TE Vwgh Erkenntnis 2020/6/9 Ra 2019/10/0195

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Veröffentlicht am 09.06.2020
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Index

L92007 Sozialhilfe Grundsicherung Mindestsicherung Tirol
001 Verwaltungsrecht allgemein
10/07 Verwaltungsgerichtshof
40/01 Verwaltungsverfahren
62 Arbeitsmarktverwaltung
66/02 Andere Sozialversicherungsgesetze

Norm

AlVG 1977
AVG §38
MSG Tir 2010 §18 Abs4
VwGG §42 Abs2 Z3 litb
VwGG §42 Abs2 Z3 litc
VwGVG 2014 §17
VwRallg

Betreff

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Rigler und die Hofräte Dr. Lukasser, Dr. Hofbauer und Dr. Fasching sowie die Hofrätin Dr. Leonhartsberger als Richter, unter Mitwirkung der Schriftführerin Mag. Bleiweiss, über die Revision des R P in I, vertreten durch MMag. Marion Battisti, Rechtsanwältin in 6020 Innsbruck, Burggraben 4/4, gegen das Erkenntnis des Landesverwaltungsgerichts Tirol vom 15. Oktober 2019, Zl. LVwG-2019/15/1705-1, betreffend Mindestsicherung (belangte Behörde vor dem Verwaltungsgericht: Bürgermeister der Stadt Innsbruck), zu Recht erkannt:

Spruch

Das angefochtene Erkenntnis wird wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufgehoben.

Der Antrag des Revisionswerbers auf Aufwandersatz wird abgewiesen.

Begründung

1        Mit Bescheid vom 2. August 2019 wies die belangte Behörde den Antrag des Revisionswerbers auf Gewährung von Mindestsicherungsleistungen nach demTiroler Mindestsicherungsgesetz (TMSG) ab.

2        Begründend führte die Behörde aus, der Revisionswerber habe seinen Anspruch auf Notstandshilfe selbstverschuldet aufgrund Terminversäumnis verloren. Gemäß § 18 Abs. 4 TMSG sei der Verlust von Arbeitslosengeld oder Notstandshilfe bei der Berechnung des mindestsicherungsrechtlichen Bedarfs außer Acht zu lassen, weshalb gegenständlich das Vorliegen einer Notlage des Revisionswerbers zu verneinen sei.

3        Gegen diesen Bescheid erhob der Revisionswerber Beschwerde, in der er vorbrachte, dass er bis 28. März 2019 Notstandshilfe bezogen habe. Er habe danach seine Ansprüche beim AMS nicht weiter verfolgt, weil er aufgrund seines Wohnungsverlustes in eine Depression gestürzt und unfähig gewesen sei, sich um seine Angelegenheiten zu kümmern. Er sei seit 1. August 2019 wieder beim AMS zur Arbeitssuche vorgemerkt. Der angefochtene Bescheid sei „nicht richtig“, weil er seine Ansprüche auf Notstandshilfe nicht (ganz oder teilweise) verloren habe; vielmehr habe er seine Ansprüche nicht geltend gemacht.

4        Mit dem angefochtenen Erkenntnis vom 15. Oktober 2019 wies das Landesverwaltungsgericht Tirol (Verwaltungsgericht) - ohne Durchführung einer mündlichen Verhandlung - die Beschwerde als unbegründet ab und erklärte die Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG für nicht zulässig.

5        Begründend führte das Verwaltungsgericht aus, in § 18 Abs. 4 TMSG sei nicht ausdrücklich geregelt, wie der dort normierte Verlust von Leistungen nach dem Arbeitslosenversicherungsgesetz 1977 eintrete. Es sei allerdings klar erkennbar, dass ein „Verlieren“ des Anspruchs neben der beispielsweisen Verletzung von Meldepflichten auch durch eine mangelnde Geltendmachung des Anspruchs eintreten könne. An dieser Rechtslage ändere auch die vorgebrachte Erkrankung des Revisionswerbers, die ihn an der Geltendmachung seines Anspruchs gehindert habe, nichts; diese Erkrankung wäre allenfalls in einem Wiedereinsetzungsverfahren nach dem Arbeitslosenversicherungsgesetz zu relevieren gewesen.

