TE Vfgh Erkenntnis 2020/6/9 E3688/2019

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Veröffentlicht am 09.06.2020
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Index

41/02 Staatsbürgerschaft, Pass- und Melderecht, Fremdenrecht, Asylrecht

Norm

BVG-Rassendiskriminierung ArtI Abs1
AsylG 2005 §8, §10, §57
FremdenpolizeiG 2005 §46, §52, §55
VfGG §7 Abs2

Leitsatz

Verletzung im Recht auf Gleichbehandlung von Fremden untereinander durch Nichtzuerkennung des Status eines subsidiär Schutzberechtigten betreffend einen Staatsangehörigen aus Afghanistan; mangelhafte Auseinandersetzung mit der medizinischen Versorgung im Heimatstaat

Spruch

I. 1. Der Beschwerdeführer ist durch das angefochtene Erkenntnis, soweit damit die Beschwerde gegen die Abweisung des Antrages auf internationalen Schutz bezüglich der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Afghanistan, gegen die Nichterteilung eines Aufenthaltstitels aus berücksichtigungswürdigen Gründen, gegen die Erlassung einer Rückkehrentscheidung, gegen die Feststellung der Zulässigkeit der Abschiebung in den Herkunftsstaat Afghanistan und gegen die Festsetzung einer 14-tägigen Frist zur freiwilligen Ausreise abgewiesen wird, in dem verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf Gleichbehandlung von Fremden untereinander (ArtI Abs1 Bundesverfassungsgesetz BGBl Nr 390/1973) verletzt worden.

Das Erkenntnis wird insoweit aufgehoben.

2. Im Übrigen wird die Behandlung der Beschwerde abgelehnt.

 Insoweit wird die Beschwerde dem Verwaltungsgerichtshof zur Entscheidung abgetreten.

II. Der Bund (Bundesminister für Inneres) ist schuldig, dem Beschwerdeführer zuhanden seines Rechtsvertreters die mit € 2.856,– bestimmten Prozesskosten binnen 14 Tagen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.

Begründung

Entscheidungsgründe

I. Sachverhalt, Beschwerde und Vorverfahren

1. Der Beschwerdeführer ist ein am 1. Jänner 2000 geborener Staatsangehöriger von Afghanistan und gehört der Volksgruppe der Hazara an. Er stellte am 17. Oktober 2015 einen Antrag auf internationalen Schutz.

2. Mit Bescheid vom 25. Februar 2018 wies das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl den Antrag auf internationalen Schutz gemäß §3 Abs1 iVm §2 Abs1 Z13 AsylG 2005 ab; ebenso wurde der Antrag auf Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten gemäß §8 Abs1 iVm §2 Abs1 Z13 AsylG 2005 in Bezug auf den Herkunftsstaat Afghanistan abgewiesen. Weiters wurde ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen gemäß §57 AsylG 2005 nicht erteilt, gemäß §10 Abs1 Z3 AsylG 2005 wurde eine Rückkehrentscheidung gemäß §52 Abs2 Z2 FPG erlassen und gemäß §52 Abs9 FPG festgestellt, dass die Abschiebung des Beschwerdeführers nach Afghanistan gemäß §46 FPG zulässig sei. Gleichzeitig wurde gemäß §55 Abs1 bis 3 FPG eine 14-tägige Frist für die freiwillige Ausreise ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung gesetzt.

3. Gegen diesen Bescheid erhob der Beschwerdeführer Beschwerde an das Bundesverwaltungsgericht.

4. Mit dem nunmehr angefochtenen Erkenntnis vom 30. August 2019 wies das Bundesverwaltungsgericht die Beschwerde als unbegründet ab.

5. Zum Gesundheitszustand des Beschwerdeführers traf das Bundesverwaltungsgericht folgende Ausführungen:

"Der [Beschwerdeführer ist] nicht lebensbedrohlich krank. Der [Beschwerdeführer] läuft im Falle der Rückkehr nach Mazar-e Sharif nicht Gefahr, aufgrund seines derzeitigen Gesundheitszustandes in einen unmittelbar lebensbedrohlichen Zustand zu geraten, oder dass sich eine Erkrankung in einem lebensbedrohlichen Ausmaß verschlechtern wird. Es sind auch sonst keine objektivierten Hinweise hervorgekommen, dass allenfalls andere schwerwiegende körperliche oder psychische Erkrankungen einer Rückführung des [Beschwerdeführers] in den Herkunftsstaat entgegenstehen würden.

