TE Vwgh Erkenntnis 2020/5/28 Ra 2019/21/0389

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Veröffentlicht am 28.05.2020
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Index

E000 EU- Recht allgemein
E3L E19100000
E3L E19103000
001 Verwaltungsrecht allgemein
10/01 Bundes-Verfassungsgesetz (B-VG)
10/07 Verwaltungsgerichtshof
40/01 Verwaltungsverfahren
41/02 Asylrecht
41/02 Passrecht Fremdenrecht

Norm

AsylG 2005 §12a Abs2
AVG §62 Abs2
BFA-VG 2014 §22 Abs2
BFA-VG 2014 §22a
B-VG Art133 Abs6 Z1
EURallg
FrPolG 2005 §76 Abs2 Z2
FrPolG 2005 §76 Abs6
VwGG §26 Abs1 Z1
VwGG §34 Abs1
VwGG §42 Abs2 Z1
VwGVG 2014 §17
VwGVG 2014 §29
VwGVG 2014 §29 Abs4
VwGVG 2014 §35
VwRallg
32008L0115 Rückführungs-RL Art15
32013L0032 IntSchutz-RL Art40 Abs5

Betreff

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Pelant, die Hofräte Dr. Sulzbacher und Dr. Pfiel, die Hofrätin Dr. Julcher und den Hofrat Dr. Schwarz als Richter, unter Mitwirkung der Schriftführerin Mag.a Eraslan, über die Revision des T N, vertreten durch Dr. Alexander Thomas, Rechtsanwalt in 1010 Wien, Freyung 4/13, gegen das am 14. November 2019 mündlich verkündete Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichtes, W112 2225141-1/12Z, betreffend Schubhaft (belangte Behörde vor dem Verwaltungsgericht: Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl),

Spruch

1.   den Beschluss gefasst:

Die Revision wird, soweit sie sich gegen die Spruchpunkte II. und III. des angefochtenen Erkenntnisses richtet, zurückgewiesen.

2.   zu Recht erkannt:

Im Übrigen (betreffend die Spruchpunkte I. und IV.) wird das angefochtene Erkenntnis wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufgehoben.

Der Bund hat dem Revisionswerber Aufwendungen in der Höhe von € 1.106,40 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.

Begründung

1        Der Revisionswerber, ein Staatsangehöriger Marokkos, stellte nach seiner Einreise in das Bundesgebiet am 23. Mai 2015 einen Antrag auf internationalen Schutz. Dieser Antrag wurde nach Zustimmung Ungarns zur Wiederaufnahme des Revisionswerbers mit Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl (BFA) vom 29. Juli 2015 zurückgewiesen. Zugleich erging eine Anordnung zur Außerlandesbringung des Revisionswerbers nach Ungarn.

Diese Entscheidung ist unbekämpft geblieben. Der Revisionswerber ist untergetaucht und hat sich dem Überstellungsverfahren nach Ungarn entzogen.

2        Am 18. August 2017 stellte der Revisionswerber, der sich zwischenzeitig unter anderem in den Niederlanden, in Luxemburg und in der Schweiz aufgehalten hatte, in Österreich (unter Angabe einer anderen Identität) einen zweiten Antrag auf internationalen Schutz. Diesen wies das BFA (die Frist für eine Überstellung nach Ungarn war mittlerweile abgelaufen) mit Bescheid vom 5. September 2017 vollinhaltlich ab. Es erteilte dem Revisionswerber keinen Aufenthaltstitel gemäß § 57 AsylG 2005, erließ eine Rückkehrentscheidung nach § 52 Abs. 2 Z 2 FPG und stellte fest, dass die Abschiebung des Revisionswerbers nach Marokko zulässig sei. Auch dieser Bescheid ist unbekämpft geblieben. Der Revisionswerber ist neuerlich, ohne Bekanntgabe einer Meldeanschrift, untergetaucht.

3        Am 16. Oktober 2019 stellte der - im Zuge einer fremdenrechtlichen Kontrolle in Linz betretene und festgenommene - Revisionswerber einen dritten Antrag auf internationalen Schutz (in Österreich). [Dieser Antrag wurde in der Folge mit - unbekämpft gebliebenem - Bescheid des BFA vom 30. Jänner 2020 gemäß § 68 Abs. 1 AVG wegen entschiedener Sache zurückgewiesen.]

4        Mit mündlich verkündetem Bescheid des BFA vom 29. Oktober 2019 wurde im Rahmen des Verfahrens über diesen Folgeantrag der faktische Abschiebeschutz des Revisionswerbers gemäß § 12a Abs. 2 AsylG 2005 aufgehoben. Mit Beschluss vom 4. November 2019 erklärte das Bundesverwaltungsgericht (BVwG) diese Aufhebung des faktischen Abschiebeschutzes für rechtmäßig.

