TE Bvwg Erkenntnis 2020/3/2 W191 2198502-1

JUSLINE Entscheidung

Veröffentlicht am 02.03.2020
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Entscheidungsdatum

02.03.2020

Norm

AsylG 2005 §3
AsylG 2005 §3 Abs1
AsylG 2005 §3 Abs3
AsylG 2005 §3 Abs4
AsylG 2005 §3 Abs4b
AsylG 2005 §3 Abs5
AsylG 2005 §75 Abs24
B-VG Art133 Abs4
VwGVG §24 Abs1
VwGVG §28 Abs1
VwGVG §28 Abs2
VwGVG §28 Abs3

Spruch

W191 2198502-1/15E

IM NAMEN DER REPUBLIK!

Das Bundesverwaltungsgericht erkennt durch den Richter Dr. Rosenauer als Einzelrichter über die Beschwerde von XXXX , geboren am XXXX , Staatsangehörigkeit Afghanistan, vertreten durch MigrantInnenverein St. Marx, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 07.05.2018, Zahl 1165486601-170990946, nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung am 21.10.2019 zu Recht:

A)

I. Der Beschwerde wird stattgegeben und XXXX gemäß § 3 Abs. 1 Asylgesetz 2005 der Status des Asylberechtigten zuerkannt.

II. Gemäß § 3 Abs. 5 Asylgesetz 2005 wird festgestellt, dass XXXX damit kraft Gesetzes die Flüchtlingseigenschaft zukommt.

B)

Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.

Text

ENTSCHEIDUNGSGRÜNDE:

1. Verfahrensgang:

1.1. Der Beschwerdeführer (in der Folge BF), ein afghanischer Staatsangehöriger, reiste irregulär und schlepperunterstützt in das österreichische Bundesgebiet ein und stellte am 24.08.2017 einen Antrag auf internationalen Schutz im Sinne des § 2 Abs. 1 Z 13 Asylgesetz 2005 (in der Folge AsylG).

1.2. In seiner Erstbefragung am selben Tag durch Organe des öffentlichen Sicherheitsdienstes gab der BF im Beisein eines Dolmetsch für die Sprache Paschtu im Wesentlichen Folgendes an:

Er stamme aus der Provinz Laghman, Afghanistan, sei Angehöriger der Volksgruppe der Paschtunen, sunnitischer Moslem und ledig. Er habe zwölf Klassen die Schule besucht. Seine Familie (Eltern, Bruder, Schwester) lebe noch zu Hause.

Seine Heimat habe er vor 13 Monaten verlassen und sei schlepperunterstützt über - relativ genau - angegebene Länder bis nach Österreich gelangt. In Serbien habe er acht Monate in einem Flüchtlingslager verbracht und sei ihm zunächst zugesagt worden, dass er - wie manche seiner Freunde - dort Asyl bekomme. Dann seien jedoch Familien bevorzugt worden und er sei weiter nach Österreich gereist, wo eine Schwester des BF in Wien lebe.

Als Fluchtgrund gab der BF an, dass die Taliban verlangt hätten, dass er sich ihnen anschließe und dass seine Familie auf ihren Feldern Opium anpflanze. Sie hätten sich geweigert und sein Vater habe den BF, weil dieser deswegen bedroht worden sei, fortgeschickt, damit er nicht von den Taliban getötet werde.

1.3. Aufgrund eines EURODAC-Treffers, wonach der BF im Zuge der Stellung eines Asylantrages in Bulgarien erkennungsdienstlich behandelt worden war, führte das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (in der Folge BFA) Konsultationen mit dem Dublin-Mitgliedstaat Bulgarien für die Zuständigkeit für das Asylverfahren des BF gemäß Dublin-Übereinkommen, die negativ verliefen.

1.4. Bei seiner Einvernahme vor dem BFA am 13.04.2018, im Beisein eines Dolmetsch für die Sprache Paschtu, bestätigte der BF die Richtigkeit seiner bisherigen Angaben. Er stamme aus dem Dorf XXXX , wo er bis zum 12. Lebensjahr gelebt habe, danach habe er zwei Jahre in [der Provinz] Nangarhar gelebt und anschließend bis zu seiner Ausreise wieder im Heimatdorf. Er habe in der Landwirtschaft gearbeitet. In Afghanistan habe er noch zwei Schwestern.

Zu seinem Fluchtvorbringen befragt gab der BF an (Auszug aus der Niederschrift, Schreibfehler teilweise korrigiert):

"Es kamen unbekannte Leute zu unserem Dorf und haben Bauern Geld gegeben, um Drogen anzubauen. Und ich war in diesem Bereich sehr aktiv, ich habe mit den Bauern gesprochen und ihnen gesagt, dass es für die Gesundheit schlecht und ,,Haram'' ist.

2014 kamen die Taliban, also ich glaube, dass es Taliban waren, zu uns. Mein Vater hat in einer Abteilung gegen Drogen gearbeitet, die Männer kamen zu uns, diese haben mit meinem Vater gesprochen, dass mein Vater mit mir reden soll, ich aufhören soll, diese Kampagne gegen Drogen zu unterstützen. Die sind ein paar Mal gekommen und haben mit uns gesprochen, und beim zweiten Mal wurden wir bedroht und sehr viel geschlagen. Ich wurde so massiv geschlagen, dass eine Seite meines Kopfes nicht mehr funktioniert. Deswegen sind wir nach Nangarhar gegangen. Dort waren wir zwei Jahre, ich habe weiter diese Kampagne gegen Drogen unterstützt. Wir kamen zurück nach Laghman, ich war weiter gegen Drogen aktiv. Mein Vater hat von der Polizei zur Nationalarmee gewechselt, die Leute haben nach wie vor Drogen angebaut. Die Bauern haben Geld dafür erhalten, Drogen anzubauen, die Polizei hat diese Felder wiederum vernichtet. Die Leute, die die Drogen finanziert haben, haben, wenn sie nichts erhalten haben, Töchter von den Bauern genommen.

2016 wurde das Haus von denselben Leuten angegriffen. Sie haben mich brutalst angegriffen, ich habe vom linken Ohr geblutet, meine Zähne wurden auch gebrochen. Ich wurde so viel geschlagen, dass ich dachte, dass ich tot bin. Als mein Vater dies mitbekommen hat, er war zuvor nicht zu Hause, als ich geschlagen wurde, hat er für mich die Ausreise organisiert. "

Der BF beantwortete weitere Fragen dazu. Er gab an, es seien 20 bis 25 Männer nachts gekommen und sie hätten ihn mit allem, was sie gefunden hätten, geschlagen. Sie hätten ihn aus seinem Zimmer in den Hof gezerrt und draußen auf der Straße bewusstlos geschlagen. Sie hätten ihn auf der Straße [liegen] lassen, da sie gedacht hätten, dass er tot sei. Er sei früh morgens in die Klinik, ca. zehn Minuten mit dem PKW entfernt, gebracht worden. Er sei dort zwei bis drei Stunden gewesen, dann hätte ihn seine Mutter, deren Hand auch gebrochen worden sei, mit dem Auto abgeholt. Er habe insgesamt drei Briefe von den Taliban bekommen, in denen er aufgefordert worden sei, mit seiner [Anti-] Drogenkampagne aufzuhören. Er wisse von seinem Vater, dass ihn die Taliban suchen. Sein Bruder tue nun das gleiche und werde auch verfolgt.

Der BF legte zahlreiche medizinische Belege vor (sowohl aus Afghanistan als auch aus Österreich - Psychosozialer Dienst Wien, Diagnosezentrum Meidling, AmberMed u.a.m.). Er leide an: Gehörknöchelchendislokation, Schläfenbeinfraktur nach Traumatisierung, Organisches Psychosyndrom, Posttraumatische Belastungsstörung nach Gewalterfahrung (F43), mit Medikamentation.

1.5. Mit Bescheid vom 07.05.2018 wies das BFA den Antrag des BF auf internationalen Schutz vom 24.08.2017 gemäß § 3 Abs. 1 in Verbindung mit § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG ab (Spruchpunkt I.), erkannte ihm den Status eines Asylberechtigten ebenso wie gemäß § 8 Abs. 1 in Verbindung mit § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG den Status eines subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Afghanistan nicht zu (Spruchpunkt II.) und verband diese Entscheidung in Spruchpunkt IV. gemäß § 10 Abs. 1 Z 3 AsylG in Verbindung mit § 9 BFA-VG mit einer Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs. 2 Z 2 Fremdenpolizeigesetz 2005 (in der Folge FPG).

Ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen gemäß § 57 AsylG wurde ihm nicht erteilt (Spruchpunkt III.). Es wurde festgestellt, dass die Abschiebung des BF nach Afghanistan gemäß § 46 FPG zulässig sei (Spruchpunkt V.). Gemäß § 55 Abs. 1 bis 3 FPG betrage die Frist für die freiwillige Ausreise des BF 14 Tage ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung (Spruchpunkt VI.). In Spruchpunkt VII. wurde einer Beschwerde gegen diesen Bescheid gemäß § 18 Abs. 1 "Ziffer 3 + 5" die aufschiebende Wirkung aberkannt.

