TE Vfgh Erkenntnis 2019/6/11 E3796/2018

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Veröffentlicht am 11.06.2019
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Index

41/02 Staatsbürgerschaft, Pass- und Melderecht, Fremdenrecht, Asylrecht

Norm

BVG-Rassendiskriminierung ArtI Abs1
AsylG 2005 §8, §10, §57
FremdenpolizeiG 2005 §46, §52, §55

Leitsatz

Verletzung im Recht auf Gleichbehandlung von Fremden untereinander hinsichtlich der Versagung der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten und Erlassung einer Rückkehrentscheidung betreffend einen psychisch kranken afghanischen Staatsangehörigen; mangelhafte Auseinandersetzung mit der Schwere der Erkrankung und der medizinischen Behandelbarkeit

Spruch

I. 1. Der Beschwerdeführer ist durch das angefochtene Erkenntnis, soweit damit die Beschwerde gegen die Abweisung des Antrages auf internationalen Schutz bezüglich der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Afghanistan, gegen die Nichterteilung eines Aufenthaltstitels aus berücksichtigungswürdigen Gründen, gegen die Erlassung einer Rückkehrentscheidung, gegen die Feststellung der Zulässigkeit der Abschiebung in den Herkunftsstaat Afghanistan und gegen die Festsetzung einer 14-tägigen Frist zur freiwilligen Ausreise abgewiesen wird, in dem verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf Gleichbehandlung von Fremden untereinander (ArtI Abs1 Bundesverfassungsgesetz BGBl Nr 390/1973) verletzt worden.

Das Erkenntnis wird insoweit aufgehoben.

2. Im Übrigen wird die Behandlung der Beschwerde abgelehnt.

II. Der Bund (Bundesminister für Inneres) ist schuldig, dem Beschwerdeführer zuhanden seiner Rechtsvertreterin, Mag. Nadja Lorenz, die mit € 2.616,– bestimmten Prozesskosten binnen 14 Tagen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.

Begründung

Entscheidungsgründe

I.       Sachverhalt, Beschwerde und Vorverfahren

1.        Der Beschwerdeführer ist ein am 1. Jänner 1999 in der Provinz Logar geborener afghanischer Staatsangehöriger, der der Volksgruppe der Tadschiken angehört und sich zum Islam schiitischer Ausrichtung bekennt. Der Beschwerdeführer stellte nach der Einreise in Österreich am 6. Juli 2015 einen Antrag auf Zuerkennung von internationalem Schutz. Er sei aus dem Iran geflüchtet, da er von seinem älteren Bruder, seinem Vater und der Polizei Gewalt erfahren habe. Mit Bescheid vom 4. Oktober 2016 wies das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl den Antrag gemäß §3 AsylG 2005 bezüglich der Zuerkennung von Asyl sowie gemäß §8 AsylG 2005 bezüglich der Zuerkennung von subsidiärem Schutz in Bezug auf den Herkunftsstaat Afghanistan ab. Ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen gemäß §57 AsylG 2005 wurde nicht erteilt. Gemäß §10 Abs1 Z3 AsylG 2005 wurde gegen den Beschwerdeführer eine Rückkehrentscheidung gemäß §52 Abs2 Z2 FPG erlassen und gemäß §52 Abs9 FPG festgestellt, dass seine Abschiebung nach Afghanistan gemäß §46 FPG zulässig sei. Gleichzeitig wurde eine zweiwöchige Frist zur freiwilligen Ausreise gemäß §55 Abs1 bis 3 FPG ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung gesetzt.

2.        Die gegen diesen Bescheid erhobene Beschwerde wies das Bundesverwaltungsgericht mit Erkenntnis vom 8. August 2018 nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung als unbegründet ab. Begründend führte das Bundesverwaltungsgericht – auf das für die Behandlung der Beschwerde vor dem Verfassungsgerichtshof Wesentliche zusammengefasst – Folgendes aus:

2.1.    Der Beschwerdeführer habe bereits im Kindesalter Afghanistan verlassen und sei mit seiner Familie in den Iran gezogen, wo er sich bis zu seiner Ausreise aufgehalten habe. Die (Kern-)Familie des Beschwerdeführers (Eltern und Geschwister) sowie zwei Tanten und ein Onkel väterlicherseits lebten nach wie vor im Iran. Ein Cousin mütterlicherseits lebe in Pakistan. Die Familie lebe im Iran in guten wirtschaftlichen/finanziellen Verhältnissen. Der Beschwerdeführer habe ungefähr seit Beginn des Jahres 2017 keinen Kontakt mit seiner Familie im Iran, es könne davon ausgegangen werden, dass er diesen wiederherstellen werde können. Im Iran habe der Beschwerdeführer vier Jahre lang eine afghanische Schule besucht und habe Arbeitserfahrung als Gehilfe in einer Bäckerei sammeln können. Der Beschwerdeführer leide an einer posttraumatischen Belastungsstörung, sein Zustand sei instabil und es könne jederzeit zu einer Verschlechterung seines Gesundheitszustandes kommen. Er befinde sich in Österreich in regelmäßiger ärztlicher Behandlung und es seien regelmäßige Psychotherapien notwendig, im Bedarfsfall auch eine neuerliche Medikation. Der Beschwerdeführer sei arbeitsfähig, da er es geschafft habe, in Österreich seinen Pflichtschulabschluss nachzuholen, und sei nunmehr auf der Suche nach einer Lehrstelle.

2.2.    Eine mit der Rückkehr in den Herkunftsstaat verbundene reale Gefahr, der Folter ausgesetzt zu sein oder einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung oder Strafe unterworfen zu sein, sei nicht festzustellen. Eine solche könne ua weder im Hinblick auf den Gesundheitszustand in Verbindung mit einer Unzulänglichkeit der medizinischen Bedingungen im Herkunftsstaat, noch im Hinblick auf die allgemeine humanitären Bedingungen im Herkunftsstaat in Verbindung mit der persönlichen Lage des Beschwerdeführers, noch im Hinblick auf psychische Faktoren festgestellt werden. Der Beschwerdeführer verfüge jedenfalls über eine zumutbare innerstaatliche Fluchtalternative, insbesondere in Kabul. Der Beschwerdeführer könne sich in Kabul, zu Beginn notfalls mit Unterstützung seiner ebenfalls noch in Afghanistan aufhältigen Familie bzw dem Teil seiner im Iran lebenden Familie, eine (neue) Existenz aufbauen. Unter Berücksichtigung des Erkenntnisses des Verfassungsgerichtshofes VfSlg 18.407/2008 und der darin zitierten Judikatur des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte liege eine akute lebensbedrohende Krankheit des Beschwerdeführers, welche seine Überstellung nach Afghanistan unzulässig machen würde, im konkreten Fall jedenfalls nicht vor. In Afghanistan sei jedenfalls eine medizinische Grundversorgung gewährleistet. Dass die auf die psychische Erkrankung des Beschwerdeführers bezogenen Behandlungsmöglichkeiten im Zielland allenfalls schlechter seien als im Aufenthaltsland und (allfällig) "erhebliche Kosten" verursachen, sei nicht ausschlaggebend. Es lägen im gegenständlichen Fall daher keine außerordentlichen Umstände im Sinne der Judikatur vor.

2.3.    Aus dem dem Erkenntnis zugrunde gelegten Länderinformationsblatt der Staatendokumentation zur Lage in Afghanistan mit Stand 29. Juni 2018 ergibt sich zur medizinischen Versorgung und zur Rückkehr – auf das Wesentliche zusammengefasst – Folgendes:

2.3.1. Gemäß der afghanischen Verfassung müsse der Staat allen Bürgern kostenfreie primäre Gesundheitsversorgung in öffentlichen Einrichtungen gewährleisten. Allerdings sei die Verfügbarkeit und Qualität der Grundbehandlung durch Mangel an gut ausgebildeten Ärzten und Assistenzpersonal (va. Hebammen), mangelnde Verfügbarkeit von Medikamenten, schlechtes Management sowie schlechte Infrastruktur begrenzt. Rund 10 Millionen Menschen in Afghanistan hätten keinen oder nur eingeschränkten Zugang zu medizinischer Grundversorgung. Die Kosten von Diagnose und Behandlung in privat geführten Krankenhäusern variierten stark und müssten von den Patienten selbst getragen werden. Die Sicherheitslage habe erhebliche Auswirkungen auf die medizinische Versorgung. In den letzten zehn Jahren habe die Flächendeckung der primären Gesundheitsversorgung in Afghanistan stetig zugenommen. Es gebe keine staatliche Unterstützung für den Erwerb von Medikamenten. Die Kosten dafür müssten von den Patienten getragen werden. Während in den Städten ein ausreichendes Netz von Krankenhäusern und Kliniken bestehe, sei es in den ländlichen Gebieten für viele Afghanen schwierig, eine Klinik oder ein Krankenhaus zu erreichen. In der afghanischen Bevölkerung litten viele Menschen an unterschiedlichen psychischen Erkrankungen. Die afghanische Regierung sei sich der Problematik bewusst und habe geistige Gesundheit als Schwerpunkt gesetzt. Jedoch sei der Fortschritt schleppend und die Leistungen außerhalb von Kabul seien dürftig. Es existiere zB in Mazar-e Sharif ein privates neuropsychiatrisches Krankenhaus und ein öffentliches psychiatrisches Krankenhaus. In Kabul existiere eine weiter psychiatrische Klinik. Landesweit böten alle Provinzkrankenhäuser kostenfreie psychologische Beratung an, die in einigen Fällen sogar online zur Verfügung stünden. Mental erkrankte Personen könnten beim Roten Halbmond, in entsprechenden Krankenhäusern und bei anderen Nichtregierungsorganisationen behandelt werden. Traditionell mangle es in Afghanistan an einem Konzept für psychisch Kranke. Sie würden nicht selten in spirituellen Schreinen unter teilweise unmenschlichen Bedingungen "behandelt" oder es werde ihnen mittels einer "Therapie" mit Brot, Wasser und Pfeffer der "böse Geist ausgetrieben". Die Behandlung von psychischen Erkrankungen – insbesondere Kriegstraumata – finde abgesehen von einzelnen Projekten von NGOs nach wie vor nicht in ausreichendem Maße statt. Die International Psychosocial Organisation (IPSO) biete landesweit psychosoziale Betreuung durch Online-Beratung und Projektfeldarbeit mit insgesamt 280 psychosozialen Therapeuten an; die Beratung stehe von 8 bis 19 Uhr kostenfrei zur Verfügung; es würden ebenso persönliche Sitzungen in Beratungszentren der Krankenhäuser angeboten. Unter anderem sei IPSO in den Provinzen Nangarhar, Kabul, Herat, Bamyan, Badakhshan, Balkh, Jawzjan und Laghman tätig. IPSO unterstütze auch Rückkehrer und biete denjenigen, die es benötigten und in abgelegenen Provinzen zurückkehrten, bis zu fünf Skype-Sitzungen.

2.3.2. Die Großfamilie sei dem Länderinformationsblatt zufolge die zentrale soziale Institution in Afghanistan und bilde das wichtigste soziale Sicherheitsnetz der Afghanen. Neben der Familie als zentrale Stütze der afghanischen Gesellschaft kämen noch weitere wichtige Netzwerke zum Tragen, wie zB der Stamm, der Clan und die lokale Gemeinschaft. Ein fehlendes familiäres Netzwerk stelle eine Herausforderung für die Reintegration von Migranten in Afghanistan dar. So seien einige Rückkehrer auf soziale Netzwerke angewiesen, wenn es ihnen nicht möglich sei, auf das familiäre Netzwerk zurückzugreifen. Es verlören nur sehr wenige Afghanen in Europa den Kontakt zur ihrer Familie. Afghanische Männer hätten sehr wahrscheinlich eine Familie in Afghanistan, zu der sie zurückkehren könnten. Eine Ausnahme stellten möglicherweise jene Fälle dar, deren familiäre Netze in den Nachbarstaaten Iran oder Pakistan lägen.

3.       Aus den Gerichts- und Verwaltungsakten ergibt sich zum Gesundheitszustand des Beschwerdeführers weiter Folgendes:

Am 14. Oktober 2016 fügte sich der Beschwerdeführer massive Selbstverletzungen an den Armen zu. Vom 14. Oktober 2016 bis 17. Oktober 2016 sowie vom 24. Oktober 2016 bis 25. Oktober 2016 war der Beschwerdeführer im Landesklinikum Baden-Mödling, Abteilung Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie (Hinterbrühl), stationär aufgenommen. Aus einem fachärztlichen Kurzbefund der Leiterin des Ambulatoriums für Kinder und Jugendliche in Krisensituationen (die Boje) vom 12. Mai 2017 ergibt sich, dass der Beschwerdeführer seit 7. Juli 2016 in regelmäßiger Behandlung im Ambulatorium sei (Diagnose "Posttraumatische Belastungsstörung, F43.1"). Während des Asylverfahrens sei es zu einer zunehmenden depressiven Einengung, paranoid anmutenden Gedanken, Zwangshandlungen und schließlich zu einem Selbstmordversuch gekommen. Eine Medikation hätte reduziert werden können. Zur Stabilisierung sei weiterhin eine regelmäßige Psychotherapie im Sinne einer Krisenintervention sowie im Bedarfsfall einer neuerlichen Medikation mit einem Antipsychotika erforderlich. Aus einem weiteren fachärztlichen Kurzbefund vom 17. November 2017 ergibt sich, dass es zu einer Verschlechterung des Gesundheitszustandes des Beschwerdeführers kam, jedoch nunmehr wieder eine langsame Besserung eintrete. Der Zustand des Beschwerdeführers sei weiterhin instabil und es könne jederzeit zu einer Verschlechterung kommen. Der Therapievorschlag wird in diesem Bericht weiter aufrechterhalten.

4.       Gegen diese Entscheidung richtet sich die vorliegende, auf Art144 B-VG gestützte Beschwerde, in der die Verletzung im Recht auf Gleichheit von Fremden untereinander (ArtI Abs1 Bundesverfassungsgesetz BGBl 390/1973) und im Recht, keiner unmenschlichen oder erniedrigenden Strafe oder Behandlung unterworfen zu werden (Art3 EMRK) behauptet, die kostenpflichtige Aufhebung des angefochtenen Erkenntnisses seinem gesamten Umfang nach, die Zuerkennung der aufschiebenden Wirkung und die Gewährung von Verfahrenshilfe beantragt wird.

Begründend wird dazu im Wesentlichen ausgeführt, dass das Bundesverwaltungsgericht veraltete Judikatur des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte für seine Entscheidung herangezogen habe, weshalb ein wesentlicher Teil des Sachverhaltes nicht ermittelt wurde. Das Bundesverwaltungsgericht habe es unterlassen, sich anhand der aktuellen Vorgaben der Judikatur (EGMR 13.12.2016 [GK], Fall Paposhvili, Appl 41738/10) mit der konkreten Situation des Beschwerdeführers hinsichtlich seiner psychischen Erkrankung auseinanderzusetzen. Das Gericht habe es insbesondere verabsäumt, sich anhand von Länderinformationen mit der Frage auseinanderzusetzen, ob dem Beschwerdeführer in Afghanistan tatsächlich Zugang zu psychiatrischer Behandlung gewährt werden würde. Außerdem habe das Bundesverwaltungsgericht fälschlicherweise festgestellt, dass der Beschwerdeführer bei seiner Rückkehr nach Afghanistan auf "Hilfe und Unterstützung seiner dort aufhältigen Familie" zählen könne.

5.       Das Bundesverwaltungsgericht hat die Gerichts- und Verwaltungsakten vorgelegt und eine Gegenschrift erstattet, in der es einerseits die Gründe für den zwischen mündlicher Verhandlung und Erlassung des Erkenntnisses verstrichenen Zeitraum erklärt und andererseits näher begründet, warum ihm kein in die Verfassungssphäre reichender Fehler unterlaufen sei.

II.      Erwägungen

Die Beschwerde ist zulässig.

A. Soweit sich die Beschwerde gegen die Abweisung der Beschwerde durch das Bundesverwaltungsgericht betreffend die Abweisung des Antrages auf internationalen Schutz hinsichtlich des Status des subsidiär Schutzberechtigten, die Nichtzuerkennung eines Aufenthaltstitels aus berücksichtigungswürdigen Gründen, die Erlassung einer Rückkehrentscheidung, die Feststellung der Zulässigkeit der Abschiebung nach Afghanistan und gegen den Ausspruch der Frist zur freiwilligen Ausreise richtet, ist sie begründet:

1.       Nach der mit VfSlg 13.836/1994 beginnenden, nunmehr ständigen Rechtsprechung des Verfassungsgerichtshofes (s etwa VfSlg 14.650/1996 und die dort angeführte Vorjudikatur; weiters VfSlg 16.080/2001 und 17.026/2003) enthält ArtI Abs1 des Bundesverfassungsgesetzes zur Durchführung des Internationalen Übereinkommens über die Beseitigung aller Formen rassischer Diskriminierung, BGBl 390/1973, das allgemeine, sowohl an die Gesetzgebung als auch an die Vollziehung gerichtete Verbot, sachlich nicht begründbare Unterscheidungen zwischen Fremden vorzunehmen. Diese Verfassungsnorm enthält ein – auch das Sachlichkeitsgebot einschließendes – Gebot der Gleichbehandlung von Fremden untereinander; deren Ungleichbehandlung ist also nur dann und insoweit zulässig, als hiefür ein vernünftiger Grund erkennbar und die Ungleichbehandlung nicht unverhältnismäßig ist.

