TE Bvwg Erkenntnis 2020/3/23 W114 2180083-1

JUSLINE Entscheidung

Veröffentlicht am 23.03.2020
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Entscheidungsdatum

23.03.2020

Norm

AsylG 2005 §10 Abs1 Z3
AsylG 2005 §3 Abs1
AsylG 2005 §57
AsylG 2005 §8 Abs1
BFA-VG §9
B-VG Art133 Abs4
FPG §46
FPG §50
FPG §52 Abs2
FPG §52 Abs9
FPG §55 Abs1
FPG §55 Abs2
FPG §55 Abs3
FPG §55a

Spruch

W114 2180083-1/16E

IM NAMEN DER REPUBLIK!

Das Bundesverwaltungsgericht erkennt durch den Richter Mag. Bernhard DITZ über die Beschwerde von XXXX , geb. XXXX , Staatsangehörigkeit Afghanistan, vertreten durch XXXX , gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl, Regionaldirektion Tirol vom 22.11.2017, Zl. 16-1104705606/160195600, nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung am 28.01.2020 zu Recht:

A)

Die Beschwerde wird abgewiesen.

B)

Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.

Text

ENTSCHEIDUNGSGRÜNDE:

I. Verfahrensgang:

1. XXXX , geboren am XXXX , (im Weiteren: Beschwerdeführer oder BF), ein afghanischer Staatsbürger, Angehöriger der Volksgruppe der Tadschiken und sunnitischer Moslem, stellte am 08.02.2016 einen Antrag auf internationalen Schutz in Österreich.

2. Bei der am 08.02.2016 erfolgten Erstbefragung gab der BF an, dass er am 01.01.1998 geboren sei. Er stamme aus einem Ort im Distrikt Dahana i Ghuri, in der Provinz Baghlan. Er sei ledig und habe keine Kinder. Sein Vater, seine Mutter und vier Geschwister würden immer noch in Afghanistan leben. Er habe in Afghanistan zehn Jahre lang eine Grundschule besucht. Er habe in Afghanistan keinen Beruf ausgeübt. Die Frage, ob er je ein Reisedokument oder einen sonstigen Identitätsnachweis gehabt habe, verneinte er. Befragt zu den Gründen, warum er Afghanistan verlassen habe, führte er aus, dass "er dort keine Sicherheit habe; weil dort Krieg herrsche. Er habe in seiner Heimat keine Lebensperspektive." Die Frage, ob er bei einer Rückkehr nach Afghanistanmit mit Sanktionen zu rechnen hätte, verneinte er.

3. Der BF legte am 21.03.2016 eine afghanische Geburtsurkunde (Tazkira) samt einer am 15.03.2016 in Österreich verfassten Übersetzung dieser Tazkira in die deutsche Sprache vor.

4. Am 26.09.2017 fand vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (BFA) seine Einvernahme statt.

Befragt zur von ihm vorgelegten Tazkira, führte der Beschwerdeführer aus, dass er "in Afghanistan noch viele Verwandte, darunter seine Familie habe", die ihm die Tazkira zugeschickt hätten.

Der Beschwerdeführer wies auch auf mehrere von ihm vorgelegte Fotografien hin, die beweisen sollten, dass sein Bruder beim Militär gewesen wäre; deswegen werde der Beschwerdeführer bedroht.

Sein Vater sei vor ca. drei Jahren ermordet worden. Befragt nach Verwandten, die sich noch in Afghanistan befinden würden, antwortete der BF, dass es in Afghanistan keine Verwandten väterlicherseits gebe; mütterlicherseits habe er nur einen Onkel und drei Cousinen bzw. Cousins. Auch der Vater seiner Mutter sei noch am Leben. Sein Großvater und sein (älterer) Bruder hätten seine Flucht finanziert. In seinem Dorf habe er viele Freunde gehabt.

Nach dem Tod seines Vaters wäre er mit seinen Geschwistern und der Mutter zu den Eltern seiner Mutter gezogen.

Bei einem Besuch mit seiner Mutter und seinen Geschwistern bei den Eltern seiner Mutter habe seine Mutter versucht ihren Mann, den Vater des BF, anzurufen. Sie hätte ihn jedoch nicht erreicht. Da seine Mutter und der Großvater des BF sich Sorgen gemacht hätten, hätten Sie einen Nachbarn angerufen. Dieser habe Ihnen mitgeteilt, dass es im Haus seines Vaters in der Nacht eine Schießerei gegeben habe. Das Haus sei niedergebrannt worden. Bei Löscharbeiten sei sein ermordeter Vater gefunden worden.

Sein Onkel und seine Mutter wären zum abgefackelten Haus gereist. Als sie dort angekommen wären, hätten die Nachbarn den Vater bereits begraben gehabt.

In der Nacht wären der Onkel und seine Mutter zurückgekehrt.

Wenig später habe sein älterer Bruder, der Soldat gewesen wäre und für einen ausländischen Fernsehsender ein Interview gegeben habe, angerufen. Sein Bruder habe ebenfalls vergeblich versucht den Vater telefonisch zu erreichen. Als seinem Bruder mitgeteilt worden wäre, dass der Vater ermordet worden wäre, habe sich dieser Bruder die Schuld an der Ermordung des Vaters gegeben, da er von Taliban bedroht bzw. gewarnt worden wäre.

Der BF habe sich danach noch drei Tage im Haus seines Großvaters aufgehalten, welches er während dieser drei Tage nicht verlassen habe. Die Verwandten hätten beschlossen, dass der BF in ein sicheres Land flüchten müsse. Deswegen sei er ausgereist. Dabei sei er zuerst mit einem Bus nach Herat zu seinem Bruder gereist, mit dem er gemeinsam Afghanistan verlassen habe. Er habe sich längere Zeit in der Türkei aufgehalten. Seine Flucht, die ihn nach Österreich geführt habe, habe ein bis zwei Jahre gedauert. Seinen in Afghanistan verbliebenen Schwestern, seinem jüngeren Bruder und seiner Mutter gehe es gut. Sie würden vom Großvater versorgt werden; sie wären in Sicherheit.

Er selbst sei in Afghanistan nicht bedroht worden. Jene Leute, die ihn umbringen wollen würden, hätten ein Foto von ihm und seinem Bruder gehabt, welches sie herumgezeigt hätten. Das habe seine Mutter von Nachbarn erfahren. Bei den Personen, die ihn umbringen wollen würden, würde es sich um Taliban handeln, weil auch sein Bruder von Taliban bedroht und gewarnt worden wäre.

Bei der Einvernahme vor dem BFA berichtete der Beschwerdeführer aber auch von drei Fotografien ("Das Foto meines Vaters, meines Bruders und eines von mir. Alle drei."), mit denen nach ihm gefahndet worden wäre.