In der Bescheidbegründung traf die belangte Behörde Feststellungen zur Person des BF und zur Lage in seinem Herkunftsstaat. Der BF habe keine Verfolgung im Sinne des AsylG glaubhaft gemacht und es bestünden keine stichhaltigen Gründe gegen eine Abschiebung des BF nach Afghanistan. Im Falle der Rückkehr drohe ihm keine Gefahr, die eine Erteilung des subsidiären Schutzes rechtfertigen würde.

Der BF erfülle nicht die Voraussetzungen für die Erteilung eines Aufenthaltstitels gemäß § 57 AsylG, der Erlassung einer Rückkehrentscheidung stehe sein Recht auf Achtung des Privat- oder Familienlebens angesichts der kurzen Aufenthaltsdauer und des Fehlens von familiären oder privaten Bindungen im Inland nicht entgegen. Angesichts der abweisenden Entscheidung über den Antrag auf internationalen Schutz ergebe sich die Zulässigkeit einer Abschiebung des BF nach Afghanistan. Die Frist für die freiwillige Ausreise von 14 Tagen ergebe sich aus § 55 FPG, da besondere Umstände, die der BF bei der Regelung seiner persönlichen Verhältnisse zu berücksichtigen habe, nicht gegeben seien.

Beweiswürdigend führte das BFA (zusammengefasst) aus, dass der BF bezüglich seiner behaupteten Herkunftsregion, Volks- und Staatsangehörigkeit aufgrund seiner Sprach- und Lokalkenntnisse glaubwürdig wäre. Die Feststellungen zur Situation in Afghanistan wären glaubhaft, weil sie verlässlichen, seriösen, aktuellen und unbedenklichen Quellen entstammten, deren Inhalt schlüssig und widerspruchsfrei sei.

Der BF habe eine aktuelle asylrelevante Verfolgung nicht glaubhaft gemacht, was im Wesentlichen mit der Art und Weise, in der der BF seine Probleme geschildert hätte, begründet wurde. Seine Angaben seien mehrfach vage und unplausibel geblieben. Wobei der BF seine Kopfverletzungen erlitten habe, könne nicht festgestellt werden.

Noch vor Erhalt des erstbehördlichen Bescheides legte der BF den Armeeausweis seines Vaters in Kopie vor.

1.6. Gegen diesen Bescheid brachte der BF mit Schreiben seines zur Vertretung bevollmächtigten Rechtsberaters vom 12.06.2018 fristgerecht das Rechtsmittel der Beschwerde beim Bundesverwaltungsgericht (in der Folge BVwG) ein.

In der Beschwerdebegründung wurde im Wesentlichen das Vorbringen des BF im Verfahren kurz zusammengefasst wiederholt und moniert, dass dem BF Verfolgung durch die Taliban wegen unterstellter feindlicher Gesinnung drohe.

Aus diversen Berichten zu Afghanistan wurde zitiert. Die Beweiswürdigung der belangten Behörde sei nicht zutreffend, der BF habe seine Asylgründe schlüssig, ausführlich und glaubhaft geschildert.

Beantragt wurde unter anderem die Durchführung einer mündlichen Beschwerdeverhandlung.

1.7. Mit Beschluss vom 19.06.2018, Zahl W191 2198502-1/3Z, erkannte das BVwG der Beschwerde gemäß § 18 Abs. 5 BFA-VG die aufschiebende Wirkung zu.

In der Entscheidungsbegründung wurde dazu im Wesentlichen ausgeführt, dass aus der dem BVwG zum derzeitigen Entscheidungszeitpunkt zur Verfügung stehenden Aktenlage nach Durchführung einer Grobprüfung eine Verletzung der genannten, durch die EMRK garantierten Rechte bei einer Rückführung des BF nach Afghanistan aufgrund der besonderen Gegebenheiten im konkreten Fall angesichts der kurzen Entscheidungsfrist nicht mit der in diesem Zusammenhang erforderlichen Sicherheit ausgeschlossen werden könne.

1.8. Mit Eingabe vom 13.03.2019 legte der nunmehrige gewillkürte Vertreter des BF weitere medizinische Belege vor (Befund Diagnosezentrum Meidling vom 26.02.2018; Aufklärung Operationsfreigabe Universitätsklinik für Hals-, Nasen- und Ohrenkrankheiten vom 01.03.2017; Patienteninformation Anästhesie, Medizinische Universität Wien; HNO-ärztlicher Befund vom 18.01.2018, Befund AKH Wien vom 15.02.2019).

1.9. Mit Schreiben vom 25.10.2019 teilte das Präsidium des BVwG der zuständigen Gerichtsabteilung mit, dass bei der Volksanwaltschaft eine Beschwerde hinsichtlich der Verfahrensdauer eingelangt sei.

1.10. Das BVwG führte am 21.10.2019 eine öffentliche mündliche Verhandlung unter Beisein eines Dolmetsch für die Sprache Paschtu durch, zu der der BF im Beisein seines Vertreters und seines als anerkannter Flüchtling in Wien lebenden Schwagers als Vertrauensperson persönlich erschien.

Dabei bestätigte der BF seine bisher im Verfahren gemachten Angaben zu seiner Person und korrigierte die bisher vorgenommene Schreibweise seines Nachnamens.

Zu seiner Gesundheit legte der BF weitere Belege vor und gab dazu an (Auszug aus der Niederschrift):

"RI [Richter]: Leiden Sie an chronischen oder akuten Krankheiten oder anderen Leiden oder Gebrechen?

BF: Ja, ich leide an Epilepsie. Ich habe bei Schlägen einen Riss meines linken Trommelfells erlitten und höre mit dem linken Ohr derzeit nicht. Ich wurde in Afghanistan einmal und in Österreich zweimal operiert. Seit meiner Jugend habe ich Magenschmerzen. Ich wurde in Österreich untersucht (Gastroskopie) und nehme Medikamente (Sirup sowie Tabletten gegen Reflux). Gegen Epilepsie nehme ich Carbamazepin sowie Neurotroph - Anmerkung: letzteres laut Angabe des VP [Vertrauensperson]).

RI: Wie äußert sich bei Ihnen die Epilepsie?

BF: Wenn ich traurig bin, dann habe ich die Epilepsie-Anfälle. Ich kann mich danach nicht daran erinnern. Einmal hatte ich einen Anfall in der U-Bahn.

RI an VP: Wie oft hatte der BF schon solche Anfälle?

VP: Er hatte schon zweimal einen Anfall. Ich bin dann mit ihm zu einer medizinischen Einrichtung gegangen, weil er über keine Versicherung verfügte, weil er die Grundversorgung verlassen hat und zu uns gezogen ist.

RI: Im Akt befindet sich eine Bestätigung des Psychosozialen Dienstes (PSD) Wien vom 23.01.2018, wonach der BF an einer PTBS (F43) nach Gewalterfahrung leidet und Psychopharmaka verschrieben bekommen hat. Nehmen Sie nach wie vor Medikamente, und sind Sie in Behandlung?

BF (nach Gespräch mit BFV [Vertreter des BF] und anschließender Übersetzung durch D): Ich gehe ca. alle zwei Monate zum PSD zu einer Gesprächstherapie. Als Dolmetsch nehme ich einen Freund oder meinen Schwager mit.

Anmerkung: VP bestätigt dies.

BF: Ich nehme zwei Tabletten pro Tag, eine in der Früh und eine am Abend.

BFV legt vor eine Zuweisung zu einem Facharzt für Psychiatrie sowie eine Medikation (Neurotop, Ausmaß wie vom BF angegeben).

Nach Nachschau im Internet handelt es sich dabei um ein Medikament gegen Epilepsie.

RI: Haben Sie solche epileptischen Anfälle auch schon vor dem Vorfall mit den Taliban gehabt?

BF: Ja, ich hatte ca. sieben oder acht Anfälle, den ersten, als ich ca. neun Jahre alt war. [...]"

Zu seiner Identität legte der BF zwei Schulzeugnisse aus Afghanistan in Kopie sowie die Tazkira seines Vaters in Kopie (Vor- und Rückseite) vor. Er gab an, dass zwei Cousins als anerkannte Flüchtlinge in Wien leben (einer davon sei sein Schwager, die VP).

Bezüglich seiner Integration legt der BF ein Zeugnis der Integrationsprüfung A1, eine Teilnahmebestätigung für den Kurs A2 vom 03.02.2020 sowie ein Empfehlungsschreiben einer befreundeten Familie des Schwagers des BF vor. Er besuche regelmäßig das Sprachcafe und habe dort einige Familien kennengelernt, zu denen er gute Kontakte habe. Er werde zu verschiedenen Anlässen (etwa zu Silvester) eingeladen.

Zu seinem Fluchtgrund brachte der BF neu vor, dass inzwischen sein Vater von den Taliban entführt worden sei und seine Familie wie auch seine Verwandten nunmehr in Peshawar (Pakistan) lebe. Dazu legte er eine Anzeige seiner Mutter bei der Behörde vor, wonach sein Vater seit 25.11.2018 verschollen (von den Taliban mitgenommen) sei:

"[...] RI: Seit wann haben Sie diese Anzeige?