Diesem einem Fremden durch ArtI Abs1 leg.cit. gewährleisteten subjektiven Recht widerstreitet eine Entscheidung, wenn sie auf einem gegen diese Bestimmung verstoßenden Gesetz beruht (vgl zB VfSlg 16.214/2001), wenn das Verwaltungsgericht dem angewendeten einfachen Gesetz fälschlicherweise einen Inhalt unterstellt hat, der – hätte ihn das Gesetz – dieses als in Widerspruch zum Bundesverfassungsgesetz zur Durchführung des Internationalen Übereinkommens über die Beseitigung aller Formen rassischer Diskriminierung, BGBl 390/1973, stehend erscheinen ließe (s etwa VfSlg 14.393/1995, 16.314/2001) oder wenn es bei Erlassung der Entscheidung Willkür geübt hat (zB VfSlg 15.451/1999, 16.297/2001, 16.354/2001 sowie 18.614/2008).

Ein willkürliches Verhalten des Verwaltungsgerichtes, das in die Verfassungssphäre eingreift, liegt unter anderem in einer gehäuften Verkennung der Rechtslage, aber auch im Unterlassen jeglicher Ermittlungstätigkeit in einem entscheidenden Punkt oder dem Unterlassen eines ordnungsgemäßen Ermittlungsverfahrens überhaupt, insbesondere in Verbindung mit einem Ignorieren des Parteivorbringens und einem leichtfertigen Abgehen vom Inhalt der Akten oder dem Außerachtlassen des konkreten Sachverhaltes (zB VfSlg 15.451/1999, 15.743/2000, 16.354/2001, 16.383/2001).

2.       Ein solcher Fehler ist dem Bundesverwaltungsgericht unterlaufen:

2.1. Das Bundesverwaltungsgericht hat sich in nicht ausreichendem Ausmaß mit der individuellen Situation des Beschwerdeführers im Falle der Rückkehr nach Afghanistan auseinandergesetzt und hat die für diese Auseinandersetzung maßgeblichen Ermittlungsschritte unterlassen. Insbesondere fehlt neben einer Würdigung der Suizidgefahr (Auseinandersetzung mit der Schwere der Erkrankung) auch eine konkrete Auseinandersetzung mit dem Zugang des Beschwerdeführers zu medizinischer Versorgung, psychotherapeutischer Behandlung und Medikamenten im Heimatstaat (zur Maßgeblichkeit insbesondere dieser Kriterien siehe das Urteil des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte vom 13. Dezember 2016 [GK], Fall Paposhvili, Appl 41738/10, Z189 f.). Weiters verkennt das Bundesverwaltungsgericht, dass afghanische Männer nach den Ausführungen im Länderinformationsblatt zwar sehr wahrscheinlich eine Familie in Afghanistan haben, zu der sie zurückkehren können, jedoch möglicherweise jene Fälle eine Ausnahme darstellen, deren familiäre Netze in den Nachbarstaaten Iran oder Pakistan liegen. Da das Bundesverwaltungsgericht fälschlicherweise davon ausgeht, dass der Beschwerdeführer über ein familiäres Netzwerk in Afghanistan verfügt, setzt es sich mit der individuellen Situation des auf Grund seines Gesundheitszustandes vulnerablen Beschwerdeführers im Fall der Rückkehr nach Afghanistan unzureichend auseinander.

2.2. Die in der letzten Stellungnahme vorgebrachte Arbeitsfähigkeit und Arbeitswilligkeit des Beschwerdeführers entbindet das Bundesverwaltungsgericht nicht davon, eine Prüfung des Einzelfalles anhand der Kriterien aus der jüngeren Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte (EGMR, Fall Paposhvili, Z183 ff.) durchzuführen und dementsprechende Erhebungen anzustellen. Wenn das Bundesverwaltungsgericht nunmehr in seiner Gegenschrift versucht, unter Heranziehung jüngerer Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes, welche sich mit dem Urteil des Europäischen Gerichtshofes im Fall Paposhvili auseinandersetzt, sein Erkenntnis damit zu rechtfertigen, dass keine schwere Erkrankung des Beschwerdeführers im Sinne des Urteiles des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte vorliege, vermag diese Begründung nicht darzutun, warum das angefochtene Erkenntnis nicht mit einem in die Verfassungssphäre reichenden Fehler belastet ist.