Die Frage, warum er von seinen Verfolgern bei einer Rückkehr nach Afghanistan verfolgt werden würde, beantwortete er damit, dass "sie" diejenigen suchen würden, die gegen diese Leute kämpfen würden. Sein Bruder sei bei der Armee gewesen und habe einem ausländischen Fernsehsender ein Interview gegeben. Sein älterer Bruder habe gegenüber seiner Familie angegeben, dass er öfters bedroht und gewarnt worden sei, dies jedoch nicht ernst genommen habe.

5. In einer schriftlichen Stellungnahme vom 04.10.2017 behauptete der BF, dass ihm eine Rückkehr nach Afghanistan aufgrund der dortigen allgemeinen Situation nicht zumutbar wäre.

6. Mit Bescheid des BFA vom 22.11.2017, Zl. 16-1104705606/160195600, der einem zustellungsbevollmächtigtem Vertreter des BF am 27.11.2017 zugestellt wurde, wurde der Antrag des Beschwerdeführers auf internationalen Schutz hinsichtlich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten gemäß § 3 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z. 13 AsylG 2005 (Spruchpunkt I.) und bezüglich der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Afghanistan gemäß § 8 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG 2005 (Spruchpunkt II.) abgewiesen. Gemäß § 57 AsylG wurde ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen nicht erteilt (Spruchpunkt III.). Gemäß § 10 Abs. 1 Z 3 AsylG iVm § 9 BFA-VG wurde gegen den Beschwerdeführer eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs. 2 Z 2 FPG erlassen (Spruchpunkt IV.). Es wurde festgestellt, dass die Abschiebung des Beschwerdeführers gemäß § 46 FPG nach Afghanistan zulässig sei (Spruchpunkt V.). Weiters wurde ausgeführt, dass die Frist für die freiwillige Ausreise des Beschwerdeführers gemäß § 55 Abs. 1 bis 3 FPG 14 Tage ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung betrage (Spruchpunkt VI.).

Begründend wurde zu Spruchpunkt I. ausgeführt, dass der Beschwerdeführer bei einer Rückkehr nach Afghanistan nicht verfolgt werden würde.

Zu Spruchpunkt II. wurde dargelegt, dass der Beschwerdeführer sich nicht in seiner Heimatprovinz Baghlan, aber jedenfalls im Rahmen einer innerstaatlichen Fluchtalternative in Kabul, Herat oder Mazar-e-Sharif niederlassen könne. Er verfüge über soziale und familiäre Anknüpfungspunkte in Afghanistan.

Der Beschwerdeführer erfülle nicht die Voraussetzungen für die Erteilung eines Aufenthaltstitels gemäß § 57 AsylG; der Erlassung einer Rückkehrentscheidung stehe sein Recht auf Achtung des Privat- oder Familienlebens angesichts der kurzen Aufenthaltsdauer und des Umstandes, dass keine sonstigen Gründe vorliegen würden, die eine andere Entscheidung herbeiführen würden, nicht entgegen. Der Beschwerdeführer verfüge in Österreich über keine Verwandten oder Bezugspersonen. Er habe sich seines unsicheren Aufenthaltsstatus bewusst sein müssen. Angesichts der abweisenden Entscheidung über den Antrag auf internationalen Schutz ergebe sich die Zulässigkeit einer Abschiebung des Beschwerdeführers nach Afghanistan. Die Frist für die freiwillige Ausreise von 14 Tagen ergebe sich aus § 55 FPG. Besondere Umstände, die der Beschwerdeführer bei der Regelung seiner persönlichen Verhältnisse zu berücksichtigen habe, stünden dem nicht entgegen. Bei der anzustellenden Abwägung der betroffenen Interessen sei dem geordneten Vollzug des Fremdenwesens und der öffentlichen Ordnung und Sicherheit mehr Gewicht einzuräumen, als den Interessen des Beschwerdeführers.

7. Gegen diese Entscheidung erhob der Beschwerdeführer Beschwerde. Begründend wurde insbesondere darauf hingewiesen, dass der Umstand, dass es sich beim BF um einen Minderjährigen handle, nur unzureichend berücksichtigt worden wäre. Auch aus den vorliegenden Länderberichten zu Afghanistan ergebe sich, dass dem BF eine Rückkehr nach Afghanistan nicht zumutbar sei.

8. Die Beschwerde und die Unterlagen des Verwaltungsverfahrens wurden dem Bundesverwaltungsgericht (BVwG) mit Schreiben des BFA vom 14.12.2017 am 18.12.2017 zur Entscheidung vorgelegt.

9. Am 23.04.2018 wurde dem BVwG vom BFA mitgeteilt, dass dem Beschwerdeführer vom AMS für den Zeitraum vom 09.04.2018 bis 08.04.2022 eine Beschäftigungsbewilligung erteilt worden wäre.

10. Am 27.06.2019 übermittelte der BF u.a. eine Kopie des vom BF mit der XXXX in Innsbruck abgeschlossenen Lehrvertrages als Lehrling im Bereich LI Elektro-, Gebäude-, Alarm- und Kommunikationstechniker vom 23.04.2018, in welchem eine Lehrzeit bis 10.10.2021 ausgewiesen ist.

11. Mit der Ladung zur mündlichen Beschwerdeverhandlung am 22.10.2019 wurde vom BVwG dem Beschwerdeführer mitgeteilt, dass das BVwG bei der Entscheidung in der gegenständlichen Angelegenheit folgende Unterlagen zur Lage in Afghanistan zu Grunde legen bzw. verwerten wird:

? Länderinformationsblatt der Staatendokumentation Afghanistan Stand 29.06.2018 - letzte Kurzinformation eingefügt am 04.06.2019;

? Bericht des Auswärtigen Amtes der Bundesrepublik Deutschland: Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Islamischen Republik Afghanistan, 31.05.2018;

? Überblick über die Sicherheitslage in Afghanistan vom 26.07.2019;

? EASO-Länderleitfaden und EASO-Berichte betreffend Afghanistan;

? EASO-Bericht zur Sicherheitslage in Afghanistan vom Juni 2019;

? EASO Country Guidance: Afghanistan; Guidance note and common analysis vom Juni 2019;

? Report of the UN-Secretary-General: The situation in Afghanistan and its implications for international peace and security vom 14.06.2019;

? Report on the Protection of Civilians in Armed Conflict vom Juli 2019;

? Report Afghanistan: Recruitment to Taliban;

? Report Afghanistan: Taliban's Intelligence and the intimidation campaign;

? ACCORD Anfragebeantwortung zur Entwicklung der wirtschaftlichen Situation, der Versorgungs- und Sicherheitslage in Herat, Mazar-e Sharif und Kabul;

11. In der mündlichen Beschwerdeverhandlung am 28.01.2020 wurde der Beschwerdeführer zu seiner Identität und Herkunft sowie zu seinen Fluchtgründen, insbesondere zu den Problemen mit allfälligen Verfolgern und zur Zumutbarkeit einer Rückkehr nach Afghanistan befragt.

