TE Vfgh Erkenntnis 2020/6/27 E698/2019

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Veröffentlicht am 27.06.2020
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Index

41/02 Staatsbürgerschaft, Pass- und Melderecht, Fremdenrecht, Asylrecht

Norm

B-VG Art144 Abs1 / Anlassfall
AsylG 2005 §2 Abs1 Z22
VfGG §7 Abs1

Leitsatz

Aufhebung des angefochtenen Erkenntnisses im Anlassfall; Bewilligung der Verfahrenshilfe im Umfang der Gebührenbefreiung

Spruch

I. Dem Antrag auf Bewilligung der Verfahrenshilfe im Umfang der Gebührenbefreiung wird stattgegeben.

II. Der Beschwerdeführer ist durch Spruchpunkt A) I. des angefochtenen Erkenntnisses wegen Anwendung einer verfassungswidrigen Gesetzesbestimmung in seinen Rechten verletzt worden.

Das Erkenntnis wird insoweit aufgehoben.

III. Der Bund (Bundesminister für Inneres) ist schuldig, dem Beschwerdeführer zuhanden seiner Rechtsvertreterin die mit € 2.616,– bestimmten Prozesskosten binnen 14 Tagen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.

Begründung

Entscheidungsgründe

I. Sachverhalt, Beschwerde und Vorverfahren

1. Der minderjährige Beschwerdeführer ist Staatsangehöriger von Afghanistan; seine Eltern sind bereits im Herkunftsstaat verstorben. Der Beschwerdeführer stellte nach Einreise in Österreich am 31. Oktober 2016 gemeinsam mit seinen drei minderjährigen Brüdern und seiner volljährigen Schwester Anträge auf internationalen Schutz.

2. Mit Beschluss eines österreichischen Bezirksgerichtes vom 25. Mai 2018 wurde der volljährigen Schwester die Obsorge für den Beschwerdeführer und seine Brüder übertragen.

3. Mit Bescheiden des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 29. Mai 2018 wurden die Anträge des Beschwerdeführers und seiner Geschwister bezüglich der Zuerkennung des Status der Asylberechtigten gemäß §3 Abs1 iVm §2 Abs1 Z13 AsylG 2005 (Spruchpunkt I.) und bezüglich der Zuerkennung des Status der subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Afghanistan gemäß §8 Abs1 iVm §2 Abs1 Z13 AsylG 2005 (Spruchpunkt II.) abgewiesen. Weiters wurde ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen gemäß §57 AsylG 2005 nicht erteilt (Spruchpunkt III.), gemäß §10 Abs1 Z3 AsylG 2005 iVm §9 BFA–VG eine Rückkehrentscheidung gemäß §52 Abs2 Z2 FPG erlassen (Spruchpunkt IV.) und festgestellt, dass die Abschiebung nach Afghanistan gemäß §46 FPG zulässig sei (Spruchpunkt V.). Zudem wurde eine zweiwöchige Frist zur freiwilligen Ausreise gemäß §55 Abs1 bis 3 FPG ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung gesetzt (Spruchpunkt VI.).

4. Gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 29. Mai 2018 erhob der Beschwerdeführer am 27. Juni 2019 Beschwerde an das Bundesverwaltungsgericht.

5. Das Bundesverwaltungsgericht führte eine mündliche Verhandlung durch und erkannte der Schwester des Beschwerdeführers mit Erkenntnis vom 16. Jänner 2019 gemäß §3 Abs1 AsylG 2005 den Status der Asylberechtigten zu.

6. Mit gesondert ergangenem Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichtes vom 16. Jänner 2019 wurde die Beschwerde des Beschwerdeführers gegen Spruchpunkt I. des angefochtenen Bescheides abgewiesen (Spruchpunkt A) I. des Erkenntnisses). Der Beschwerde gegen Spruchpunkt II. des angefochtenen Bescheides wurde hingegen stattgegeben und dem Beschwerdeführer gemäß §8 Abs1 Z1 AsylG 2005 der Status des subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Afghanistan zuerkannt. Zudem wurde ihm eine befristete Aufenthaltsberechtigung als subsidiär Schutzberechtigter bis 16. Jänner 2020 erteilt.