6        Gegen dieses Erkenntnis richtet sich die vorliegende Revision, die zu ihrer Zulässigkeit vorbringt, es sei die Rechtsfrage zu lösen, ob die unterlassene Geltendmachung eines Anspruchs nach dem Arbeitslosenversicherungsgesetz dem Verlust eines solchen Anspruchs im Sinne des § 18 Abs. 4 TMSG gleichzusetzen sei. Das Verwaltungsgericht sei von näher genannter Rechtsprechung abgewichen, weil es die Ermittlung des maßgeblichen Sachverhalts in unvertretbarer Weise unterlassen habe: Die arbeitslosenversicherungsrechtlichen Bestimmungen enthielten Ausnahmeregelungen für Personen in besonders berücksichtigungswürdigen Situationen (Hinweis auf § 10 Abs. 3, 49 Abs. 2, ua. AlVG); es sei sohin zu prüfen, aus welchen Gründen die hilfesuchende Person „bestimmten Anforderungen nachgekommen ist oder eben auch nicht.“

7        In dem vom Verwaltungsgerichtshof durchgeführten Vorverfahren erstattete die belangte Behörde eine Revisionsbeantwortung, in der sie die kostenpflichtige Zurück- bzw. Abweisung der Revision beantragte.

8        Der Verwaltungsgerichtshof hat erwogen:

9        Die maßgeblichen Bestimmungen des Tiroler Mindestsicherungsgesetzes, LGBl. Nr. 99/2010 idF LGBl. Nr. 15/2019 (TMSG), lauten auszugsweise:

§ 1

Ziel, Grundsätze

(1) ...

(2) Mindestsicherung ist Personen zu gewähren,

a)   die sich in einer Notlage befinden,

...

(4) Leistungen der Mindestsicherung sind so weit zu gewähren, als der jeweilige Bedarf nicht durch den Einsatz eigener Mittel und Kräfte sowie durch Leistungen Dritter gedeckt werden kann. Dabei sind auch Hilfeleistungen, die nach anderen landesrechtlichen oder nach bundesrechtlichen oder ausländischen Vorschriften in Anspruch genommen werden können, zu berücksichtigen.

§ 2

Begriffsbestimmungen

(1) In einer Notlage befindet sich, wer

a)   seinen Lebensunterhalt, seinen Wohnbedarf oder ... (Grundbedürfnisse) nicht oder nicht in ausreichendem Ausmaß aus eigenen Kräften und Mitteln oder mit Hilfe Dritter decken kann.

...

§ 17

Verfolgung von Ansprüchen gegenüber Dritten

(1) Vor der Gewährung von Mindestsicherung hat der Hilfesuchende öffentlich-rechtliche oder privatrechtliche Ansprüche auf bedarfsdeckende oder bedarfsmindernde Leistungen gegen Dritte zu verfolgen, soweit dies nicht offensichtlich aussichtslos oder unzumutbar ist.

(2) Mindestsicherung ist unbeschadet der Verpflichtung nach Abs. 1 als Vorausleistung zu gewähren, wenn der Hilfesuchende bis zur tatsächlichen Durchsetzung seiner Ansprüche anspruchsberechtigt im Sinn dieses Gesetzes ist. Die unmittelbar erforderliche Bedarfsdeckung ist jedenfalls zu gewährleisten.

§ 18

Ausmaß der Mindestsicherung

(1) Das Ausmaß der Leistungen der Mindestsicherung ist im Einzelfall unter Berücksichtigung des Einsatzes der eigenen Mittel und der Bereitschaft des Hilfesuchenden zum Einsatz seiner Arbeitskraft sowie der bedarfsdeckenden oder bedarfsmindernden Leistungen Dritter zu bestimmen.

...

(4) Verliert ein Hilfesuchender, der nach dem Arbeitslosenversicherungsgesetz 1977 Arbeitslosengeld oder Notstandshilfe bezieht, diesen Anspruch ganz oder teilweise, so sind die Leistungen der Mindestsicherung für die Dauer dieses Anspruchsverlustes nur in jenem Ausmaß zu gewähren, in dem sie ihm unter Einbeziehung des Arbeitslosengeldes bzw. der Notstandshilfe in jeweils voller Höhe gebührt hätten.“

10       Die Revision ist zulässig; sie ist auch berechtigt.

11       Vorauszuschicken ist, dass das Verwaltungsgericht (wie bereits die belangte Behörde) den geltend gemachten Mindestsicherungsanspruch des Revisionswerbers ausschließlich im Grunde des (mit der Novelle LGBl. Nr. 52/2017 eingeführten) § 18 Abs. 4 TMSG geprüft und verneint hat.

12       Dem angefochtenen Erkenntnis liegt die Auffassung zu Grunde, dass der Revisionswerber seinen Anspruch auf Notstandshilfe ab dem 29. März 2019 verloren habe und deshalb - unter Berücksichtigung der Höhe der Notstandshilfe - fallbezogen gemäß § 18 Abs. 4 TMSG kein Anspruch auf Gewährung der Mindestsicherung bestehe.