Der Beschwerdeführer vermochte von keiner gegen ihn individuell gerichteten Verfolgungshandlung zu berichten.

Erstmals in der mündlichen Verhandlung vor dem BVwG behauptete er, dass er sich vom islamischen Glauben abgewandt habe und nunmehr als Apostat bei einer Rückkehr nach Afghanistan auch von asylrelevanter Verfolgung bedroht wäre.

Da von der Staatendokumentation am 13.11.2019 ein neues Länderinformationsblatt zur Situation in Afghanistan aufgelegt wurde, wurde dem Beschwerdeführer in der mündlichen Beschwerdeverhandlung die Möglichkeit eingeräumt, dazu eine schriftliche Stellungnahme abzugeben.

12. In einer Stellungnahme vom 10.02.2020 wiederholte der BF im Wesentlichsten zusammenfassend sein bisheriges Vorbringen und wies darauf hin, dass er im Zeitpunkt der Antragstellung noch minderjährig gewesen wäre und seine Ausführungen daher unter diesem Gesichtspunkt zu berücksichtigen wären.

13. In einem weiteren Schriftsatz vom 14.02.2020 verwies der Beschwerdeführer auf Textpassagen des Erkenntnisses des BVwG vom 25.07.2019, GZ. W159 2157531, ohne diese jedoch zu kommentieren oder darzulegen, in welchem Zusammenhang diese Textpassagen zum gegenständlichen Beschwerdeverfahren stehen.

II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:

1. Feststellungen:

Der entscheidungsrelevante Sachverhalt steht fest. Auf Grundlage des erhobenen Antrages des BF auf internationalen Schutz, der Erstbefragung sowie Einvernahme des Beschwerdeführers durch Organe des öffentlichen Sicherheitsdienstes sowie des BFA, seinen schriftlichen Stellungnahmen vom 04.10.2017, vom 10.02.2020 und vom 14.02.2020, der Beschwerde vom 14.12.2017 gegen den im Spruch genannten Bescheid des BFA, der im Asyl- als auch im Beschwerdeverfahren vorgelegten Dokumente, der Ergebnisse der mündlichen Verhandlung vor dem BVwG vom 28.01.2020 und der Einsichtnahme in die Bezug habenden Unterlagen des Verwaltungsverfahrens, das Zentrale Melderegister, das Fremdeninformationssystem, das Strafregister sowie das Grundversorgungs-Informationssystem und in das Länderinformationsblatt der Staatendokumentation zu Afghanistan vom 13.11.2019, des EASO-Länderleitfadens und dem EASO-Bericht betreffend Afghanistan, EASO Country Guidance: Afghanistan; Guidance note and common analysis vom Juni 2019, des Berichtes des Generalsekretariats der UNO zur Situation in Afghanistan und deren Auswirkungen auf den internationalen Frieden und die Sicherheitslage vom 14.06.2019, einen UNAMA-Bericht über den Schutz von Zivilisten in bewaffneten Konflikten vom Juli 2019, den UNHCR-Richtlinien zur Feststellung des internationalen Schutzbedarfs afghanischer Asylsuchender vom 30.08.2018, einer ACCORD Anfragebeantwortung zur Situation vom 1) vom Islam abgefallenen Personen (Apostaten), 2) christlichen KonvertitInnen, 3) Personen, die Kritik am Islam äußern, 4) Personen die sich nicht an die Regeln des Islam halten und 5) Rückkehrern aus Europa vom 01.06.2017, einer ACCORD Anfragebeantwortung zur Situation von muslimischen Familienangehörigen von vom Islam abgefallenen Personen (ApostatInnen), christlichen KonvertitInnen und Personen, die sich kritisch zum Islam äußerten vom 09.11.2017 sowie einer ACCORD Anfragebeantwortung zur Entwicklung der wirtschaftlichen Situation, der Versorgungs- und Sicherheitslage in Herat, Mazar-e Sharif und Kabul werden folgende Feststellungen getroffen und der Entscheidung zugrunde gelegt:

1.1. Zum Beschwerdeführer:

Der Antragsteller, der am 08.02.2016 einen Antrag auf internationalen Schutz stellte, ist Staatsbürger von Afghanistan und Angehöriger der Volksgruppe der Tadschiken. Er wurde im Ort Shalaktu geboren und wuchs im Distrikt Dahana-i-Ghori, in der Provinz Baghlan auf. Er spricht die Sprache Dari. Der Beschwerdeführer ist ledig und hat keine Kinder. Er hat in Afghanistan zehn Jahre lang eine Schule besucht.

Wann der Beschwerdeführer geboren wurde, bzw. dass der Beschwerdeführer am 08.02.2016 noch minderjährig war, kann nicht festgestellt werden. Es kann auch nicht festgestellt werden, dass der BF am 08.02.2016 bereits volljährig war. Soweit sein Geburtsdatum mit XXXX angegeben wird, dient dieses lediglich der Identifikation des Beschwerdeführers.

Es kann nicht festgestellt werden, ob der BF jemals sunnitischer Moslem war bzw. ob er jemals eine religiöse Überzeugung oder ob er jemals einen religiösen Glauben hatte. Er wurde in Afghanistan als sunnitischer Moslem geboren und erzogen, identifizierte sich jedoch nicht mit diesem Glauben. Der Beschwerdeführer interessiert sich in Österreich für keine Religion. Es liegt keine Abwendung bzw. Abkehr des Beschwerdeführers vom Islam vor, die nach einer allfälligen Rückkehr in Afghanistan nach außen hin erkennbar wäre.

Es kann nicht festgestellt werden, ob der Vater des Beschwerdeführers noch lebt bzw. dieser ermordet wurde. Insbesondere kann nicht festgestellt werden, dass der Vater in der Provinz Baghlan von Taliban deswegen ermordet wurde, weil dessen ältester Sohn in der Provinz Herat als Soldat gedient hat.

Der BF verließ Afghanistan nicht aus Furcht vor einer ihm drohenden Verfolgung, sondern weil seine Mutter und deren Vater entschieden haben, dass der Beschwerdeführer Afghanistan verlassen soll. Die Gründe, die die Mutter und den Großvater zu dieser Entscheidung geführt haben, können nur vermutet werden.

Jedenfalls die Mutter des BF, zwei Schwestern und ein jüngerer Bruder befinden sich beim Vater seiner Mutter in Afghanistan. In Afghanistan befinden sich darüber hinaus auch noch viele andere Verwandte, wobei nicht festgestellt werden kann, um wie viele Personen es sich dabei handelt, und in welchem Verwandtschaftsverhältnis diese zum Beschwerdeführer stehen. Der BF steht mit seinen Familienmitgliedern in regelmäßigem Kontakt. Seine Familie könnte den Beschwerdeführer bei einer Rückkehr nach Afghanistan auch unterstützen.