[…]

Der [Beschwerdeführer] ist nach seinen eigenen Angaben weitgehend gesund. Er leidet an einer posttraumatischen Belastungsstörung, nahm bisher aber noch keine Psychotherapie in Anspruch. Dieses Leiden erreicht jedoch nicht ein Ausmaß, dass es dem [Beschwerdeführer] nicht möglich wäre, einer Arbeit nachzugehen, oder seinen Alltag zu bewältigen. Der [Beschwerdeführer] selbst brachte dies auch nicht vor.

[…]

Auch die vom [Beschwerdeführer] in der mündlichen Verhandlung bzw in seiner Stellungnahme angegebene posttraumatische Belastungsstörung steht einer Rückkehr nach Afghanistan nicht entgegen, da aus den Länderfeststellungen eine ausreichende medizinische Versorgung – auch hinsichtlich psychischer Erkrankungen – hervorgeht."

6. Gegen diese Entscheidung richtet sich die vorliegende, auf Art144 B-VG gestützte Beschwerde, in der die Verletzung in näher bezeichneten verfassungsgesetzlich gewährleisteten Rechten behauptet und die Aufhebung des angefochtenen Erkenntnisses beantragt wird.

Begründend wird dazu ua ausgeführt, der Beschwerdeführer sei psychisch schwer angeschlagen und traumatisiert. Ein Psychotherapeut habe eine posttraumatische Belastungsstörung mit Suizidgefahr festgestellt. Der Beschwerdeführer verfüge in Afghanistan über kein soziales Netzwerk und wäre dort im Falle seiner Abschiebung auf sich allein gestellt. Der Beschwerdeführer hatte bereits im Verfahren vor dem Bundesverwaltungsgericht eine Terminbestätigung eines psychosozialen Zentrums für Flüchtlinge und Opfer von Gewalt vorgelegt, wonach ein Erstgespräch stattgefunden habe und der Beschwerdeführer auf einer Warteliste für eine regelmäßige Therapie stehe, weil er in letzter Zeit wiederkehrende suizidale Aussagen in verbaler und schriftlicher Form von sich gegeben habe.

7. Das Bundesverwaltungsgericht hat die Gerichts- und Verwaltungsakten vorgelegt, von der Erstattung einer Gegenschrift aber Abstand genommen.

II. Erwägungen

A. Soweit sich die Beschwerde gegen die Abweisung der Beschwerde durch das Bundesverwaltungsgericht betreffend die Abweisung des Antrages auf internationalen Schutz hinsichtlich des Status des subsidiär Schutzberechtigten, die Nichtzuerkennung eines Aufenthaltstitels aus berücksichtigungswürdigen Gründen, die Erlassung einer Rückkehrentscheidung, die Feststellung der Zulässigkeit der Abschiebung nach Afghanistan und gegen den Ausspruch der Frist zur freiwilligen Ausreise richtet, ist sie begründet:

1. Nach der mit VfSlg 13.836/1994 beginnenden, nunmehr ständigen Rechtsprechung des Verfassungsgerichtshofes (s etwa VfSlg 14.650/1996 und die dort angeführte Vorjudikatur; weiters VfSlg 16.080/2001 und 17.026/2003) enthält ArtI Abs1 des Bundesverfassungsgesetzes zur Durchführung des Internationalen Übereinkommens über die Beseitigung aller Formen rassischer Diskriminierung, BGBl 390/1973, das allgemeine, sowohl an die Gesetzgebung als auch an die Vollziehung gerichtete Verbot, sachlich nicht begründbare Unterscheidungen zwischen Fremden vorzunehmen. Diese Verfassungsnorm enthält ein – auch das Sachlichkeitsgebot einschließendes – Gebot der Gleichbehandlung von Fremden untereinander; deren Ungleichbehandlung ist also nur dann und insoweit zulässig, als hiefür ein vernünftiger Grund erkennbar und die Ungleichbehandlung nicht unverhältnismäßig ist.

