt in ständiger Rechtsprechung, dass für die Auslegung der in § 21 Abs. 7 BFA-VG enthaltenen Wendung „wenn der Sachverhalt aus der Aktenlage in Verbindung mit der Beschwerde geklärt erscheint“ folgende Kriterien beachtlich sind:

14       Der für die rechtliche Beurteilung entscheidungswesentliche Sachverhalt muss von der Verwaltungsbehörde vollständig in einem ordnungsgemäßen Ermittlungsverfahren erhoben worden sein und bezogen auf den Zeitpunkt der Entscheidung des BVwG immer noch die gesetzlich gebotene Aktualität und Vollständigkeit aufweisen. Die Verwaltungsbehörde muss die die entscheidungsmaßgeblichen Feststellungen tragende Beweiswürdigung in ihrer Entscheidung in gesetzmäßiger Weise offen gelegt haben und das BVwG die tragenden Erwägungen der verwaltungsbehördlichen Beweiswürdigung teilen. In der Beschwerde darf kein dem Ergebnis des behördlichen Ermittlungsverfahrens entgegenstehender oder darüber hinausgehender für die Beurteilung relevanter Sachverhalt behauptet werden, wobei bloß unsubstantiiertes Bestreiten des von der Verwaltungsbehörde festgestellten Sachverhaltes ebenso außer Betracht bleiben kann wie ein Vorbringen, das gegen das in § 20 BFA-VG festgelegte Neuerungsverbot verstößt. Auf verfahrensrechtlich festgelegte Besonderheiten ist bei der Beurteilung Bedacht zu nehmen (vgl. dazu grundlegend VwGH 28.5.2014, Ra 2014/20/0017, 0018, sowie aus der jüngeren Rechtsprechung etwa VwGH 9.3.2020, Ra 2019/01/0499, mwN).

15       Im vorliegenden Verfahren wurden in der Beschwerde die Feststellungen zur Sicherheits- und Versorgungslage in Afghanistan nicht bloß unsubstantiiert bestritten.

16       Das BVwG durfte somit nicht von einem geklärten Sachverhalt im Sinne des § 21 Abs. 7 BFA-VG ausgehen, sondern hätte nach den oben dargestellten Kriterien eine mündliche Verhandlung durchführen müssen.

17       Die Missachtung der Verhandlungspflicht führt im Anwendungsbereich des Art. 6 EMRK und - wie hier gegeben - des Art. 47 GRC zur Aufhebung wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften, ohne dass die Relevanz dieses Verfahrensmangels geprüft werden müsste (vgl. VwGH 13.2.2020, Ro 2019/01/0007, mwN).

18       Das angefochtene Erkenntnis war daher gemäß § 42 Abs. 2 Z 3 lit. b und c VwGG wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufzuheben.

19       Die Kostenentscheidung gründet auf §§ 47 ff VwGG in Verbindung mit der VwGH-Aufwandersatzverordnung 2014.

Wien, am 10. September 2020

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:VWGH:2020:RA2020010094.L01

Im RIS seit

20.10.2020

Zuletzt aktualisiert am

20.10.2020
Quelle: Verwaltungsgerichtshof VwGH, http://www.vwgh.gv.at
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