Es kann nicht zweifelsfrei festgestellt werden, warum und wann der Beschwerdeführer Afghanistan verlassen hat bzw. wie lange seine Reise nach Österreich dauerte und ob bzw. wo er sich auf dieser Reise allenfalls längere Zeit aufgehalten hat.

Ein älterer Bruder des Beschwerdeführers, der in Afghanistan in der Provinz Herat Soldat war, und in Afghanistan einem Medienteam ein Interview gegeben hat, befindet sich in einem Flüchtlingslager in Griechenland. Es kann nicht festgestellt werden, warum der Bruder des BF Afghanistan verlassen hat.

Der Beschwerdeführer selbst wurde bislang weder direkt bedroht, angegriffen oder verfolgt und es droht ihm auch keine Verfolgung, wenn er in seine Heimat zurückkehren würde. Der Beschwerdeführer ist insbesondere im Falle einer Rückkehr nach Afghanistan weder aus Gründen der Rasse, der Religion, der Nationalität, der Volksgruppenzugehörigkeit, der Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder wegen seiner politischen Ansichten von staatlicher Seite oder von anderen Personen oder Gruppen bedroht.

Es kann auch nicht glaubhaft und kann damit auch nicht festgestellt werden, dass Personen in Afghanistan mit einem oder mehreren Fotos nach dem Beschwerdeführer fahnden.

Es kann nicht mit der erforderlichen Wahrscheinlichkeit ausgeschlossen werden, dass dem Beschwerdeführer bei einer Rückkehr in seine Herkunftsprovinz Baghlan aufgrund der volatilen Sicherheitslage in dieser Provinz ein Eingriff in seine körperliche Unversehrtheit droht. Ihm stehen jedoch mit den größeren Städten in Afghanistan, insbesondere mit Mazar-e Sharif und Herat innerstaatliche Fluchtalternativen zur Verfügung. Diese Städte verfügen jeweils über einen international erreichbaren Flughafen, sodass die Anreise in diese Städte auch weitgehend gefahrfrei erfolgen kann.

Der Beschwerdeführer ist jung und arbeitsfähig. Er absolviert in Österreich seit April 2018 eine Lehre zum Elektrotechniker bei der XXXX . Er ist strafrechtlich unbescholten. Der BF kann seine Existenz jedenfalls - entsprechende Anstrengungen vorausgesetzt - in Mazar-e Sharif oder Herat mit Hilfs- und Gelegenheitsarbeiten sichern. Er ist auch in der Lage, in diesen Städten eine einfache Unterkunft zu finden.

Der Beschwerdeführer hat auch die Möglichkeit, finanzielle Unterstützung in Form der Rückkehrhilfe in Anspruch zu nehmen, sodass er im Falle der Rückkehr - neben den eigenen Ressourcen und einer Unterstützung durch seinen Großvater, der seine Unterstützungsmöglichkeiten auch bereits in der Vergangenheit unter Beweis gestellt hat, - auf eine zusätzliche Unterstützung zur Existenzsicherung greifen kann. Diese Rückkehrhilfe umfasst jedenfalls auch die notwendigen Kosten der Rückreise. Der Beschwerdeführer ist mobil und anpassungsfähig. Er hat in Afghanistan eine zehnjährige Schulausbildung absolviert und Berufserfahrung als Lehrling im Bereich Elektrotechnik gesammelt, die er auch in Afghanistan nutzen kann.

Der Beschwerdeführer ist gesund. Er läuft im Falle der Rückkehr nach Mazar-e Sharif oder Herat nicht Gefahr, aufgrund seines derzeitigen Gesundheitszustandes in einen unmittelbar lebensbedrohlichen Zustand zu geraten, oder dass sich eine Erkrankung in einem lebensbedrohlichen Ausmaß verschlechtern wird. Es sind auch sonst keine objektivierten Hinweise hervorgekommen, dass allenfalls andere schwerwiegende körperliche oder psychische Erkrankungen einer Rückführung des Beschwerdeführers in den Herkunftsstaat entgegenstehen würden.

Der Beschwerdeführer hat in Österreich eine Freundin, mit der er jedoch weder in einem gemeinsamen Haushalt lebt, noch Kinder hat. Von einer wirtschaftlichen Abhängigkeit hat der BF nicht berichtet. Es sind auch keine weiteren Personen in Österreich vom Beschwerdeführer abhängig oder auf diesen angewiesen.

1.2. Zur maßgeblichen Situation in Afghanistan:

Zur Lage in Afghanistan werden die im Länderinformationsblatt der Staatendokumentation in der Gesamtaktualisierung vom 13.11.2019, in den UNHCR Richtlinien vom 30.08.2018 und den EASO Leitlinien zu Afghanistan vom Juni 2018 enthaltenen folgenden Informationen als entscheidungsrelevant festgestellt:

Politische Lage:

Afghanistan ist ein Zentralstaat mit 34 Provinzen, die in Distrikte gegliedert sind (AA 15.04.2019). Auf einer Fläche von ca. 632.000 Quadratkilometern (CIA 24.05.2019) leben ca. 37 Millionen Menschen (IMF). Die Gesamtbevölkerung von Afghanistan hat sich in den vergangenen 10 Jahren um über 30 Prozent erhöht und betrug im Jahr 2018 geschätzt rund 36 Millionen Einwohner. Dieses Wachstum resultiert nicht nur aus der relativ hohen Fertilitätsrate des Landes, sondern auch aufgrund der verstärkten Rückkehr von afghanischen Kriegsflüchtlingen aus den Nachbarstaaten.

Im Jahr 2004 wurde die neue Verfassung angenommen (BFA 07.2016; vgl. Casolino 2011), die vorsieht, dass kein Gesetz gegen die Grundsätze und Bestimmungen des Islam verstoßen darf und alle Bürgerinnen und Bürger Afghanistans, Mann wie Frau, gleiche Rechte und Pflichten vor dem Gesetz haben (BFA 03.2014; vgl. Casolino 2011, MPI 27.01.2004).

Die Verfassung der islamischen Republik Afghanistan sieht vor, dass der Präsident der Republik direkt vom Volk gewählt wird und sein Mandat fünf Jahre beträgt (Casolino 2011). Implizit schreibt die Verfassung dem Präsidenten auch die Führung der Exekutive zu (AAN 13.02.2015) und die Provinzvorsteher, sowie andere wichtige Verwaltungsbeamte, werden direkt vom Präsidenten ernannt und sind diesem rechenschaftspflichtig. Viele werden aufgrund persönlicher Beziehungen ausgewählt (EC 18.05.2019).