7. Gegen Spruchpunkt A) I. dieser Entscheidung richtet sich die vorliegende, auf Art144 B-VG gestützte Beschwerde, in der die Aufhebung des angefochtenen Erkenntnisses wegen Verletzung in verfassungsgesetzlich gewährleisteten Rechten, in eventu wegen Anwendung eines verfassungswidrigen Gesetzes sowie Kostenersatz beantragt wird. Zusätzlich wird ein Antrag auf Bewilligung der Verfahrenshilfe im Umfang der Gebührenbefreiung gestellt.

Der Beschwerdeführer führte im Wesentlichen aus, dass die Legaldefinition des Familienangehörigen in §2 Abs1 Z22 AsylG 2005 dahingehend unklar sei, ob ein minderjähriges Kind als Familienangehöriger des für ihn obsorgeberechtigten Erwachsenen gelte. Es sei nach Ansicht des Beschwerdeführers gleichheitswidrig, würde die Familienangehörigendefinition des §2 Abs1 Z22 AsylG 2005 nur (in eine Richtung) den gesetzlichen Vertreter der Person, der internationaler Schutz zuerkannt worden ist, wenn diese minderjährig und nicht verheiratet ist, sofern dieses rechtserhebliche Verhältnis bereits vor der Einreise bestanden hat, nicht aber den Minderjährigen, dessen Vertreter internationalen Schutz erhalten habe, erfassen.

II. Erwägungen

Der Verfassungsgerichtshof hat über die zulässige Beschwerde erwogen:

1. Der Verfassungsgerichtshof leitete gemäß Art140 Abs1 Z1 litb B-VG von Amts wegen ein Verfahren zur Prüfung der Verfassungsmäßigkeit des §2 Abs1 Z22 iVm §34 Abs1, 2, 4 und 5 AsylG 2005 ein. Mit Erkenntnis vom 26. Juni 2020 zu G117-121/2020 und G298/2019 hob er §2 Abs1 Z22 AsylG 2005, BGBl I Nr 100 idF BGBl I Nr 56/2018 als verfassungswidrig auf.

2. Das Bundesverwaltungsgericht hätte die Bestimmung des §2 Abs1 Z22 AsylG 2005 anzuwenden gehabt. Es ist nach Lage des Falles nicht ausgeschlossen, dass ihre Anwendung für die Rechtsstellung des Beschwerdeführers nachteilig war.

3. Der Beschwerdeführer wurde also durch das angefochtene Erkenntnis wegen Anwendung einer verfassungswidrigen Gesetzesbestimmung in seinen Rechten verletzt (zB VfSlg 10.404/1985).

III. Ergebnis

1. Spruchpunkt A) I. des Erkenntnisses ist daher aufzuheben, ohne dass auf das weitere Beschwerdevorbringen einzugehen ist. Das Bundesverwaltungsgericht hat im weiteren Verfahren den Begriff des Familienangehörigen in §34 AsylG 2005 im Lichte des Erkenntnisses des Verfassungsgerichtshofes vom 26. Juni 2020 zu G117-121/2020 und G298/2019 verfassungs- und unionsrechtskonform auszulegen.

2. Dem Antrag auf Bewilligung der Verfahrenshilfe im Umfang der Gebührenbefreiung ist stattzugeben.

3. Diese Entscheidung konnte gemäß §19 Abs4 VfGG ohne mündliche Verhandlung in nichtöffentlicher Sitzung getroffen werden.

4. Die Kostenentscheidung beruht auf §88 VfGG. In den zugesprochenen Kosten ist Umsatzsteuer in der Höhe von € 436,– enthalten.

Schlagworte

VfGH / Anlassfall, VfGH / Verfahrenshilfe

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:VFGH:2020:E698.2019

Zuletzt aktualisiert am

13.07.2020
Quelle: Verfassungsgerichtshof VfGH, http://www.vfgh.gv.at
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