2.3. Soweit sich das Erkenntnis auf die Nichtzuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten und – daran anknüpfend – auf die Nichterteilung eines Aufenthaltstitels aus berücksichtigungswürdigen Gründen, die Rückkehrentscheidung bzw auf die Feststellung der Zulässigkeit der Abschiebung in den Herkunftsstaat unter Setzung einer Frist zur freiwilligen Ausreise bezieht, ist es mit Willkür behaftet und insoweit aufzuheben.

B. Im Übrigen (hinsichtlich der Abweisung der Beschwerde durch das Bundesverwaltungsgericht betreffend die Abweisung des Antrages auf internationalen Schutz hinsichtlich des Status des Asylberechtigten) wird die Behandlung der Beschwerde abgelehnt:

3.       Der Verfassungsgerichtshof kann die Behandlung einer Beschwerde ablehnen, wenn sie keine hinreichende Aussicht auf Erfolg hat oder von der Entscheidung die Klärung einer verfassungsrechtlichen Frage nicht zu erwarten ist (Art144 Abs2 B-VG). Eine solche Klärung ist dann nicht zu erwarten, wenn zur Beantwortung der maßgebenden Fragen spezifisch verfassungsrechtliche Überlegungen nicht erforderlich sind.

4.       Die Beschwerde behauptet bezüglich der Nichtzuerkennung des Status des Asylberechtigten keine Verletzung in näher bezeichneten verfassungsgesetzlich gewährleisteten Rechten, begehrt jedoch die Aufhebung des Erkenntnisses im vollen Umfang. Eine allfällige Rechtsverletzung bezüglich der Nichtzuerkennung des Status des Asylberechtigten wäre nur die Folge einer unrichtigen Anwendung des einfachen Gesetzes. Spezifische verfassungsrechtliche Überlegungen wären nicht anzustellen.

5.       Demgemäß wurde beschlossen, von einer Behandlung der Beschwerde, soweit sie sich gegen die Abweisung der Beschwerde durch das Bundesverwaltungsgericht betreffend die Abweisung des Antrages auf internationalen Schutz hinsichtlich des Status des Asylberechtigten richtet, abzusehen (§19 Abs3 Z1 iVm §31 letzter Satz VfGG).

III.    Ergebnis

1.       Der Beschwerdeführer ist durch das angefochtene Erkenntnis, soweit damit die Beschwerde gegen die Abweisung des Antrages auf internationalen Schutz bezüglich der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Afghanistan, gegen die Nichterteilung eines Aufenthaltstitels aus berücksichtigungswürdigen Gründen, gegen die Erlassung einer Rückkehrentscheidung, gegen die Feststellung der Zulässigkeit der Abschiebung in den Herkunftsstaat Afghanistan und gegen die Festsetzung einer 14-tägigen Frist zur freiwilligen Ausreise abgewiesen wird, in dem verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf Gleichbehandlung von Fremden untereinander (ArtI Abs1 Bundesverfassungsgesetz BGBl 390/1973) verletzt worden.

2.       Das Erkenntnis ist daher in diesem Umfang aufzuheben, ohne dass auf das weitere Beschwerdevorbringen einzugehen ist.

3.        Im Übrigen wird die Behandlung der Beschwerde abgelehnt.

4.       Diese Entscheidung konnte gemäß §19 Abs4 bzw §19 Abs3 Z1 iVm §31 letzter Satz VfGG ohne mündliche Verhandlung in nichtöffentlicher Sitzung getroffen werden.

5.       Die Kostenentscheidung beruht auf §88 VfGG. In den zugesprochenen Kosten ist Umsatzsteuer in Höhe von € 436,– enthalten.

Schlagworte

Asylrecht, Rückkehrentscheidung, Entscheidungsbegründung, Ermittlungsverfahren

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:VFGH:2019:E3796.2018

Zuletzt aktualisiert am

06.08.2019
Quelle: Verfassungsgerichtshof VfGH, http://www.vfgh.gv.at
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