In Folge der Präsidentschaftswahlen 2014 wurde am 29.09.2014 Mohammad Ashraf GHANI als Nachfolger von Hamid KARZAI in das Präsidentenamt eingeführt. Gleichzeitig trat sein Gegenkandidat Abdullah ABDULLAH das Amt des Regierungsvorsitzenden (CEO) an - eine per Präsidialdekret eingeführte Position, die Ähnlichkeiten mit der Position eines Premierministers aufweist. GHANI und ABDULLAH stehen an der Spitze einer Regierung der nationalen Einheit (National Unity Government, NUG), auf deren Bildung sich beide Seiten in Folge der Präsidentschaftswahlen verständigten (AA 15.04.2019; vgl. AM 2015, DW 30.09.2014). Bei der Präsidentenwahl 2014 gab es Vorwürfe von Wahlbetrug in großem Stil (RFE/RL 29.05.2019). Die ursprünglich für den 20.04.2019 vorgesehene Präsidentschaftswahl wurde mehrfach verschoben, da die Wahlbehörden auf eine landesweite Wahl so kurz nach der Parlamentswahl im Oktober 2018 nicht vorbereitet waren. Der Oberste Gerichtshof Afghanistans konnte die Herausforderungen für die Wahlkommission nachvollziehen und verlängerte die Amtszeit von Präsident Ashraf GHANI bis zu der auf den 28.09.2019 verschobenen Präsidentschaftswahl (DZ 21.04.2019). Letztlich wurde Ashraf GHANI am 18.02.2020 offiziell mit einem Stimmanteil von 55,3 % bei der zuletzt durchgeführten Stichwahl zum Wahlsieger der Präsidentschaftswahl erklärt, wobei aber auch sein schärfster Konkurrent den Wahlsieg für sich reklamierte und sich zum Präsident vereidigen ließ.

Parlament und Parlamentswahlen:

Die afghanische Nationalversammlung ist die höchste legislative Institution des Landes und agiert im Namen des gesamten afghanischen Volkes (Casolino 2011). Sie besteht aus 2 Kammern: dem Unterhaus oder Volksvertretung (Wolesi Jirga) mit 250 Abgeordneten (für 5 Jahre gewählt) sowie dem Oberhaus oder Ältestenrat (Meschrano Jirga) mit 102 Abgeordneten (AA 15.04.2019).

Das Oberhaus setzt sich laut Verfassung zu je einem Drittel aus Vertretern der Provinz- und Distrikträte zusammen. Das letzte Drittel der Senatoren wird durch den Präsidenten bestimmt (AA 15.04.2019). Die Hälfte der vom Präsidenten entsandten Senatoren müssen Frauen sein. Weiters vergibt der Präsident 2 Sitze für die nomadischen Kutschi und 2 weitere an behinderte Personen. Auch ist de facto ein Sitz für einen Vertreter der Hindu- bzw. Sikh-Gemeinschaft reserviert (USDOS 13.03.2019).

Die Sitze im Unterhaus verteilen sich proportional zur Bevölkerungszahl auf die 34 Provinzen. Verfassungsgemäß sind für Frauen 68 Sitze, für die Minderheit der Kutschi zehn Sitze und für Vertreter der Hindu- bzw. Sikh-Gemeinschaft ein Sitz reserviert (AAN 22.01.2017; vgl. USDOS 13.03.2019, Casolino 2011).

Die Rolle des Parlaments bleibt begrenzt. Ob das neue Parlament, das sich nach den Wahlen vom Oktober 2018 erst mit erheblicher Verzögerung im April 2019 konstituierte, eine andere Rolle einnehmen kann, muss sich zunächst noch erweisen. Zwar beweisen die Abgeordneten mit kritischen Anhörungen und Abänderungen von Gesetzentwürfen in teils wichtigen Punkten, dass das Parlament grundsätzlich funktionsfähig ist, doch nutzt das Parlament auch seine verfassungsmäßigen Rechte, um die Arbeit der Regierung destruktiv zu behindern, Personalvorschläge der Regierung z.T. über längere Zeiträume zu blockieren und sich Zugeständnisse wohl auch durch finanzielle Zuwendungen an einzelne Abgeordnete abkaufen zu lassen. Insbesondere das Unterhaus hat sich dadurch sowohl die Regierung der Nationalen Einheit als auch die Zivilgesellschaft zum Gegner gemacht. Generell leidet die Legislative unter einem kaum entwickelten Parteiensystem und mangelnder Rechenschaft der Parlamentarier gegenüber ihren Wählern (AA 02.09.2019).

Die Präsidentschaftswahlen und Parlamentswahlen finden gemäß Verfassung alle fünf Jahre statt (USIP 11.2013). Mit dreijähriger Verzögerung fanden zuletzt am 20. und 21.10.2018 - mit Ausnahme der Provinz Ghazni - Parlamentswahlen statt (AA 15.04.2019; vgl. USDOS 13.03.2019).

Bei den Wahlen zur Nationalversammlung am 20. und 21.10.2018 gaben etwa vier Millionen der registrierten 8,8 Millionen Wahlberechtigten ihre Stimme ab. In der Provinz Kandahar musste die Stimmabgabe wegen eines Attentats auf den Provinzpolizeichef um eine Woche verschoben werden und in der Provinz Ghazni wurde die Wahl wegen politischer Proteste, welche die Wählerregistrierung beeinträchtigten, nicht durchgeführt (s.o.). Die Wahl war durch Unregelmäßigkeiten geprägt, darunter Betrug bei der Wählerregistrierung und Stimmabgabe, Einschüchterung der Wähler, und einige Wahllokale mussten wegen Bedrohungen durch örtliche Machthaber schließen. Die Taliban und andere Gruppierungen behinderten die Stimmabgabe durch Drohungen und Belästigungen. Durch Wahl bezogene Gewalt kamen 56 Personen ums Leben und 379 wurden verletzt. Mindestens zehn Kandidaten kamen im Vorfeld der Wahl bei Angriffen ums Leben, wobei die jeweiligen Motive der Angreifer unklar waren (USDOS 13.03.2019).

Wegen Vorwürfen des Betruges und des Missmanagements erklärte Anfang Dezember 2018 die afghanische Wahlbeschwerdekommission (ECC) alle in der Provinz Kabul abgegebenen Stimmen für ungültig (RFE/RL 06.12.2018). Die beiden Wahlkommissionen einigten sich in Folge auf eine neue Methode zur Zählung der abgegebenen Stimmen (TN 12.12.2018). Die Provinzergebnisse von Kabul wurden schließlich am 14.05.2019, fast sieben Monate nach dem Wahltag, veröffentlicht. In einer Ansprache bezeichnete Präsident GHANI die Wahl als "Katastrophe" und die beiden Wahlkommissionen als "ineffizient" (AAN 17.05.2019).