5        Bereits mit - am selben Tag in Vollzug gesetztem - Mandatsbescheid vom 29. Oktober 2019 hatte das BFA gegen den Revisionswerber gemäß § 76 Abs. 2 Z 2 FPG die Schubhaft zum Zweck der Sicherung der Abschiebung angeordnet. Begründend bejahte es das Vorliegen der Voraussetzungen für die Annahme von Fluchtgefahr nach § 76 Abs. 3 Z 1, 3, 4, 5 und 9 FPG. Aufgrund des bisherigen Verhaltens des Revisionswerbers, nämlich wiederholten Untertauchens sowie mehrfacher Reisebewegungen innerhalb Europas (unter Nennung von Ungarn, Deutschland, den Niederlanden, Luxemburg, Belgien, der Schweiz und Frankreich) sei - würde er auf freiem Fuß belassen oder nach bloßer Anordnung eines gelinderen Mittels - damit zu rechnen, der Revisionswerber werde wiederum untertauchen, um einer Abschiebung nach Marokko zu entgehen.

6        Gegen den Bescheid vom 29. Oktober 2019 sowie die fortdauernde Anhaltung in Schubhaft seit diesem Tag erhob der - in der Folge am 13. Dezember 2019 aus der Schubhaft nach Marokko abgeschobene - Revisionswerber Beschwerde nach § 22a BFA-VG.

7        Darüber führte das BVwG am 14. November 2019 eine mündliche Verhandlung durch, an deren Ende es das angefochtene (bisher, ungeachtet eines vom Revisionswerber am 28. November 2019 gestellten entsprechenden Antrages, nicht schriftlich ausgefertigte) Erkenntnis verkündete.

Damit wies es die Beschwerde gemäß § 22a Abs. 1 BFA-VG iVm § 76 Abs. 2 Z 2 FPG als unbegründet ab (Spruchpunkt I.). Gemäß § 22a Abs. 3 BFA-VG stellte es fest, dass zum Zeitpunkt der Entscheidung die für die Fortsetzung der Schubhaft maßgeblichen Voraussetzungen vorlägen (Spruchpunkt II.). Zugleich wies es den Antrag des Revisionswerbers auf Kostenersatz gemäß § 35 VwGVG ab (Spruchpunkt III.) und verpflichtete ihn gemäß § 35 Abs. 3 VwGVG zum Aufwandersatz an den Bund (Spruchpunkt IV.). Gemäß § 25a Abs. 1 VwGG sprach das BVwG aus, dass die Revision nach Art. 133 Abs. 3 B-VG nicht zulässig sei.

8        Begründend teilte es die Argumentation des BFA, der Revisionswerber werde, auf freiem Fuß belassen, unter Berücksichtigung seines bisherigen Verhaltens die Rückführung in den Herkunftsstaat vereiteln, indem er sich dem Verfahren neuerlich durch Untertauchen entziehen würde. Insbesondere verwies das BVwG auf die (in Rn. 4) dargestellte Aberkennung des faktischen Abschiebeschutzes nach § 12a Abs. 2 AsylG 2005, woraus sich die Anwendbarkeit des § 76 Abs. 2 Z 2 FPG während des gesamten Zeitraums der Anhaltung ergebe. Die Voraussetzungen der verhängten Schubhaft lägen somit vor, sie seien im Zeitpunkt der Entscheidung durch das BVwG unverändert aufrecht.

9        Über die gegen dieses Erkenntnis erhobene Revision hat der Verwaltungsgerichtshof nach Aktenvorlage und Durchführung eines Vorverfahrens - eine Revisionsbeantwortung wurde nicht erstattet - erwogen:

Die Revision ist teilweise zulässig und insofern auch berechtigt:

10       Einleitend ist festzuhalten, dass das angefochtene Erkenntnis bereits mit seiner Verkündung am 14. November 2019 erlassen wurde. Mit der mündlichen Verkündung wird eine Entscheidung nämlich unabhängig von der in § 29 Abs. 4 VwGVG geforderten Zustellung einer schriftlichen Ausfertigung rechtlich existent und kann daher - wie im vorliegenden Fall - bereits mit Revision angefochten werden. Für die Frage, ob und mit welchem Inhalt die Entscheidung erlassen wurde, ist jene Urkunde entscheidend, die über den Entscheidungsinhalt und die Tatsache der Verkündung nach dem auch betreffend § 29 VwGVG einschlägigen § 62 Abs. 2 AVG angefertigt wurde. Somit ist das bloß mündlich verkündete Erkenntnis auf Grund seiner Anfechtung uneingeschränkt an seinem aus der niederschriftlich vorgenommenen Beurkundung wiedergegebenen Inhalt zu messen (vgl. etwa VwGH 19.12.2019, Ra 2019/21/0191, Rn. 13, mwN).

11       Hat das Verwaltungsgericht - so wie hier das BVwG - im Erkenntnis ausgesprochen, dass die Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig ist, hat die Revision zufolge § 28 Abs. 3 VwGG gesondert die Gründe zu enthalten, aus denen entgegen dem Ausspruch des Verwaltungsgerichtes die Revision für zulässig erachtet wird. Die Zulässigkeit einer außerordentlichen Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG hat der Verwaltungsgerichtshof dann im Rahmen dieser vorgebrachten Gründe zu überprüfen (§ 34 Abs. 1a zweiter Satz VwGG).