Diesem einem Fremden durch ArtI Abs1 leg. cit. gewährleisteten subjektiven Recht widerstreitet eine Entscheidung, wenn sie auf einem gegen diese Bestimmung verstoßenden Gesetz beruht (vgl zB VfSlg 16.214/2001), wenn das Verwaltungsgericht dem angewendeten einfachen Gesetz fälschlicherweise einen Inhalt unterstellt hat, der – hätte ihn das Gesetz – dieses als in Widerspruch zum Bundesverfassungsgesetz zur Durchführung des Internationalen Übereinkommens über die Beseitigung aller Formen rassischer Diskriminierung, BGBl 390/1973, stehend erscheinen ließe (s etwa VfSlg 14.393/1995, 16.314/2001) oder wenn es bei Erlassung der Entscheidung Willkür geübt hat (zB VfSlg 15.451/1999, 16.297/2001, 16.354/2001 sowie 18.614/2008).

Ein willkürliches Verhalten des Verwaltungsgerichtes, das in die Verfassungssphäre eingreift, liegt unter anderem in einer gehäuften Verkennung der Rechtslage, aber auch im Unterlassen jeglicher Ermittlungstätigkeit in einem entscheidenden Punkt oder dem Unterlassen eines ordnungsgemäßen Ermittlungsverfahrens überhaupt, insbesondere in Verbindung mit einem Ignorieren des Parteivorbringens und einem leichtfertigen Abgehen vom Inhalt der Akten oder dem Außerachtlassen des konkreten Sachverhaltes (zB VfSlg 15.451/1999, 15.743/2000, 16.354/2001, 16.383/2001).

2. Ein solcher Fehler ist dem Bundesverwaltungsgericht unterlaufen:

In der Verhandlung vor dem Bundesverwaltungsgericht am 11. November 2018 äußerte der Beschwerdeführer Suizidgedanken. Daraufhin sprach die Richterin gegenüber dem damaligen Rechtsvertreter des Beschwerdeführers und der anwesenden Vertrauensperson die Empfehlung aus, den Beschwerdeführer psychologisch untersuchen zu lassen.

Am 27. Juni 2019 brachte der Rechtsvertreter des Beschwerdeführers beim Bundesverwaltungsgericht eine Stellungnahme ein, in der er ua ausführte, dass sich der psychische Gesundheitszustand des Beschwerdeführers erheblich verschlechtert habe. Er habe wiederholt angedeutet, sich das Leben nehmen zu wollen. Der Beschwerdeführer leide an einer posttraumatischen Belastungsstörung, die einer dringenden und längerfristigen Behandlung bedürfe. Psychische Erkrankungen würden in Afghanistan nicht oder nur unzureichend behandelt werden. Die Einholung eines Sachverständigengutachtens aus dem Fachgebiet der Neurologie und Psychiatrie werde angeregt.

3. Aus dem – dem Erkenntnis zugrunde gelegten – Länderinformationsblatt der Staatendokumentation zur Lage in Afghanistan (mit Stand vom 4. Juni 2019; letzte Gesamtaktualisierung vom 29. Juni 2018) ergibt sich zur medizinischen Versorgung – auf das Wesentliche zusammengefasst – Folgendes:

In der afghanischen Bevölkerung litten viele Menschen an unterschiedlichen psychischen Erkrankungen. Die afghanische Regierung sei sich der Problematik bewusst und habe geistige Gesundheit als Schwerpunkt gesetzt. Jedoch sei der Fortschritt schleppend und die Leistungen außerhalb von Kabul seien dürftig. Es existierten zB in Mazar-e Sharif ein privates neuropsychiatrisches Krankenhaus und ein öffentliches psychiatrisches Krankenhaus; in Kabul existiere eine weitere psychiatrische Klinik. Landesweit böten alle Provinzkrankenhäuser kostenfreie psychologische Beratung an, die in einigen Fällen sogar über das Internet zur Verfügung stünden. Mental erkrankte Personen könnten beim Roten Halbmond, in entsprechenden Krankenhäusern und bei anderen Nichtregierungsorganisationen behandelt werden. Traditionell mangle es in Afghanistan an einem Konzept für psychisch Kranke. Sie würden nicht selten in spirituellen Schreinen unter teilweise unmenschlichen Bedingungen "behandelt" oder es werde ihnen mittels einer "Therapie" mit Brot, Wasser und Pfeffer der "böse Geist ausgetrieben". Die Behandlung von psychischen Erkrankungen – insbesondere Kriegstraumata – finde, abgesehen von einzelnen Projekten von NGOs, nach wie vor nicht in ausreichendem Maße statt.