Friedens- und Versöhnungsprozess:

Hochrangige Vertreter der Taliban sprachen zwischen Juli 2018 (DZ 12.08.2019) - bis zum plötzlichen Abbruch durch den US-amerikanischen Präsidenten im September 2019 (DZ 08.09.2019) - mit US-Unterhändlern über eine politische Lösung des nun schon fast 18 Jahre währenden Konflikts. Dabei ging es vor allem um Truppenabzüge und Garantien der Taliban, dass Afghanistan nicht zu einem sicheren Hafen für Terroristen wird. Die Gespräche sollen zudem in offizielle Friedensgespräche zwischen der Regierung in Kabul und den Taliban münden. Die Taliban hatten es bisher abgelehnt, mit der afghanischen Regierung zu sprechen, die sie als "Marionette" des Westens betrachten - auch ein Waffenstillstand war Thema (DZ 12.08.2019; vgl. NZZ 12.08.2019; DZ 08.09.2019).

Präsident GHANI hatte die Taliban mehrmals aufgefordert, direkt mit seiner Regierung zu verhandeln und zeigte sich über den Ausschluss der afghanischen Regierung von den Friedensgesprächen besorgt (NYT 28.01.2019; vgl. DP 28.01.2019, MS 28.01.2019). Bereits im Februar 2018 hatte Präsident GHANI die Taliban als gleichberechtigten Partner zu Friedensgesprächen eingeladen und ihnen eine Amnestie angeboten (CR 2018). Ein für Mitte April 2019 in Katar geplantes Dialogtreffen, bei dem die afghanische Regierung erstmals an den Friedensgesprächen mit den Taliban beteiligt gewesen wäre, kam nicht zustande (HE 16.05.2019). Im Februar und Mai 2019 fanden in Moskau Gespräche zwischen Taliban und bekannten afghanischen Oppositionspolitikern, darunter der ehemalige Staatspräsident Hamid KARZAI und mehreren Warlords, statt (Qantara 12.02.2019; vgl. TN 31.05.2019). Die afghanische Regierung war weder an den beiden Friedensgesprächen in Doha, noch an dem Treffen in Moskau beteiligt (Qantara 12.02.2019; vgl. NYT 07.03.2019), was Unbehagen unter einigen Regierungsvertretern auslöste und die diplomatischen Beziehungen zwischen den beiden Regierungen beeinträchtigte (REU 18.03.2019; vgl. WP 18.03.2019).

Vom 29.04.2019 bis 03.05.2019 tagte in Kabul die "große Ratsversammlung" (Loya Jirga). Dabei verabschiedeten deren Mitglieder eine Resolution mit dem Ziel, einen Friedensschluss mit den Taliban zu erreichen und den innerafghanischen Dialog zu fördern. Auch bot Präsident GHANI den Taliban einen Waffenstillstand während des Ramadan von 06.05.2019 bis 04.06.2019 an, betonte aber dennoch, dass dieser nicht einseitig sein würde. Des Weiteren sollten 175 gefangene Talibankämpfer freigelassen werden (BAMF 06.05.2019). Die Taliban nahmen an dieser von der Regierung einberufenen Friedensveranstaltung nicht teil (HE 16.05.2019).

Nach aktueller Berichtslage verhandeln die USA seit mehr als einem Jahr mit den Taliban über ein Abkommen, das unter anderem den Abzug von rund der Hälfte der 12.000 bis 13.000 US-Soldaten vorsieht. Im Gegenzug sollen die Taliban Garantien dafür geben, dass sie das Terrornetzwerk al-Kaida und den IS bekämpfen. Eine Einigung zwischen den USA und den Taliban gilt zudem als wichtiger Vorläufer für direkte Friedensgespräche zwischen der afghanischen Regierung und den Islamisten. Die Konfliktparteien in Afghanistan wollen ab 22.02.2020 die Waffengewalt eine Woche lang deutlich reduzieren. Sollte die Vereinbarung zwischen den USA, den Taliban und den afghanischen Streitkräften eingehalten werden, ist für den 29. Februar 2020 die Unterzeichnung eines Abkommens geplant, das den Weg zu einem dauerhaften Friedensabkommen ebnen könnte. (orf online 22.02.2020)

Sicherheitslage:

Die Sicherheitslage in Afghanistan ist nach wie vor volatil (UNGASC 03.09.2019), nachdem im Frühjahr 2019 sowohl die Taliban als auch die afghanische Regierung neue Offensiven verlautbart hatten (USDOD 06.2019). Traditionell markiert die Ankündigung der jährlichen Frühjahrsoffensive der Taliban den Beginn der sogenannten Kampfsaison - was eher als symbolisch gewertet werden kann, da die Taliban und die Regierungskräfte in den vergangenen Jahren auch im Winter gegeneinander kämpften (AJ 12.04.2019). Die Frühjahrsoffensive des Jahres 2019 trägt den Namen al-Fath (UNGASC 14.06.2019; vgl. AJ 12.04.2019; NYT 12.04.2019) und wurde von den Taliban trotz der Friedensgespräche angekündigt (AJ 12.04.2019; vgl. NYT 12.04.2019). Landesweit am meisten von diesem aktiven Konflikt betroffen, waren die Provinzen Helmand, Farah und Ghazni (UNGASC 14.06.2019). Offensiven der afghanischen Spezialeinheiten der Sicherheitskräfte gegen die Taliban wurden seit Dezember 2018 verstärkt - dies hatte zum Ziel, die Bewegungsfreiheit der Taliban zu stören, Schlüsselgebiete zu verteidigen und damit eine produktive Teilnahme der Taliban an den Friedensgesprächen zu erzwingen (SIGAR 30.07.2019). Seit Juli 2018 liefen auf hochrangiger politischer Ebene Bestrebungen, den Konflikt zwischen der afghanischen Regierung und den Taliban politisch zu lösen (TS 22.01.2019).

Die Konfliktparteien in Afghanistan vereinbarten ab 22.02.2020 die Waffengewalt eine Woche lang deutlich zu reduzieren, was im Wesentlichsten auch gelang. Am 29. Februar 2020 unterzeichneten Vertreter der USA und Vertreter der Taliban ein Abkommen, das den Weg zu einem dauerhaften Friedensabkommen ebnen könnte.