12       Hinsichtlich des (nach dem in Rn. 4 erwähnten Beschluss des BVwG vom 4. November 2019, mit dem die Rechtmäßigkeit der Aufhebung des faktischen Abschiebeschutzes nach § 12a Abs. 2 AsylG 2005 festgestellt wurde, ergangenen) Fortsetzungsausspruchs (Spruchpunkt II.) enthält die Revision keinerlei Vorbringen. Sie war in diesem Umfang daher mangels Darlegung einer im Sinn des Art. 133 Abs. 4 B-VG grundsätzlichen Rechtsfrage gemäß § 34 Abs. 1 und 3 VwGG in einem gemäß § 12 Abs. 3 VwGG gebildeten Senat zurückzuweisen.

Das gilt ebenso für die Abweisung des Kostenersatzbegehrens des Revisionswerbers (Spruchpunkt III.), weil nunmehr feststeht, dass er im Verfahren vor dem BVwG nicht (mehr) zur Gänze obsiegen kann und ein Aufwandersatzanspruch im Schubhaftbeschwerdeverfahren nur in diesem Fall in Betracht kommt (vgl. etwa VwGH 16.5.2019, Ra 2018/21/0122, Rn. 11, mwN).

13       Im Übrigen durfte das BVwG allerdings - wie die Revision zutreffend darlegt - nicht ohne Weiteres davon ausgehen, der Revisionswerber wäre bereits nach Aufhebung des faktischen Abschiebeschutzes gemäß § 12a Abs. 2 AsylG 2005 durch das BFA am 29. Oktober 2019 dem § 76 Abs. 2 Z 2 FPG zu unterstellen. Denn der Revisionswerber blieb Asylwerber und ihm kam vor dem Hintergrund der Verfahrens-RL (Richtlinie 2013/32/EU) ungeachtet der innerstaatlichen Regelung des § 22 Abs. 2 zweiter Satz BFA-VG, wonach im Falle der Aufhebung des faktischen Abschiebeschutzes nach § 12a Abs. 2 AsylG 2005 mit der Durchführung der die Rückkehrentscheidung umsetzenden Abschiebung (nur) bis zum Ablauf des dritten Arbeitstages ab Einlangen der dem BVwG zu übermittelnden Verwaltungsakten zugewartet werden muss, grundsätzlich - auch wenn man schon die Aufhebung des faktischen Abschiebeschutzes nach § 12a Abs. 2 AsylG 2005 als Entscheidung iS von Art. 40 Abs. 5 der Verfahrens-RL, den wiederholten Antrag auf internationalen Schutz als unzulässig zu betrachten, begreifen wollte - weiterhin ein Bleiberecht zu. Das steht einer Schubhaft auf Basis von Art. 15 der Rückführungs-RL (Richtlinie 2008/115/EG) und damit auf Grundlage von § 76 Abs. 2 Z 2 FPG in einer Konstellation, wie sie hier zu beurteilen ist (der dritte Antrag auf internationalen Schutz vom 16. Oktober 2019 ist angesichts dessen, dass der erste Antrag auf internationalen Schutz „bloß“ wegen der Zuständigkeit Ungarns nach der Dublin III-VO zurückgewiesen und nicht materiell erledigt wurde, als erster Folgeantrag zu betrachten), jedenfalls dann, wenn - wie hier - nicht festgestellt wurde, dass der Folgeantrag in Missbrauchsabsicht gestellt wurde, entgegen (vgl. zum Ganzen VwGH 24.10.2019, Ra 2019/21/0198, Rn. 18 und 19).

14       Im Umfang des Spruchpunktes I. und hinsichtlich des darauf aufbauenden Kostenzuspruches an den Bund (Spruchpunkt IV.) war das angefochtene Erkenntnis daher wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes gemäß § 42 Abs. 2 Z 1 VwGG aufzuheben.

15       Der Spruch über den Aufwandersatz gründet sich auf die §§ 47 ff, insbesondere auf § 50 VwGG, iVm der VwGH-Aufwandersatzverordnung 2014.

Wien, am 28. Mai 2020

Schlagworte

Anzuwendendes Recht Maßgebende Rechtslage VwRallg2 Besondere Rechtsgebiete Gemeinschaftsrecht Richtlinie richtlinienkonforme Auslegung des innerstaatlichen Rechts EURallg4/3 Individuelle Normen und Parteienrechte Rechtsanspruch Antragsrecht Anfechtungsrecht VwRallg9/2

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:VWGH:2020:RA2019210389.L00

Im RIS seit

15.07.2020

Zuletzt aktualisiert am

15.07.2020
Quelle: Verwaltungsgerichtshof VwGH, http://www.vwgh.gv.at
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