BF: Das ist eine Kopie, ich habe sie seit ca. drei Monaten.

RI: Wie haben Sie sie bekommen?

BF: Ich habe sie in Fotoform erhalten.

RI an VP: Können Sie dazu etwas beitragen?

VP (auf Deutsch): Ich habe die Mutter des BF aufgefordert, diese Anzeige hierherzuschicken, sie hat sie vor ca. drei Monaten hierhergeschickt.

RI ersucht D, die Anzeige zu übersetzen und die wesentlichen Angaben bekanntzugeben.

D: Die Anzeige ist datiert mit 04.09.1397 (umgerechnet 25.11.2018) und richtet sich an die Verwaltungsbehörde der Regierung des Distriktes Qarghayi. Darin wird von XXXX , Vater: XXXX Sohn des XXXX , Einwohner der Provinz Laghman, Distrikt Qarghayi, verheiratet seit ca. 30 Jahren angezeigt, dass: "Mein Ehemann wurde von unbekannten Personen auf dem Weg von der Arbeit, nämlich vom Armee Corps 201, erwischt und anschließend entführt bzw. mitgenommen. Mein Mann ist Oberst. Daher ersuche ich, dass mein Mann gefunden wird und die Täter zur Rechenschaft gezogen werden." [...]"

Auf Fragen zu seinen Fluchtgründen gab der BF unter anderem an:

"RI: Warum haben Sie sich so gegen den Anbau von Opium gewehrt?

BF: Weil es gegen die Menschenrechte verstößt und schädlich ist.

RI: Sie haben gesagt, dass Ihnen auch die Zähne gebrochen wurden. Was haben Sie diesbezüglich medizinisch gemacht?

BF: Ich bin zu einem Arzt gegangen und ließ meine Zähne von ihm untersuchen. Ich blieb in Afghanistan ungefähr einen Monat lang, nachdem meine Zähne gebrochen wurden, dann verließ ich Afghanistan.

RI: Sind die Zähne noch immer gebrochen?

BF: Nein, mir wurden hier ungefähr fünf Zähne gezogen. Manche Zähne von mir wurden hier behandelt bzw. habe ich Füllungen bekommen.

RI: Bei welchem Zahnarzt haben Sie dies machen lassen?

BF macht undeutliche Angaben.

RI an VP: Wissen Sie darüber Bescheid?

VP: Ja, er war zuerst bei einem Arzt in 1050 Wien und danach bei meinem Zahnarzt in 1200 Wien in der Pielachgasse, Dr. XXXX .

BF: Ich habe die Zähne bei beiden Ärzten reparieren lassen.

RI: Was würde Ihnen konkret passieren, wenn Sie jetzt wieder in Ihren Herkunftsstaat zurückkehren müssten?

BF: Ich würde von den Taliban getötet werden.

RI: Glauben Sie, dass Ihr Vater noch lebt?

BF: Wir wissen es nicht. Mein Vater ist wegen mir mitgenommen worden. Es wurden auch bereits Drohungen ausgesprochen. Darüber gibt es auch Zettel, dass sie uns bzw. alle unsere Familienangehörigen töten, wenn sie uns erwischen. Die Taliban haben bereits einen meiner Lehrer von der Schule, nämlich Mathelehrer namens XXXX bzw. XXXX und einen Malek, einen der Dorfältesten namens XXXX und einen Schuldirektor getötet.

RI: Wie alt ist Ihr Bruder?

BF: Mein Bruder ist 25 Jahre alt.

RI: Wie viele Jahre ist er älter oder jünger als Sie?

BF: Er ist drei Jahre älter als ich.

RI: Wieso haben zuerst Sie gegen die Taliban aufbegehrt und nicht Ihr älterer Bruder?

BF: Er wehrte sich auch gegen die Taliban und ich auch. Ich wollte einen Schritt dahingehend setzen bzw. gegen den Anbau von Koknar (Blume, Opium). [...]

RI: Wie ist es passiert, dass Ihr Vater mitgenommen worden ist?

BF: Wie es dazu gekommen ist, weiß ich nicht, weil ich zu dem Zeitpunkt in Österreich war.

RI: Ihre Mutter hat das nicht erzählt?

BF: Mein Vater war von der Arbeitsstelle bzw. vom Armee Corps nach Hause unterwegs. Auf dem Weg wurde er erwischt und anschließend mitgenommen. Etwa fünf Tage danach erstattete meine Mutter eine Anzeige, und seitdem wissen wir nichts mehr über seinen Verbleib. Dann fühlte meine Familie sich gezwungen, aus Afghanistan wegzugehen. Daher fuhren sie nach Peshawar. Danach hat meine Familie etwa vier- oder fünfmal die Einnahmen von den Ernten der Felder von den Bauern erhalten. Danach haben die Bauern meine Familie mit dem Tode bedroht. Sie sagten, sollte meine Mutter oder mein Bruder oder meine Schwester jemals wieder wegen den Einnahmen der Ernten auftauchen, würden sie sie töten. Nun leben meine Familienangehörigen in Peshawar und haben Probleme. [...]"

Der Schwager des BF wurde mit seiner Zustimmung zu den Angaben des BF befragt, die er bestätigte und auf Nachfrage wie folgt näher ausführte:

"RI: Warum hat Ihr Schwager Afghanistan verlassen?

VP: Er hat viele Probleme bekommen. Er ist von den Taliban geschlagen worden. Er war gegen Drogen bzw. gegen Opiumanbau bzw. gegen Koknaranbau.

RI: Wissen Sie, wo und wann der Vater Ihrer Frau entführt worden ist?

VP: Ja, meine Schwiegermutter hat mich angerufen und hat mir von dem Vorfall mitgeteilt. Zuerst wussten wir nicht, wer meinen Schwiegervater entführt hat. Nachdem meine Schwiegermutter bei der Distriktverwaltung Anzeige erstattet hatte, haben wir dann erfahren, dass mein Schwiegervater von den Taliban mitgenommen worden ist. Vor der Mitnahme meines Schwiegervaters hat die Familie des BF auch Drohungen erhalten.

RI: Wie erklären Sie die Differenz von fünf Tagen zwischen dem Verschwinden des Vaters und der Anzeige nach den Angaben des BF?

VP: Die Mutter vom BF hat zu Beginn ihm nicht von dem Vorfall erzählt, weil der BF krank war. Zuerst setzte meine Schwiegermutter mich zur Kenntnis über den Vorfall. Nachdem sie die Anzeige bei der Distriktverwaltung erstattet hatte, hat der BF auch dann davon erfahren.

Anmerkung: Die Frage wurde auf Deutsch gestellt und auf Paschtu beantwortet. Der RI ersucht den D, die Frage der VP zu übersetzen.

VP: Der BF ist krank. Seine Mutter erzählt ihm nicht vieles. Ich bin der älteste Schwiegersohn in der Familie, daher erzählt mir meine Schwiegermutter mehr als ihm. Der BF hat von dem Vorfall erst erfahren, nachdem meine Schwiegermutter die Anzeige gemacht hatte."

Auf die Frage des BFV: "Wurden Sie jemals persönlich bedroht?" sagte der BF: "Ja".

"BFV: Beschreiben Sie näher, wie das geschah.

BF: Ich bin von den Taliban bedroht worden. Ich habe auch Drohbriefe erhalten.

BF und VP durchforsten gemeinsam die Unterlagen des BF. Sie legen vor ein handschriftliches Schreiben A5, bei dem es sich angeblich um einen originalen Drohbrief der Taliban handle. Auch dieser wird in Kopie zum Akt genommen.

BF: Dieses Schreiben wurde an mich geschickt. Es lag im Innenbereich hinter der Tür.

RI an D: Können Sie bitte den Brief übersetzen.

D: Der Brief ist adressiert an den BF, datiert mit 30.11.1437 (umgerechnet 03.09.2016) und hat den Inhalt, dass der BF wiederholt gewarnt worden sei, die Kampagne gegen Drogen einzustellen. Da er dies nicht getan habe, habe sich das Islamische Emirat Afghanistan entschlossen, ihn wie seine Freunde auszuschalten und in das Loch der Hölle zu schicken.

BF: Mit Freunden sind die von mir o.g. Personen (Mathelehrer, Malek, usw.) gemeint.

RI: Wann haben Sie diesen Brief und von wem bekommen?

BF: Mein Schwager hat mir diesen Brief gegeben.

VP: Ich bin im Jahr 2018 mit meiner Frau nach Peshawar geflogen und habe die Mutter des BF besucht. Sie hat uns diesen Brief gegeben. Sie hat gesagt, er sei gekommen, als der BF schon weg war."

Das erkennende Gericht brachte weitere Erkenntnisquellen zum Herkunftsstaat des BF in das Verfahren ein (aufgelistet unter Punkt 2.).

Dem BFA wurden die Verhandlungsschrift samt Beilagen übermittelt. Es hat dazu keine Stellungnahme abgegeben.