Die afghanische Regierung behält die Kontrolle über Kabul, die wichtigsten Bevölkerungszentren und Transitrouten sowie Provinzhauptstädte und die meisten Distriktzentren (USDOD 06.2019). Die afghanischen Kräfte sichern die Städte und andere Stützpunkte der Regierung; die Taliban verstärken groß angelegte Angriffe, wodurch eine Vielzahl afghanischer Kräfte in Verteidigungsmissionen eingebunden ist, Engpässe entstehen und dadurch manchmal auch Kräfte fehlen können, um Territorium zu halten (SIGAR 30.04.2019; vgl. NYT 19.07.2019). Kämpfe waren auch weiterhin auf konstant hohem Niveau. Die Ausnahme waren islamische Festtage, an denen, wie bereits in der Vergangenheit auch schon, das Kampfniveau deutlich zurückging, als sowohl regierungsfreundliche Kräfte, aber auch regierungsfeindliche Elemente ihre offensiven Operationen reduzierten. Im Gegensatz dazu hielt das Kampftempo während des gesamten Fastenmonats Ramadan an, da regierungsfeindliche Elemente mehrere Selbstmordattentate ausführten und sowohl regierungsfreundliche Truppen, als auch regierungsfeindliche Elemente bekundeten, ihre operative Dynamik aufrechtzuerhalten (UNGASC 03.09.2019). Die Taliban verlautbarten, eine asymmetrische Strategie zu verfolgen: die Aufständischen führen weiterhin Überfälle auf Kontrollpunkte und Distriktzentren aus und bedrohen Bevölkerungszentren (UNGASC 07.12.2018). Angriffe haben sich zwischen November 2018 und Jänner 2019 um 19% im Vergleich zum Vorberichtszeitraum (16.08. - 31.10.2018) verstärkt. Insbesondere in den Wintermonaten wurde in Afghanistan eine erhöhte Unsicherheit wahrgenommen. (SIGAR 30.04.2019). Seit dem Jahr 2002 ist die Wintersaison besonders stark umkämpft. Trotzdem bemühten sich die ANDSF und Koalitionskräfte die Anzahl ziviler Opfer zu reduzieren und konzentrierten sich auf Verteidigungsoperationen gegen die Taliban und den ISKP. Diese Operationen verursachten bei den Aufständischen schwere Verluste und hinderten sie daran ihr Ziel zu erreichen (USDOD 06.2019). Der ISKP ist auch weiterhin widerstandsfähig: Afghanische und internationale Streitkräfte führten mit einem hohen Tempo Operationen gegen die Hochburgen des ISKP in den Provinzen Nangarhar und Kunar durch, was zu einer gewissen Verschlechterung der Führungsstrukturen der ISKP führt. Dennoch konkurriert die Gruppierung auch weiterhin mit den Taliban in der östlichen Region und hat eine operative Kapazität in der Stadt Kabul behalten (UNGASC 03.09.2019).

So erzielen weder die afghanischen Sicherheitskräfte noch regierungsfeindliche Elemente signifikante territoriale Gewinne. Das aktivste Konfliktgebiet ist die Provinz Kandahar, gefolgt von den Provinzen Helmand und Nangarhar. Wenngleich keine signifikanten Bedrohungen der staatlichen Kontrolle über Provinzhauptstädte gibt, wurde in der Nähe der Provinzhauptstädte Farah, Kunduz und Ghazni über ein hohes Maß an Taliban-Aktivität berichtet (UNGASC 03.09.2019). In mehreren Regionen wurden von den Taliban vorübergehend strategische Posten entlang der Hauptstraßen eingenommen, sodass sie den Verkehr zwischen den Provinzen erfolgreich einschränken konnten (UNGASC 07.12.2018). So kam es beispielsweise in strategisch liegenden Provinzen entlang des Highway 1 (Ring Road) zu temporären Einschränkungen durch die Taliban (UNGASC 07.12.2018; vgl. ARN 23.06.2019). Die afghanischen Verteidigungs- und Sicherheitskräfte stellen erhebliche Mittel für die Verbesserung der Sicherheit auf den Hauptstraßen bereit - insbesondere in den Provinzen Ghazni, Zabul, Balkh und Jawzjan. (UNGASC 03.09.2019).

Für das gesamte Jahr 2018, registrierten die Vereinten Nationen (UN) in Afghanistan insgesamt 22.478 sicherheitsrelevante Vorfälle. Gegenüber 2017 ist das ein Rückgang von 5%, wobei die Anzahl der sicherheitsrelevanten Vorfälle im Jahr 2017 mit insgesamt 23.744 ihren bisherigen Höhepunkt erreicht hatte (UNGASC 28.02.2019).

Abb. 1: Anzahl sicherheitsrelevante Vorfälle 2015-2018 in ganz Afghanistan gemäß Berichten des UN-Generalsekretärs (Darstellung der Staatendokumentation beruhend auf UN-Daten (UNGASC 07.03.2016; UNGASC 03.03.2017; UNGASC 28.02.2018; UNGASC 28.02.2019))

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Für den Berichtszeitraum 10.05.2019-08.08.2019 registriert die Vereinten Nationen (UN) insgesamt 5.856 sicherheitsrelevanter Vorfälle - eine Zunahme von 1% gegenüber dem Vorjahreszeitraum. 63% Prozent aller sicherheitsrelevanten Vorfälle, die höchste Anzahl, wurde im Berichtszeitraum in den südlichen, östlichen und südöstlichen Regionen registriert (UNGASC 03.09.2019). Für den Berichtszeitraum 08.02-09.05.2019 registrierte die UN insgesamt 5.249 sicherheitsrelevante Vorfälle - ein Rückgang von 7% gegenüber dem Vorjahreswert; wo auch die Anzahl ziviler Opfer signifikant zurückgegangen ist (UNGASC 14.06.2019).

Für den Berichtszeitraum 10.05.2019 - 08.08.2019 sind 56% (3.294) aller sicherheitsrelevanten Vorfälle bewaffnete Zusammenstöße gewesen; ein Rückgang um 7% im Vergleich zum Vorjahreswert. Sicherheitsrelevante Vorfälle bei denen improvisierte Sprengkörper verwendet wurden, verzeichneten eine Zunahme von 17%. Bei den Selbstmordattentaten konnte ein Rückgang von 44% verzeichnet werden. Die afghanischen Sicherheitskräfte führen gemeinsam mit internationalen Kräften, weiterhin eine hohe Anzahl von Luftangriffen durch: 506 Angriffe wurden im Berichtszeitraum verzeichnet - 57% mehr als im Vergleichszeitraum des Jahres 2018 (UNGASC 03.09.2019).

Im Gegensatz dazu, registrierte die Nichtregierungsorganisation INSO (International NGO Safety Organisation) für das Jahr 2018 landesweit 29.493 sicherheitsrelevante Vorfälle, welche auf NGOs Einfluss hatten. In den ersten acht Monaten des Jahres 2019 waren es 18.438 Vorfälle. Zu den gemeldeten Ereignissen zählten, beispielsweise geringfügige kriminelle Überfälle und Drohungen ebenso wie bewaffnete Angriffe und Bombenanschläge (INSO o.D.).

Folgender Tabelle kann die Anzahl an sicherheitsrelevanten Vorfällen pro Jahr im Zeitraum 2016-2018, sowie bis einschließlich August des Jahres 2019 entnommen werden:

Tab. 1: Anzahl sicherheitsrelevante Vorfälle in Afghanistan lt. INSO 2016-08.2019, monatlicher Überblick (Darstellung der Staatendokumentation beruhend auf INSO-Daten (INSO o.D.))