13       Tatbestandsmäßige Voraussetzung für die in § 18 Abs. 4 TMSG normierte(fiktive) Anrechnung von Arbeitslosengeld oder Notstandshilfe auf die Mindestsicherung ist der gänzliche oder teilweise „Verlust“ des Anspruchs auf diese Leistungen nach den einschlägigen Bestimmungen des Arbeitslosenversicherungsgesetzes 1977 (AlVG).

14       In diesem Sinne führen auch die Gesetzesmaterialien (RV 155/2017, S. 16) zu § 18 Abs. 4 TMSG aus:

„Verliert ein Hilfesuchender seinen Anspruch auf Arbeitslosengeld oder Notstandhilfe nach den arbeitslosenversicherungsrechtlichen Bestimmungen ganz oder teilweise, so sollen die Leistungen der Mindestsicherung für die Dauer des Anspruchsverlustes nur mehr in einem um diesen Anspruch verminderten Ausmaß gewährt werden; d.h., der nach den arbeitslosenversicherungsrechtlichen Bestimmungen gekürzte Betrag wird nicht aus Mitteln der Mindestsicherung ersetzt.“

15       Die Mindestsicherungsbehörde bzw. das Verwaltungsgericht hat demnach im Anwendungsbereich des § 18 Abs. 4 TMSG die Frage des eingetretenen Verlusts des Anspruchs auf Arbeitslosengeld bzw. Notstandshilfe nach dem AlVG als Vorfrage zu beurteilen. Nur im Fall der Bejahung dieser Frage kommt die Anwendung des § 18 Abs. 4 TMSG in Betracht.

16       Dazu finden sich aber weder im Bescheid der belangten Behörde noch im angefochtenen Erkenntnis tragfähige Feststellungen bzw. Erwägungen. Das Verwaltungsgericht geht vielmehr - ohne nähere Begründung - von der Annahme aus, dass jegliches Unterlassen der Geltendmachung von Ansprüchen nach dem AlVG auch den Verlust dieser Ansprüche bewirke.

17       Fallbezogen wäre eine nähere Auseinandersetzung mit der genannten Frage schon deshalb geboten gewesen, weil der Revisionswerber in der Beschwerde die (ebenfalls nicht näher begründete) Annahme im verwaltungsbehördlichen Bescheid, er habe den Anspruch auf Notstandshilfe „selbstverschuldet“ aufgrund Terminversäumnis „verloren“, bestritten bzw. vorgebracht hat, es sei - infolge seiner Unfähigkeit zur Geltendmachung der Ansprüche aufgrund eingetretener Depression - kein Anspruchsverlust eingetreten.

18       Die Revision weist dazu in den Zulässigkeitsausführungen auf „Ausnahmeregelungen“ im AlVG hin, mit denen sich das Verwaltungsgericht nicht auseinandergesetzt hat, und zeigtbereits damit die Relevanz der dem angefochtenen Erkenntnis anhaftenden Begründungsmängel auf.

19       Für den Fall, dass der Anspruch auf Notstandshilfe nicht verloren wurde, sondern eine Nachzahlung erwirkt werden könnte, wäre § 17 Abs. 2 TMSG zu beachten.

20       Das Verwaltungsgericht hat das angefochtene Erkenntnis sohin mit wesentlichen Verfahrensmängeln behaftet, weshalb es gemäß § 42 Abs. 2 Z 3 lit. b und c VwGG aufzuheben war.

21       Der Revisionsantrag, die „Stadt Innsbruck als Rechtsträger der belangten Behörde“ zum Kostenersatz zu verpflichten, war abzuweisen, weil gemäß § 47 Abs. 5 erster Satz VwGG der dem Revisionswerber zustehende Aufwandersatz von jenem Rechtsträger zu leisten ist, in dessen Namen die Behörde in dem dem Verfahren vor dem VwG vorangegangenen Verwaltungsverfahren gehandelt hat. Dies ist im vorliegenden Fall gemäß § 21 Abs. 3 TMSG nicht die Stadt Innsbruck, sondern das Land Tirol als Träger der Kosten der Mindestsicherung.

Wien, am 9. Juni 2020

Schlagworte

Auslegung Anwendung der Auslegungsmethoden Verhältnis der wörtlichen Auslegung zur teleologischen und historischen Auslegung Bedeutung der Gesetzesmaterialien VwRallg3/2/2 Begründung Begründungsmangel Besondere Rechtsgebiete

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:VWGH:2020:RA2019100195.L00

Im RIS seit

18.09.2020

Zuletzt aktualisiert am

23.09.2020
Quelle: Verwaltungsgerichtshof VwGH, http://www.vwgh.gv.at
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