2. Beweisaufnahme:

Zur Feststellung des für die Entscheidung maßgeblichen Sachverhaltes wurde im Rahmen des Ermittlungsverfahrens Beweis erhoben durch:

* Einsicht in den dem BVwG vorliegenden Verwaltungsakt des BFA, beinhaltend die Niederschriften der Erstbefragung am 25.08.2017 und der Einvernahme vor dem BFA am 13.04.2018, die Aktenvorgänge zu seinem Dublinverfahren betreffend Bulgarien, die vom BF vorgelegten Beweismittel zu seiner Gesundheit sowie die Beschwerde vom 12.06.2018

* Einsicht in Dokumentationsquellen betreffend den Herkunftsstaat des BF im erstbehördlichen Verfahren (offenbar Auszug aus dem Länderinformationsblatt der Staatendokumentation sowie eine Accord-Anfragebeantwortung, Bescheidseiten 13 bis 91 in dem an diesen Stellen unnummerierten Verwaltungsakt)

* Einvernahme des BF und Befragung seines Schwagers als Vertrauensperson im Rahmen der öffentlichen mündlichen Verhandlung vor dem BVwG am 10.02.2020 sowie Einsicht in die vom BF im Beschwerdeverfahren vorgelegten Belege zu seiner Identität (zwei Schulzeugnisse des BF, Tazkira seines Vaters), zu seinem Fluchtvorbringen (Anzeige seiner Mutter betreffend die Entführung des Vaters des BF), zu seiner Gesundheit und zu seinen Integrationsbemühungen (Deutschkurse, Empfehlungsschreiben)

* Einsicht in folgende in der öffentlichen mündlichen Verhandlung vom BVwG zusätzlich eingebrachte Erkenntnisquellen zum Herkunftsstaat des BF:

* Feststellungen und Berichte über die allgemeine Lage im Herkunftsstaat sowie in der Provinz Laghman und zur medizinischen Versorgung (Auszüge aus dem Länderinformationsblatt der Staatendokumentation vom 13.11.2019)

* Auszug aus einer Auskunft der Schweizerischen Flüchtlingshilfe-Länderanalyse vom 05.04.2017 zu "Afghanistan: Psychiatrische und psychotherapeutische Behandlung"

* Auszug aus einer gutachterlichen Stellungnahme eines Ländersachverständigen für Afghanistan (Dr. Sarajuddin Rasuly in der öffentlichen mündlichen Verhandlung vor dem Asylgerichtshof am 13.06.2012 im Verfahren C15 410.319-1/2009) zum Vorbringen des BF, er habe sich gegen die Taliban gewandt und werde deshalb von diesen verfolgt

3. Ermittlungsergebnis (Sachverhaltsfeststellungen):

Folgende Feststellungen werden aufgrund des glaubhaft gemachten Sachverhaltes getroffen:

3.1. Zur Person des BF:

3.1.1. Der BF führt den Namen XXXX , geboren am XXXX , ist Staatsangehöriger der Islamischen Republik Afghanistan, Angehöriger der Volksgruppe der Paschtunen und bekennt sich zur sunnitischen Glaubensrichtung des Islam. Die Muttersprache des BF ist Paschtu, er spricht darüber hinaus auch Dari und versteht etwas Urdu und Englisch.

3.1.2. Der BF stammt aus XXXX , Distrikt Qarghayi, Provinz Laghman, Afghanistan. Er hat elf Jahre die Schule besucht und ist ledig. Seine Familie (Mutter, Bruder, zwei Schwestern, weitere Verwandte) lebt seit der Entführung seines Vaters im November 2018 in Peshawar (Pakistan). Der BF hat Kontakt zu seiner Familie.

3.1.3. Der BF leidet an vielfachen gesundheitlichen Problemen. Er leidet an Epilepsie, hat eine Gehörknöchelchendislokation, Schläfenbeinfraktur nach Traumatisierung, Organisches Psychosyndrom, Posttraumatische Belastungsstörung nach Gewalterfahrung (F43), ist in ärztlicher Behandlung sowohl bezüglich seiner physischen als auch psychischen Probleme, nimmt regelmäßig verordnete Medikamente und ist in regelmäßiger psychotherapeutischer Betreuung durch den PSD Wien. Zahnverletzungen (gebrochene Zähne) wurden von verschiedenen Zahnärzten in Wien saniert.

3.1.4. Der BF bemüht sich in Österreich ernsthaft um seine Integration. Er verfügt über Kenntnisse der deutschen Sprache und bemüht sich um die Ablegung der Deutschprüfung A2. Er hat in Österreich Bekannt- und Freundschaften geschlossen, betreibt regelmäßig Sport, geht täglich ins Sprachcafe und wohnt bei seiner asylberechtigten Schwester mit deren Familie in Wien.

3.2. Zu den Fluchtgründen des BF:

3.2.1. Der BF hat glaubhaft gemacht, dass ihn die Taliban für ihren Kampf rekrutieren wollten und verlangten, dass seine Familie Schlafmohn (Opium) anpflanze. Als er sich weigerte und bei einer Kampagne gegen Drogenanbau mitmachte - sein Vater arbeitete bei einer Abteilung der Polizei bzw. der Nationalarmee gegen Drogenanbau - wurde der BF im Jahr 2016 in seinem Haus von ca. 20 bis 25 Männern angegriffen, auf die Straße gezerrt und dort so sehr geschlagen, dass er schwere Verletzungen erlitt. Sein Vater hat danach die Ausreise des BF organisiert und wurde selbst im November 2018 von den Taliban entführt. Über seinen Verbleib ist nichts bekannt, die Familie des BF verließ aus diesen Gründen ebenfalls Afghanistan und lebt nun in Peshawar (Pakistan).

3.2.2. Der BF befürchtet, im Fall seiner Rückkehr nach Afghanistan auf Grund seines Verhaltens gegenüber den Taliban in exponierter Stellung (Teilnahme an einer Antidrogenkampagne) wegen unterstellter politischer bzw. religiöser Gesinnung von den Taliban getötet zu werden.

3.2.3. Zu einer möglichen Rückkehr des BF in den Herkunftsstaat:

Es konnte vom BF glaubhaft vermittelt werden, dass er im Falle der Rückkehr in den Herkunftsstaat einer Verfolgung aus den oben angeführten asylrelevanten Gründen ausgesetzt wäre.

3.2.4. Dem BF steht eine zumutbare innerstaatliche Flucht- bzw. Schutzalternative nicht zur Verfügung, zumal er landesweit aufgefunden werden könnte und die staatlichen Einrichtungen seines Herkunftsstaates nicht hinreichend imstande wären, ihn vor dieser Verfolgung zu schützen.

3.2.5. Es liegen keine Gründe vor, nach denen der BF von der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten auszuschließen ist.

3.3. Zur Lage im Herkunftsstaat des BF:

3.3.1. Auszug aus dem Länderinformationsblatt der Staatendokumentation des BFA zu Afghanistan ("Gesamtaktualisierung am 13.11.2019", Schreibfehler teilweise korrigiert):

"[...] 2. Politische Lage

Afghanistan ist ein Zentralstaat mit 34 Provinzen, die in Distrikte gegliedert sind (AA 15.04.2019). Auf einer Fläche von ca. 632.000 Quadratkilometern (CIA 24.05.2019) leben ca. 32 Millionen Menschen (CSO 2019).

Im Jahr 2004 wurde die neue Verfassung angenommen (BFA 7.2016; vgl. Casolino 2011), die vorsieht, dass kein Gesetz gegen die Grundsätze und Bestimmungen des Islam verstoßen darf und alle Bürgerinnen und Bürger Afghanistans, Mann wie Frau, gleiche Rechte und Pflichten vor dem Gesetz haben (BFA 3.2014; vgl. Casolino 2011, MPI 27.01.2004).

Die Verfassung der islamischen Republik Afghanistan sieht vor, dass der Präsident der Republik direkt vom Volk gewählt wird und sein Mandat fünf Jahre beträgt (Casolino 2011). Implizit schreibt die Verfassung dem Präsidenten auch die Führung der Exekutive zu (AAN 13.02.2015), und die Provinzvorsteher, sowie andere wichtige Verwaltungsbeamte, werden direkt vom Präsidenten ernannt und sind diesem rechenschaftspflichtig. Viele werden aufgrund persönlicher Beziehungen ausgewählt (EC 18.05.2019).