 

2016

2017

2018

2019

Jänner

2111

2203

2588

2118

Februar

2225

2062

2377

1809

März

2157

2533

2626

2168

April

2310

2441

2894

2326

Mai

2734

2508

2802

2394

Juni

2345

2245

2164

2386

Juli

2398

2804

2554

2794

August

2829

2850

2234

2443

September

2493

2548

2389

-

Oktober

2607

2725

2682

-

November

2348

2488

2086

-

Dezember

2281

2459

2097

-

insgesamt

28.838

29.866

29.493

18.438

Abb. 2: Anzahl sicherheitsrelevante Vorfälle in Afghanistan lt. INSO 2016-08.2019, monatlicher Überblick (Darstellung der Staatendokumentation beruhend auf INSO-Daten (INSO o.D.))

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Global Incident Map (GIM) verzeichnete in den ersten drei Quartalen des Jahres 2019 3.540 sicherheitsrelevante Vorfälle. Im Jahr 2018 waren es 4.433. Die folgende Grafik der Staatendokumentation schlüsselt die sicherheitsrelevanten Vorfälle anhand ihrer Vorfallarten und nach Quartalen auf (BFA Staatendokumentation 04.11.2019):

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Sicherheitsrelevante Vorfälle nach Quartalen und Vorfallsarten im Zeitraum 01.01.2018-30.09.2019 (Global Incident Map, Darstellung der Staatendokumentation; BFA Staatendokumentation 04.11.2019)

Im Jänner bis Oktober 2018 nahm die Kontrolle oder der Einfluss der afghanischen Regierung von 56% auf 54% der Distrikte ab, die Kontrolle bzw. Einfluss der Aufständischen auf Distrikte sank in diesem Zeitraum von 15% auf 12%. Der Anteil der umstrittenen Distrikte stieg von 29% auf 34%. Der Prozentsatz der Bevölkerung, welche in Distrikten unter afghanischer Regierungskontrolle oder -einfluss lebte, ging mit Stand Oktober 2018 auf 63,5% zurück. 8,5 Millionen Menschen (25,6% der Bevölkerung) leben mit Stand Oktober 2018 in umkämpften Gebieten, ein Anstieg um fast 2 Prozentpunkte gegenüber dem gleichen Zeitpunkt im Jahr 2017. Die Provinzen mit der höchsten Anzahl an von den Aufständischen kontrollierten Distrikten waren Kunduz, Uruzgan und Helmand (SIGAR 30.01.2019).

Ein auf Afghanistan spezialisierter Militäranalyst berichtete im Januar 2019, dass rund 39% der afghanischen Distrikte unter der Kontrolle der afghanischen Regierung standen und 37% von den Taliban kontrolliert wurden. Diese Gebiete waren relativ ruhig, Zusammenstöße wurden gelegentlich gemeldet. Rund 20% der Distrikte waren stark umkämpft. Der Islamische Staat (IS) kontrollierte rund 4% der Distrikte (MA 14.01.2019).

Die Kontrolle über Distrikte, Bevölkerung und Territorium befindet sich derzeit in einer Pattsituation (SIGAR 30.04.2019). Die Anzahl sicherheitsrelevanter Vorfälle Ende 2018 bis Ende Juni 2019, insbesondere in der Provinz Helmand, sind als verstärkte Bemühungen der Sicherheitskräfte zu sehen, wichtige Taliban-Hochburgen und deren Führung zu erreichen, um in weiterer Folge eine Teilnahme der Taliban an den Friedensgesprächen zu erzwingen (SIGAR 30.07.2019). Intensivierte Kampfhandlungen zwischen ANDSF und Taliban werden von beiden Konfliktparteien als Druckmittel am Verhandlungstisch in Doha erachtet (SIGAR 30.04.2019; vgl. NYT 19.07.2019).

Zivile Opfer:

Die Vereinten Nationen dokumentierten für den Berichtszeitraum 01.01.-30.09.2019 8.239 zivile Opfer (2.563 Tote, 5.676 Verletzte) - dieser Wert ähnelt dem Vorjahreswert 2018. Nach einem sehr aktuellen Bericht von UNAMA vom 22.02.2020 wurden 2019 3.404 Zivilisten getötet und 6.989 weitere verletzt worden. Die Zahl der zivilen Opfer sei 2019 um fünf Prozent niedriger, als im Vorjahr. Der Rückgang der Opferzahl um fünf Prozent wurde mit der nachlassenden Aktivität des Ablegers der Dschihadistenmiliz Islamischer Staat (IS) im Osten Afghanistans erklärt. Diese sei im vergangenen Jahr weitgehend besiegt worden. (orf online 22.02.2020).

Regierungsfeindliche Elemente waren auch weiterhin Hauptursache für zivile Opfer; 41% der Opfer waren Frauen und Kinder. Wenngleich die Vereinten Nationen für das erste Halbjahr 2019 die niedrigste Anzahl ziviler Opfer registrierten, so waren Juli, August und September - im Gegensatz zu 2019 - von einem hohen Gewaltniveau betroffen. Zivilisten, die in den Provinzen Kabul, Nangarhar, Helmand, Ghazni, und Faryab wohnten, waren am stärksten vom Konflikt betroffen (in dieser Reihenfolge) (UNAMA 17.10.2019).

Tab. 2: Zivile Opfer im Zeitverlauf 01.01.2009-30.09.2019 nach UNAMA (Darstellung der Staatendokumentation beruhend auf UNAMA-Daten (UNAMA 24.02.2019; UNAMA 17.10.2019))

Jahr

Tote

Verletzte

Insgesamt

2009

2.412

3.557

5.969

2010

2.794

4.368

7.162

2011

3.133

4.709

7.842

2012

2.769

4.821

7.590

2013

2.969

5.669

8.638

2014

3.701

6.834

10.535

2015

3.565

7.470

11.035

2016

3.527

7.925

11.452

2017

3.440

7.019

10.459

2018

3.804

7.189

10.993

2019*

2.563*

5.676*

8.239*

Insgesamt

32114

59561

91675

* 2019: Erste drei Quartale 2019 (01.01.2019-30.09.2019)

High-Profile Angriffe (HPAs):

Sowohl im gesamten Jahr 2018 (USDOD 12.2018), als auch in den ersten fünf Monaten 2019 führten Aufständische, Taliban und andere militante Gruppierungen, insbesondere in der Hauptstadtregion weiterhin Anschläge auf hochrangige Ziele aus, um die Aufmerksamkeit der Medien auf sich zu ziehen, die Legitimität der afghanischen Regierung zu untergraben und die Wahrnehmung einer weit verbreiteten Unsicherheit zu schaffen (USDOD 06.2

Quelle: Bundesverwaltungsgericht BVwg, https://www.bvwg.gv.at
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