4. Das Bundesverwaltungsgericht hat sich nicht ausreichend mit der individuellen Situation des Beschwerdeführers im Falle der Rückkehr nach Afghanistan auseinandergesetzt und die für diese Auseinandersetzung maßgeblichen Ermittlungsschritte unterlassen. Insbesondere fehlt eine konkrete Auseinandersetzung mit dem Zugang des Beschwerdeführers zu medizinischer Versorgung, psychotherapeutischer Behandlung und Medikamenten im Heimatstaat (zur Maßgeblichkeit insbesondere dieser Kriterien siehe das Urteil des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte vom 13. Dezember 2016 [GK], Fall Paposhvili, Appl 41738/10, Z189 f; vgl auch VfGH 11.6.2019, E2094-2096/2018; 11.6.2019, E3796/2018).

5. Soweit sich das Erkenntnis auf die Nichtzuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten und – daran anknüpfend – auf die Nichterteilung eines Aufenthaltstitels aus berücksichtigungswürdigen Gründen, die Rückkehrentscheidung sowie auf die Feststellung der Zulässigkeit der Abschiebung in den Herkunftsstaat unter Setzung einer Frist zur freiwilligen Ausreise bezieht, ist es daher mit Willkür behaftet und insoweit aufzuheben.

B. Im Übrigen wird die Behandlung der Beschwerde abgelehnt:

Der Verfassungsgerichtshof kann die Behandlung einer Beschwerde ablehnen, wenn von der Entscheidung die Klärung einer verfassungsrechtlichen Frage nicht zu erwarten ist (Art144 Abs2 B-VG). Eine solche Klärung ist dann nicht zu erwarten, wenn zur Beantwortung der maßgebenden Fragen spezifisch verfassungsrechtliche Überlegungen nicht erforderlich sind.

Die vorliegende Beschwerde rügt die Verletzung in näher bezeichneten verfassungsgesetzlich gewährleisteten Rechten. Nach den Beschwerdebehauptungen wären diese Rechtsverletzungen aber zum erheblichen Teil nur die Folge einer – allenfalls grob – unrichtigen Anwendung des einfachen Gesetzes. Spezifisch verfassungsrechtliche Überlegungen sind zur Beurteilung der aufgeworfenen Fragen insoweit nicht anzustellen.

Demgemäß wurde beschlossen, von einer Behandlung der Beschwerde, soweit sie sich gegen die Abweisung des Antrages auf internationalen Schutz hinsichtlich des Status des Asylberechtigten richtet, abzusehen (§19 Abs3 Z1 iVm §31 letzter Satz VfGG).

III. Ergebnis

1. Der Beschwerdeführer ist durch das angefochtene Erkenntnis, soweit damit die Beschwerde gegen die Abweisung des Antrages auf internationalen Schutz bezüglich der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Afghanistan, gegen die Nichterteilung eines Aufenthaltstitels aus berücksichtigungswürdigen Gründen, gegen die Erlassung einer Rückkehrentscheidung, gegen die Feststellung der Zulässigkeit der Abschiebung in den Herkunftsstaat Afghanistan und gegen die Festsetzung einer 14-tägigen Frist zur freiwilligen Ausreise abgewiesen wird, in dem verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf Gleichbehandlung von Fremden untereinander (ArtI Abs1 Bundesverfassungsgesetz BGBl Nr 390/1973) verletzt worden.

2. Das Erkenntnis ist daher in diesem Umfang aufzuheben, ohne dass auf das weitere Beschwerdevorbringen einzugehen ist.

3. Im Übrigen wird von der Behandlung der Beschwerde abgesehen und diese insoweit gemäß Art144 Abs3 B-VG dem Verwaltungsgerichtshof zur Entscheidung abgetreten.

4. Diese Entscheidung konnte gemäß §19 Abs4 bzw §19 Abs3 Z1 iVm §31 letzter Satz VfGG ohne mündliche Verhandlung in nichtöffentlicher Sitzung getroffen werden.

5. Die Kostenentscheidung beruht auf §88 VfGG. In den zugesprochenen Kosten ist Umsatzsteuer in Höhe von € 436,– sowie eine Eingabengebühr gemäß §17a VfGG in Höhe von € 240,– enthalten.

Schlagworte

Asylrecht / Vulnerabilität, Entscheidungsbegründung, Ermittlungsverfahren, Rückkehrentscheidung

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:VFGH:2020:E3688.2019

Zuletzt aktualisiert am

15.09.2020
Quelle: Verfassungsgerichtshof VfGH, http://www.vfgh.gv.at
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