In Folge der Präsidentschaftswahlen 2014 wurde am 29.09.2014 Mohammad Ashraf Ghani als Nachfolger von Hamid Karzai in das Präsidentenamt eingeführt. Gleichzeitig trat sein Gegenkandidat Abdullah Abdullah das Amt des Regierungsvorsitzenden (CEO) an - eine per Präsidialdekret eingeführte Position, die Ähnlichkeiten mit der Position eines Premierministers aufweist. Ghani und Abdullah stehen an der Spitze einer Regierung der nationalen Einheit (National Unity Government, NUG), auf deren Bildung sich beide Seiten in Folge der Präsidentschaftswahlen verständigten (AA 15.04.2019; vgl. AM 2015, DW 30.9.2014). Bei der Präsidentenwahl 2014 gab es Vorwürfe von Wahlbetrug in großem Stil (RFE/RL 29.05.2019). Die ursprünglich für den 20.04.2019 vorgesehene Präsidentschaftswahl wurde mehrfach verschoben, da die Wahlbehörden auf eine landesweite Wahl so kurz nach der Parlamentswahl im Oktober 2018 nicht vorbereitet waren. Der Oberste Gerichtshof Afghanistans konnte die Herausforderungen für die Wahlkommission nachvollziehen und verlängerte die Amtszeit von Präsident Ashraf Ghani bis zu der auf den 28.09.2019 verschobenen Präsidentschaftswahl (DZ 21.4.2019).

Parlament und Parlamentswahlen

Die afghanische Nationalversammlung ist die höchste legislative Institution des Landes und agiert im Namen des gesamten afghanischen Volkes (Casolino 2011). Sie besteht aus zwei Kammern: dem Unterhaus oder Volksvertretung (Wolesi Jirga) mit 250 Abgeordneten (für fünf Jahre gewählt), sowie dem Oberhaus oder Ältestenrat (Meschrano Jirga) mit 102 Abgeordneten (AA 15.04.2019).

Das Oberhaus setzt sich laut Verfassung zu je einem Drittel aus Vertretern der Provinz- und Distrikträte zusammen. Das letzte Drittel der Senatoren wird durch den Präsidenten bestimmt (AA 15.04.2019). Die Hälfte der vom Präsidenten entsandten Senatoren müssen Frauen sein. Weiters vergibt der Präsident zwei Sitze für die nomadischen Kutschi und zwei weitere an behinderte Personen. Auch ist de facto ein Sitz für einen Vertreter der Hindu- bzw. Sikh-Gemeinschaft reserviert (USDOS 13.03.2019).

Die Sitze im Unterhaus verteilen sich proportional zur Bevölkerungszahl auf die 34 Provinzen. Verfassungsgemäß sind für Frauen 68 Sitze, für die Minderheit der Kutschi zehn Sitze und für Vertreter der Hindu- bzw. Sikh-Gemeinschaft ein Sitz reserviert (AAN 22.01.2017; vgl. USDOS 13.03.2019, Casolino 2011).

Die Rolle des Parlaments bleibt begrenzt. Ob das neue Parlament, das sich nach den Wahlen vom Oktober 2018 erst mit erheblicher Verzögerung im April 2019 konstituierte, eine andere Rolle einnehmen kann, muss sich zunächst noch erweisen. Zwar beweisen die Abgeordneten mit kritischen Anhörungen und Abänderungen von Gesetzentwürfen in teils wichtigen Punkten, dass das Parlament grundsätzlich funktionsfähig ist, doch nutzt das Parlament auch seine verfassungsmäßigen Rechte, um die Arbeit der Regierung destruktiv zu behindern, Personalvorschläge der Regierung z.T. über längere Zeiträume zu blockieren und sich Zugeständnisse wohl auch durch finanzielle Zuwendungen an einzelne Abgeordnete abkaufen zu lassen. Insbesondere das Unterhaus hat sich dadurch sowohl die Regierung der Nationalen Einheit als auch die Zivilgesellschaft zum Gegner gemacht. Generell leidet die Legislative unter einem kaum entwickelten Parteiensystem und mangelnder Rechenschaft der Parlamentarier gegenüber ihren Wählern (AA 02.09.2019).

Die Präsidentschaftswahlen und Parlamentswahlen finden gemäß Verfassung alle fünf Jahre statt (USIP 11.2013). Mit dreijähriger Verzögerung fanden zuletzt am 20. und 21.10.2018 - mit Ausnahme der Provinz Ghazni - Parlamentswahlen statt (AA 15.04.2019; vgl. USDOS 13.03.2019). Die letzten Präsidentschaftswahlen fanden am 28.09.2019 statt; ein vorläufiges Ergebnis wird laut der unabhängigen Wahlkommission (IEC) für den 14.11.2019 erwartet (RFE/RL 20.10.2019).

Bei den Wahlen zur Nationalversammlung am 20. und 21.10.2018 gaben etwa vier Millionen der registrierten 8,8 Millionen Wahlberechtigten ihre Stimme ab. In der Provinz Kandahar musste die Stimmabgabe wegen eines Attentats auf den Provinzpolizeichef um eine Woche verschoben werden, und in der Provinz Ghazni wurde die Wahl wegen politischer Proteste, welche die Wählerregistrierung beeinträchtigten, nicht durchgeführt (s.o.). Die Wahl war durch Unregelmäßigkeiten geprägt, darunter Betrug bei der Wählerregistrierung und Stimmabgabe, Einschüchterung der Wähler, und einige Wahllokale mussten wegen Bedrohungen durch örtliche Machthaber schließen. Die Taliban und andere Gruppierungen behinderten die Stimmabgabe durch Drohungen und Belästigungen. Durch Wahl bezogene Gewalt kamen 56 Personen ums Leben, und 379 wurden verletzt. Mindestens zehn Kandidaten kamen im Vorfeld der Wahl bei Angriffen ums Leben, wobei die jeweiligen Motive der Angreifer unklar waren (USDOS 13.03.2019).

Wegen Vorwürfen des Betruges und des Missmanagements erklärte Anfang Dezember 2018 die afghanische Wahlbeschwerdekommission (ECC) alle in der Provinz Kabul abgegebenen Stimmen für ungültig (RFE/RL 06.12.2018). Die beiden Wahlkommissionen einigten sich in Folge auf eine neue Methode zur Zählung der abgegebenen Stimmen (TN 12.12.2018). Die Provinzergebnisse von Kabul wurden schließlich am 14.05.2019, fast sieben Monate nach dem Wahltag, veröffentlicht. In einer Ansprache bezeichnete Präsident Ghani die Wahl als "Katastrophe" und die beiden Wahlkommissionen als "ineffizient" (AAN 17.05.2019).

Politische Parteien

Die afghanische Verfassung erlaubt die Gründung politischer Parteien, solange deren Programm nicht im Widerspruch zu den Prinzipien des Islam steht (USDOS 29.05.2018). Um den Parteien einen allgemeinen und nationalen Charakter zu verleihen, verbietet die Verfassung jeglichen Zusammenschluss in politischen Organisationen, der aufgrund von ethnischer, sprachlicher (Casolino 2011; vgl. MPI 27.01.2004) oder konfessioneller Zugehörigkeit erfolgt (Casolino 2011; vgl. MPI 27.01.2004, USDOS 29.05.2018). Auch darf keine rechtmäßig zustande gekommene Partei oder Organisation ohne rechtliche Begründung und ohne richterlichen Beschluss aufgelöst werden (MPI 27.01.2004).

Das kaum entwickelte afghanische Parteiensystem weist mit über 70 registrierten Parteien eine starke Zersplitterung auf (AA 02.09.2019). Die politischen Parteien haben ihren Platz im politischen System Afghanistans noch nicht etablieren können (DOA 17.03.2019). Die meisten dieser Gruppierungen erscheinen mehr als Machtvehikel ihrer Führungsfiguren denn als politisch-programmatisch gefestigte Parteien (AA 02.09.2019; vgl. AAN 06.05.2018, DOA 17.03.2019). Ethnische Zugehörigkeit, persönliche Beziehungen und ad hoc geformte Koalitionen spielen traditionell eine größere Rolle als politische Organisationen (AA 02.09.2019).

Das derzeitige Wahlsystem ist personenbezogen, die Parteien können keine Kandidatenlisten erstellen, es sind keine Sitze für die Parteien reserviert, und es ist den Parteien untersagt, Fraktionen im Parlament zu gründen. Der Parteivorsitz wird nicht durch parteiinterne Abläufe bestimmt, sondern wird eher wie ein partimoniales Erbgut gesehen, das von einer Generation an die nächste, vom Vater zum Sohn, übergeben wird. Die Menschen vertrauen den Parteien nicht, und junge, gebildete Leute sind nicht gewillt, solchen Parteien beizutreten (DOA 17.03.2019).

Die Hezb-e Islami wird von Gulbuddin Hekmatyar, einem ehemaligen Warlord, der zahlreicher Kriegsverbrechen beschuldigt wird, geleitet. Im Jahr 2016 kam es zu einem Friedensschluss, und Präsident Ghani sicherte den Mitgliedern der Hezb-e Islami Immunität zu. Hekmatyar kehrte 2016 aus dem Exil nach Afghanistan zurück und kündigte im Jänner 2019 seine Kandidatur für die Präsidentschaftswahlen 2019 an (CNA 19.01.2019).

Im Februar 2018 hat Präsident Ghani in einem Plan für Friedensgespräche mit den Taliban diesen die Anerkennung als politische Partei in Aussicht gestellt (DP 16.06.2018). Bedingung dafür ist, dass die Taliban Afghanistans Verfassung und einen Waffenstillstand akzeptieren (NZZ 27.01.2019). Die Taliban reagierten nicht offiziell auf den Vorschlag (DP 16.06.2018; s. folgender Abschnitt, Anm.).

Friedens- und Versöhnungsprozess

Hochrangige Vertreter der Taliban sprachen zwischen Juli 2018 (DZ 12.08.2019) - bis zum plötzlichen Abbruch durch den US-amerikanischen Präsidenten im September 2019 (DZ 08.09.2019) - mit US-Unterhändlern über eine politische Lösung des nun schon fast 18 Jahre währenden Konflikts. Dabei ging es vor allem um Truppenabzüge und Garantien der Taliban, dass Afghanistan nicht zu einem sicheren Hafen für Terroristen wird. Die Gespräche sollen zudem in offizielle Friedensgespräche zwischen der Regierung in Kabul und den Taliban münden. Die Taliban hatten es bisher abgelehnt, mit der afghanischen Regierung zu sprechen, die sie als "Marionette" des Westens betrachten - auch ein Waffenstillstand war Thema (DZ 12.08.2019; vgl. NZZ 12.08.2019; DZ 08.09.2019).

Präsident Ghani hatte die Taliban mehrmals aufgefordert, direkt mit seiner Regierung zu verhandeln, und zeigte sich über den Ausschluss der afghanischen Regierung von den Friedensgesprächen besorgt (NYT 28.01.2019; vgl. DP 28.01.2019, MS 28.01.2019). Bereits im Februar 2018 hatte Präsident Ghani die Taliban als gleichberechtigte Partner zu Friedensgesprächen eingeladen und ihnen eine Amnestie angeboten (CR 2018). Ein für Mitte April 2019 in Katar geplantes Dialogtreffen, bei dem die afghanische Regierung erstmals an den Friedensgesprächen mit den Taliban beteiligt gewesen wäre, kam nicht zustande (HE 16.05.2019). Im Februar und Mai 2019 fanden in Moskau Gespräche zwischen Taliban und bekannten afghanischen Oppositionspolitikern, darunter der ehemalige Staatspräsident Hamid Karzai und mehrere Warlords, statt (Qantara 12.02.2019; vgl. TN 31.05.2019). Die afghanische Regierung war weder an den beiden Friedensgesprächen in Doha, noch an dem Treffen in Moskau beteiligt (Qantara 12.02.2019; vgl. NYT 07.03.2019), was Unbehagen unter einigen Regierungsvertretern auslöste und die diplomatischen Beziehungen zwischen den beiden Regierungen beeinträchtigte (REU 18.03.2019; vgl. WP 18.03.2019).

Vom 29.04.2019 bis 03.05.2019 tagte in Kabul die "große Ratsversammlung" (Loya Jirga). Dabei verabschiedeten deren Mitglieder eine Resolution mit dem Ziel, einen Friedensschluss mit den Taliban zu erreichen und den innerafghanischen Dialog zu fördern. Auch bot Präsident Ghani den Taliban einen Waffenstillstand während des Ramadan von 06.05.2019 bis 04.06.2019 an, betonte aber dennoch, dass dieser nicht einseitig sein würde. Des Weiteren sollten 175 gefangene Talibankämpfer freigelassen werden (BAMF 06.05.2019). Die Taliban nahmen an dieser von der Regierung einberufenen Friedensveranstaltung nicht teil (HE 16.05.2019).

3. Sicherheitslage

Die Sicherheitslage in Afghanistan ist nach wie vor volatil (UNGASC 03.09.2019), nachdem im Frühjahr sowohl die Taliban als auch die afghanische Regierung neue Offensiven verlautbart hatten (USDOD 6.2019). Traditionell markiert die Ankündigung der jährlichen Frühjahrsoffensive der Taliban den Beginn der sogenannten Kampfsaison - was eher als symbolisch gewertet werden kann, da die Taliban und die Regierungskräfte in den vergangenen Jahren auch im Winter gegeneinander kämpften (AJ 12.04.2019). Die Frühjahrsoffensive des Jahres 2019 trägt den Namen al-Fath (UNGASC 14.06.2019; vgl. AJ 12.04.2019; NYT 12.04.2019) und wurde von den Taliban trotz der Friedensgespräche angekündigt (AJ 12.04.2019; vgl. NYT 12.04.2019). Landesweit am meisten von diesem aktiven Konflikt betroffen waren die Provinzen Helmand, Farah und Ghazni (UNGASC 14.06.2019). Offensiven der afghanischen Spezialeinheiten der Sicherheitskräfte gegen die Taliban wurden seit Dezember 2018 verstärkt - dies hatte zum Ziel, die Bewegungsfreiheit der Taliban zu stören, Schlüsselgebiete zu verteidigen und damit eine produktive Teilnahme der Taliban an den Friedensgesprächen zu erzwingen (SIGAR 30.07.2019). Seit Juli 2018 liefen auf hochrangiger politischer Ebene Bestrebungen, den Konflikt zwischen der afghanischen Regierung und den Taliban politisch zu lösen (TS 22.01.2019). Berichten zufolge standen die Verhandlungen mit den Taliban kurz vor dem Abschluss, als Anfang September der US-amerikanische Präsident ein geplantes Treffen mit den Islamisten - als Reaktion auf einen Anschlag - absagte (DZ 08.09.2019). Während sich die derzeitige militärische Situation in Afghanistan nach wie vor in einer Sackgasse befindet, stabilisierte die Einführung zusätzlicher Berater und Wegbereiter im Jahr 2018 die Situation und verlangsamte die Dynamik des Vormarsches der Taliban (USDOD 12.2018).

Die afghanische Regierung behält die Kontrolle über Kabul, die wichtigsten Bevölkerungszentren und Transitrouten sowie Provinzhauptstädte und die meisten Distriktzentren (USDOD 6.2019). Die afghanischen Kräfte sichern die Städte und andere Stützpunkte der Regierung; die Taliban verstärken groß angelegte Angriffe, wodurch eine Vielzahl afghanischer Kräfte in Verteidigungsmissionen eingebunden ist, Engpässe entstehen und dadurch manchmal auch Kräfte fehlen können, um Territorium zu halten (SIGAR 30.04.2019; vgl. NYT 19.07.2019). Kämpfe waren auch weiterhin auf konstant hohem Niveau. Die Ausnahme waren islamische Festtage, an denen, wie bereits in der Vergangenheit auch schon, das Kampfniveau deutlich zurückging, als sowohl regierungsfreundliche Kräfte, aber auch regierungsfeindliche Elemente ihre offensiven Operationen reduzierten. Im Gegensatz dazu hielt das Kampftempo während des gesamten Fastenmonats Ramadan an, da regierungsfeindliche Elemente mehrere Selbstmordattentate ausführten und sowohl regierungsfreundliche Truppen, als auch regierungsfeindliche Elemente, bekundeten, ihre operative Dynamik aufrechtzuerhalten (UNGASC 03.09.2019). Die Taliban verlautbarten, eine asymmetrische Strategie zu verfolgen: die Aufständischen führen weiterhin Überfälle auf Kontrollpunkte und Distriktzentren aus und bedrohen Bevölkerungszentren (UNGASC 07.12.2018). Angriffe haben sich zwischen November 2018 und Jänner 2019 um 19% im Vergleich zum Vorberichtszeitraum (16.08. - 31.10.2018) verstärkt. Insbesondere in den Wintermonaten wurde in Afghanistan eine erhöhte Unsicherheit wahrgenommen. (SIGAR 30.04.2019). Seit dem Jahr 2002 ist die Wintersaison besonders stark umkämpft. Trotzdem bemühten sich die ANDSF und Koalitionskräfte, die Anzahl ziviler Opfer zu reduzieren, und konzentrierten sich auf Verteidigungsoperationen gegen die Taliban und den ISKP. Diese Operationen verursachten bei den Aufständischen schwere Verluste und hinderten sie daran, ihr Ziel zu erreichen (USDOD 6.2019). Der ISKP ist auch weiterhin widerstandsfähig: Afghanische und internationale Streitkräfte führten mit einem hohen Tempo Operationen gegen die Hochburgen des ISKP in den Provinzen Nangarhar und Kunar durch, was zu einer gewissen Verschlechterung der Führungsstrukturen der ISKP führt. Dennoch konkurriert die Gruppierung auch weiterhin mit den Taliban in der östlichen Region und hat eine operative Kapazität in der Stadt Kabul behalten (UNGASC 03.09.2019).

So erzielen weder die afghanischen Sicherheitskräfte noch regierungsfeindliche Elemente signifikante territoriale Gewinne. Das aktivste Konfliktgebiet ist die Provinz Kandahar, gefolgt von den Provinzen Helmand und Nangarhar. Wenngleich es keine signifikanten Bedrohungen der staatlichen Kontrolle über Provinzhauptstädte gibt, wurde in der Nähe der Provinzhauptstädte Farah, Kunduz und Ghazni über ein hohes Maß an Taliban-Aktivität berichtet (UNGASC 03.09.2019). In mehreren Regionen wurden von den Taliban vorübergehend strategische Posten entlang der Hauptstraßen eingenommen, sodass sie den Verkehr zwischen den Provinzen erfolgreich einschränken konnten (UNGASC 07.12.2018). So kam es beispielsweise in strategisch liegenden Provinzen entlang des Highway 1 (Ring Road) zu temporären Einschränkungen durch die Taliban (UNGASC 07.12.2018; vgl. ARN 23.06.2019). Die afghanischen Verteidigungs- und Sicherheitskräfte stellen erhebliche Mittel für die Verbesserung der Sicherheit auf den Hauptstraßen bereit - insbesondere in den Provinzen Ghazni, Zabul, Balkh und Jawzjan (UNGASC 03.09.2019).

Für das gesamte Jahr 2018 registrierten die Vereinten Nationen (UN) in Afghanistan insgesamt 22.478 sicherheitsrelevante Vorfälle. Gegenüber 2017 ist das ein Rückgang von 5%, wobei die Anzahl der sicherheitsrelevanten Vorfälle im Jahr 2017 mit insgesamt 23.744 ihren bisherigen Höhepunkt erreicht hatte (UNGASC 28.02.2019).

[...]

Für den Berichtszeitraum 10.05. - 08.08.2019 registriert die Vereinten Nationen (UN) insgesamt 5.856 sicherheitsrelevante Vorfälle - eine Zunahme von 1% gegenüber dem Vorjahreszeitraum. 63% aller sicherheitsrelevanten Vorfälle, die höchste Anzahl, wurde im Berichtszeitraum in den südlichen, östlichen und südöstlichen Regionen registriert (UNGASC 03.09.2019). Für den Berichtszeitraum 08.02 - 09.05.2019 registrierte die UN insgesamt 5249 sicherheitsrelevante Vorfälle - ein Rückgang von 7% gegenüber dem Vorjahreswert; wo auch die Anzahl ziviler Opfer signifikant zurückgegangen ist (UNGASC 14.06.2019).

Für den Berichtszeitraum 10.05 - 08.08.2019 sind 56% (3.294) aller sicherheitsrelevanten Vorfälle bewaffnete Zusammenstöße gewesen; ein Rückgang um 7% im Vergleich zum Vorjahreswert. Sicherheitsrelevante Vorfälle, bei denen improvisierte Sprengkörper verwendet wurden, verzeichneten eine Zunahme von 17%. Bei den Selbstmordattentaten konnte ein Rückgang von 44% verzeichnet werden. Die afghanischen Sicherheitskräfte führen gemeinsam mit internationalen Kräften weiterhin eine hohe Anzahl von Luftangriffen durch: 506 Angriffe wurden im Berichtszeitraum verzeichnet - 57% mehr als im Vergleichszeitraum des Jahres 2018 (UNGASC 03.09.2019).

Im Gegensatz dazu registrierte die Nichtregierungsorganisation INSO (International NGO Safety Organisation) für das Jahr 2018 landesweit 29.493 sicherheitsrelevante Vorfälle, welche auf NGOs Einfluss hatten. In den ersten acht Monaten des Jahres 2019 waren es 18.438 Vorfälle. Zu den gemeldeten Ereignissen zählten beispielsweise geringfügige kriminelle Überfälle und Drohungen ebenso wie bewaffnete Angriffe und Bombenanschläge (INSO o.D.).

[...]

Jänner bis Oktober 2018 nahm die Kontrolle oder der Einfluss der afghanischen Regierung von 56% auf 54% der Distrikte ab, die Kontrolle bzw. Einfluss der Aufständischen auf Distrikte sank in diesem Zeitraum von 15% auf 12%. Der Anteil der umstrittenen Distrikte stieg von 29% auf 34%. Der Prozentsatz der Bevölkerung, welche in Distrikten unter afghanischer Regierungskontrolle oder -einfluss lebte, ging mit Stand Oktober 2018 auf 63,5% zurück. 8,5 Millionen Menschen (25,6% der Bevölkerung) leben mit Stand Oktober 2018 in umkämpften Gebieten, ein Anstieg um fast zwei Prozentpunkte gegenüber dem gleichen Zeitpunkt im Jahr 2017. Die Provinzen mit der höchsten Anzahl an von den Aufständischen kontrollierten Distrikten waren Kunduz, Uruzgan und Helmand (SIGAR 30.01.2019).

Ein auf Afghanistan spezialisierter Militäranalyst berichtete im Januar 2019, dass rund 39% der afghanischen Distrikte unter der Kontrolle der afghanischen Regierung standen und 37% von den Taliban kontrolliert wurden. Diese Gebiete waren relativ ruhig, Zusammenstöße wurden gelegentlich gemeldet. Rund 20% der Distrikte waren stark umkämpft. Der Islamische Staat (IS) kontrollierte rund 4% der Distrikte (MA 14.01.2019).

Die Kontrolle über Distrikte, Bevölkerung und Territorium befindet sich derzeit in einer Pattsituation (SIGAR 30.04.2019). Die Anzahl sicherheitsrelevanter Vorfälle Ende 2018 bis Ende Juni 2019, insbesondere in der Provinz Helmand, sind als verstärkte Bemühungen der Sicherheitskräfte zu sehen, wichtige Taliban-Hochburgen und deren Führung zu erreichen, um in weiterer Folge eine Teilnahme der Taliban an den Friedensgesprächen zu erzwingen (SIGAR 30.07.2019). Intensivierte Kampfhandlungen zwischen ANDSF und Taliban werden von beiden Konfliktparteien als Druckmittel am Verhandlungstisch in Doha erachtet (SIGAR 30.04.2019; vgl. NYT 19.07.2019).

Zivile Opfer

Die Vereinten Nationen dokumentierten für den Berichtszeitraum 01.01. - 30.09.2019 8.239 zivile Opfer (2.563 Tote, 5.676 Verletzte) - dieser Wert ähnelt dem Vorjahreswert 2018. Regierungsfeindliche Elemente waren auch weiterhin Hauptursache für zivile Opfer; 41% der Opfer waren Frauen und Kinder. Wenngleich die Vereinten Nationen für das erste Halbjahr 2019 die niedrigste Anzahl ziviler Opfer registrierten, so waren Juli, August und September - im Gegensatz zu 2019 - von einem hohen Gewaltniveau betroffen. Zivilisten, die in den Provinzen Kabul, Nangarhar, Helmand, Ghazni, und Faryab wohnten, waren am stärksten vom Konflikt betroffen (in dieser Reihenfolge) (UNAMA 17.10.2019).

Für das gesamte Jahr 2018 wurde von mindestens 9.214 zivilen Opfern (2.845 Tote, 6.369 Verletzte) (SIGAR 30.04.2019) berichtet, bzw. dokumentierte die UNAMA insgesamt 10.993 zivile Opfer (3.804 Tote und 7.189 Verletzte). Den Aufzeichnungen der UNAMA zufolge entspricht das einem Anstieg bei der Gesamtanzahl an zivilen Opfern um 5% bzw. 11% bei zivilen Todesfällen gegenüber dem Jahr 2017 und markierte einen Höchststand seit Beginn der Aufzeichnungen im Jahr 2009. Die meisten zivilen Opfer wurden im Jahr 2018 in den Provinzen Kabul, Nangarhar, Helmand, Ghazni und Faryab verzeichnet, wobei die beiden Provinzen mit der höchsten zivilen Opferanzahl - Kabul (1.866) und Nangarhar (1.815) - 2018 mehr als doppelt so viele Opfer zu verzeichnen hatten wie die drittplatzierte Provinz Helmand (880 zivile Opfer) (UNAMA 24.02.2019; vgl. SIGAR 30.04.2019). Im Jahr 2018 stieg die Anzahl an dokumentierten zivilen Opfern aufgrund von Handlungen der regierungsfreundlichen Kräfte um 24% gegenüber 2017. Der Anstieg ziviler Opfer durch Handlungen regierungsfreundlicher Kräfte im Jahr 2018 wird auf verstärkte Luftangriffe, Suchoperationen der ANDSF und regierungsfreundlicher bewaffneter Gruppierungen zurückgeführt (UNAMA 24.02.2019).

[...]

High-Profile Angriffe (HPAs)

Sowohl im gesamten Jahr 2018 (USDOD 12.2018), als auch in den ersten fünf Monaten 2019 führten Aufständische, Taliban und andere militante Gruppierungen insbesondere in der Hauptstadtregion weiterhin Anschläge auf hochrangige Ziele aus, um die Aufmerksamkeit der Medien auf sich zu ziehen, die Legitimität der afghanischen Regierung zu untergraben und die Wahrnehmung einer weit verbreiteten Unsicherheit zu schaffen (USDOD 6.2019; vgl. USDOD 12.2018). Diese Angriffe sind stetig zurückgegangen (USDOD 6.2019). Zwischen 01.06.2018 und 30.11.2018 fanden 59 HPAs in Kabul statt (Vorjahreswert: 73) (USDOD 12.2018), zwischen 01.12.2018 und 15.05.2019 waren es 6 HPAs (Vorjahreswert: 17) (USDOD 6.2019).

Anschläge gegen Gläubige und Kultstätten, religiöse Minderheiten

Die Zahl der Angriffe auf Gläubige, religiöse Exponenten und Kultstätten war 2018 auf einem ähnlich hohen Niveau wie 2017: bei 22 Angriffen durch regierungsfeindliche Kräfte, meist des ISKP, wurden 453 zivile Opfer registriert (156 Tote, 297 Verletzte), ein Großteil verursacht durch Selbstmordanschläge (136 Tote, 266 Verletzte) (UNAMA 24.02.2019).

Für das Jahr 2018 wurden insgesamt 19 Vorfälle konfessionell motivierter Gewalt gegen Schiiten dokumentiert, bei denen es insgesamt zu 747 zivilen Opfern kam (223 Tote, 524 Verletzte). Dies ist eine Zunahme von 34% verglichen mit dem Jahr 2017. Während die Mehrheit konfessionell motivierter Angriffe gegen Schiiten im Jahr 2017 auf Kultstätten verübt wurden, gab es im Jahr 2018 nur zwei derartige Angriffe. Die meisten Anschläge auf Schiiten fanden im Jahr 2018 in anderen zivilen Lebensräumen statt, einschließlich in mehrheitlich von Schiiten oder Hazara bewohnten Gegenden. Gezielte Attentate und Selbstmordangriffe auf religiöse Führer und Gläubige führten zu 35 zivilen Opfern (15 Tote, 20 Verletzte) (UNAMA 24.02.2019).

Angriffe im Zusammenhang mit den Parlamentswahlen im Oktober 2018

Die afghanische Regierung bemühte sich, Wahllokale zu sichern, was mehr als 4 Millionen afghanischen Bürgern ermöglichte zu wählen (UNAMA 11.2018). Und auch die Vorkehrungen der ANDSF zur Sicherung der Wahllokale ermöglichten eine Wahl, die weniger gewalttätig war als jede andere Wahl der letzten zehn Jahre (USDOS 12.2018). Die Taliban hatten im Vorfeld öffentlich verkündet, die für Oktober 2018 geplanten Parlamentswahlen stören zu wollen. Ähnlich wie bei der Präsidentschaftswahl 2014 warnten sie Bürger davor, sich für die Wahl zu registrieren, verhängten "Geldbußen" und/oder beschlagnahmten Tazkiras und bedrohten Personen, die an der Durchführung der Wahl beteiligt waren (UNAMA 11.2018; vgl. USDOS 13.03.2019). Von Beginn der Wählerregistrierung (14.04.2018) bis Ende des Jahres 2018 wurden 1.007 Opfer (226 Tote, 781 Verletzte) sowie 310 Entführungen aufgrund der Wahl verzeichnet (UNAMA 24.02.2019). Am Wahltag (20.10.2018) verifizierte UNAMA 388 zivile Opfer (52 Tote und 336 Verletzte) durch Wahl bedingte Gewalt. Die höchste Anzahl an zivilen Opfern an einem Wahltag seit Beginn der Aufzeichnungen durch UNAMA im Jahr 2009 (UNAMA 11.2018).

Regierungsfeindliche Gruppierungen

In Afghanistan sind unterschiedliche regierungsfeindliche Gruppierungen aktiv - insbesondere die Grenzregion zu Pakistan bleibt eine Zufluchtsstätte für unterschiedliche Gruppierungen, wie Taliban, Islamischer Staat, al-Qaida, Haqqani-Netzwerk, Lashkar-e Tayyiba, Tehrik-e Taliban Pakistan, sowie Islamic Movement of Uzbekistan (USDOD 6.2019; vgl. CRS 12.02.2019) und stellt nicht nur für die beiden Länder eine Sicherheitsherausforderung dar, sondern eine Bedrohung für die gesamte regionale Sicherheit und Stabilität (USDOD 6.2019):

Taliban

Die USA sprechen seit rund einem Jahr mit hochrangigen Vertretern der Taliban über eine politische Lösung des langjährigen Afghanistan-Konflikts. Dabei geht es vor allem um Truppenabzüge und Garantien der Taliban, dass Afghanistan kein sicherer Hafen für Terroristen wird. Beide Seiten hatten sich jüngst optimistisch gezeigt, bald zu einer Einigung zu kommen (FAZ 21.08.2019). Während dieser Verhandlungen haben die Taliban Forderungen eines Waffenstillstandes abgewiesen und täglich Operationen ausgeführt, die hauptsächlich die afghanischen Sicherheitskräfte zum Ziel haben. (TG 30.07.2019). Zwischen 01.12.2018 und 31.05.2019 haben die Talibanaufständischen mehr Angriffe ausgeführt als in der Vergangenheit üblich, trotzdem war die Gesamtzahl effektiver feindlicher Angriffe stark rückläufig. Diese Angriffe hatten hauptsächlich militärische Außenposten und Kontrollpunkte sowie andere schlecht verteidigte ANDSF-Posten zu Ziel. Das wird als Versuch gewertet, in den Friedensverhandlungen ein Druckmittel zu haben (USDOD 6.2019).

Der derzeitige Taliban-Führer ist nach wie vor Haibatullah Akhundzada (REU 17.08.2019; vgl. FA 03.01.2018) - Stellvertreter sind Mullah Mohammad Yaqub - Sohn des ehemaligen Taliban-Führers Mullah Omar - und Serajuddin Haqqani (CTC 1.2018; vgl. TN 26.05.2016) - Sohn des Führers des Haqqani-Netzwerkes (TN 13.01.2017). Die Taliban bezeichnen sich selbst als das Islamische Emirat Afghanistan (VOJ o.D.). Die Regierungsstruktur und das militärische Kommando sind in der Layha, einem Verhaltenskodex der Taliban, definiert (AAN 04.07.2011), welche zuletzt 2010 veröffentlicht wurde (AAN 06.12.2018).

Ein Bericht über die Rekrutierungspraxis der Taliban teilt die Taliban-Kämpfer in zwei Kategorien: professionelle Vollzeitkämpfer, die oft in den Madrassen rekrutiert werden, und Teilzeit-Kämpfer vor Ort, die gegenüber einem lokalen Kommandanten loyal und in die lokale Gesellschaft eingebettet sind (LI 29.06.2017). Die Gesamtstärke der Taliban wurde von einem Experten im Jahr 2017 auf über 200.000 geschätzt, darunter angeblich 150.000 Kämpfer (rund 60.000 Vollzeitkämpfer mobiler Einheiten, der Rest sein Teil der lokalen Milizen). Der Experte schätzte jedoch, dass die Zahl der Vollzeitkämpfer, die gleichzeitig in Afghanistan aktiv sind, selten 40.000 übersteigt (LI 23.08.2017). Im Jänner 2018 schätzte ein Beamter des US-Verteidigungsministeriums die Gesamtstärke der Taliban in Afghanistan auf 60.000 (NBC 30.01.2018). Laut dem oben genannten Experten werden die Kämpfe hauptsächlich von den Vollzeitkämpfern der mobilen Einheiten ausgetragen (LI 23.08.2017; vgl. AAN 03.01.2017; AAN 17.03.2017).

Die Taliban betreiben Trainingslager in Afghanistan. Seit Ende 2014 wurden 20 davon öffentlich zur Schau gestellt. Das Khalid bin Walid-Camp soll zwölf Ableger in acht Provinzen betreiben (Helmand, Kandahar, Ghazni, Ghor, Saripul, Faryab, Farah und Maidan Wardak). 300 Militärtrainer und Gelehrte sind dort tätig, und es soll möglich sein, in diesem Camp bis zu 2.000 Rekruten auf einmal auszubilden (LWJ 14.08.2019).

Die Mehrheit der Taliban sind immer noch Paschtunen, obwohl es eine wachsende Minderheit an Tadschiken, Usbeken, Belutschen und sogar mehreren hundert Hazara (einschließlich Schiiten) gibt (LI 23.08.2017). In einigen nördlichen Gebieten sollen die Taliban bereits überwiegend Nicht-Paschtunen sein, da sie innerhalb der lokalen Bevölkerung rekrutieren (LI 23.08.2017).

Haqqani-Netzwerk

Das seit 2012 bestehende Haqqani-Netzwerk ist eine teilautonome Organisation, Bestandteil der afghanischen Taliban und Verbündeter von al-Qaida (CRS 12.02.2019). Benannt nach dessen Begründer, Jalaluddin Haqqani (AAN 01.07.2010; vgl. USDOS 19.09.2018; vgl. CRS 12.02.2019), einem führenden Mitglied des antisowjetischen Jihad (1979-1989) und einer wichtigen Taliban-Figur; sein Tod wurde von den Taliban im September 2018 verlautbart. Der derzeitige Leiter ist dessen Sohn Serajuddin Haqqani, der seit 2015 als stellvertretender Leiter galt (CTC 1.2018).

Als gefährlichster Arm der Taliban hat das Haqqani-Netzwerk seit Jahren Angriffe in den städtischen Bereichen ausgeführt (NYT 20.08.2019) und wird für ei

Quelle: Bundesverwaltungsgericht BVwg, https://www.bvwg.gv.at
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