TE Vwgh Erkenntnis 2020/3/23 Ra 2019/14/0334

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Veröffentlicht am 23.03.2020
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Index

19/05 Menschenrechte
40/01 Verwaltungsverfahren
41/02 Asylrecht
41/02 Passrecht Fremdenrecht

Norm

AsylG 2005 §6 Abs1 Z4
BFA-VG 2014 §21 Abs7
MRK Art8
VwGVG 2014 §24

Betreff

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Präsident Dr. Thienel, den Hofrat Mag. Eder und die Hofrätin Mag. Schindler als Richter, unter Mitwirkung der Schriftführerin Mag. Schweinzer, über die Revision des X Y in W, vertreten durch Mag. Barbara Ploechl, Rechtsanwältin in 1010 Wien, Seilerstätte 18- 20, gegen das Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichtes vom 22. Mai 2019, W224 2217664-1/6E, betreffend Angelegenheiten nach dem AsylG 2005 und dem FPG (belangte Behörde vor dem Verwaltungsgericht: Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl), zu Recht erkannt:

Spruch

Das angefochtene Erkenntnis wird wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufgehoben.

Der Bund hat dem Revisionswerber Aufwendungen in der Höhe von EUR 1.106,40 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.

Begründung

1 Der Revisionswerber, ein syrischer Staatsangehöriger, stellte, vertreten durch seine Mutter als gesetzliche Vertreterin, am 27. Mai 2015 einen Antrag auf internationalen Schutz. Mit Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl (BFA) vom 29. Juni 2015 wurde dem Revisionswerber der Status des Asylberechtigten gemäß § 3 iVm § 34 Abs. 2 Asylgesetz 2005 (AsylG 2005) zuerkannt und festgestellt, dass ihm kraft Gesetzes die Flüchtlingseigenschaft zukommt. In ihrer Begründung hielt die Behörde fest, dem Vater des Revisionswerbers sei mit Bescheid vom 5. Dezember 2014 der Status des Asylberechtigten zuerkannt worden. Daher sei dem Revisionswerber derselbe Schutz zu gewähren. 2 Mit Schreiben vom 22. März 2018 verständigte die Staatsanwaltschaft Wien das BFA von der Erhebung einer Anklage gegen den Revisionswerbers wegen §§ 142 Abs. 1, 143 Abs. 1 zweiter Fall StGB, §§ 15, 12 zweiter Fall, 288 Abs. 1 und 4 StGB, § 50 Abs. 1 Z 2 WaffG und §§ 15, 105 Abs. 1 StGB. Daraufhin leitete das BFA ein Aberkennungsverfahren ein. Am 15. Mai 2018 erfolgte vor der Behörde eine Einvernahme des Revisionswerbers. Mit Aktenvermerk vom 10. Juli 2018 stellte das BFA das Aberkennungsverfahren mit dem Hinweis ein, dass die begangene Straftat nicht als besonders schweres Verbrechen im Sinn des § 6 Abs. 1 Z 4 StGB einzustufen sei.

3 Mit Urteil des Landesgerichtes für Strafsachen Wien vom 28. Mai 2018 wurde der Revisionswerber rechtskräftig wegen des Verbrechens des Raubes gemäß § 142 Abs. 1 StGB, des Vergehens der Entfremdung unbarer Zahlungsmittel nach § 241e Abs. 3 StGB sowie des Vergehens der versuchten Bestimmung zur falschen Beweisaussage vor der Kriminalpolizei nach §§ 15, 12 zweiter Fall, 288 Abs. 1 und 4 StGB unter Bedachtnahme auf § 5 Abs. 4 JGG zu einer Freiheitsstrafe von sechs Monaten (bedingt nachgesehen unter einer Probezeit von drei Jahren) verurteilt. Darüber hinaus wurde der Revisionswerber für schuldig erkannt, der Privatbeteiligten einen Betrag von EUR 100,-- zu zahlen und die Bewährungshilfe angeordnet. Im Rahmen der Strafbemessung wurden das reumütige Geständnis, der tadellose Lebenswandel und die teilweise Schadensgutmachung als Milderungsgründe und die Verletzungen des Opfers als Erschwerungsgrund gewertet.

4 Nach Verständigung des BFA, dass über den Revisionswerber am 3. Oktober 2018 die Untersuchungshaft wegen des Verdachts von neuerlichen Straftaten (§§ 15, 142 Abs. 1, § 143 Abs. 1 zweiter Fall und §§ 15, 87 Abs. 1 StGB) verhängt worden sei, leitete die Behörde mit Aktenvermerk vom 9. Oktober 2018 das Aberkennungsverfahren ein und vernahm die Mutter des Revisionswerbers am 5. November 2018. Eine neuerliche Einvernahme des Revisionswerbers durch das BFA erfolgte nicht. Der Revisionswerber befand sich von 3. Oktober 2018 bis 26. November 2018 in Haft.

5 Mit Urteil des Landesgerichtes für Strafsachen Wien vom 23. Jänner 2019 wurde der Revisionswerber rechtskräftig wegen des Verbrechens der versuchten schweren Körperverletzung nach §§ 15, 84 Abs. 4 StGB unter Anwendung des § 5 Abs. 4 JGG zu einer Freiheitsstrafe von zwölf Monaten (davon elf Monate unter Setzung einer Probezeit bedingt nachgesehen) verurteilt und von den anderen Anklagepunkten gemäß § 259 Z 3 StPO freigesprochen. Die Probezeit in Bezug auf die erste Verurteilung wurde auf fünf Jahre verlängert, die Bewährungshilfe angeordnet und dem Revisionswerber die Weisung erteilt, an einem Anti-Gewalt-Training teilzunehmen. Als mildernd wurde angesehen, dass es hinsichtlich der schweren Körperverletzung beim Versuch geblieben ist. Als erschwerend wurden die einschlägige Vorstrafe, der rasche Rückfall innerhalb offener Probezeit und die Körperverletzung unter Einsatz einer Waffe gewertet.

6 Mit Bescheid vom 11. März 2019 erkannte das BFA dem Revisionswerber den Status des Asylberechtigten gemäß § 7 Abs. 1 Z 1 AsylG 2005 ab und stellte gemäß § 7 Abs. 4 AsylG 2005 fest, dass dem Revisionswerber die Flüchtlingseigenschaft kraft Gesetzes nicht mehr zukomme. Es erkannte ihm den Status des subsidiär Schutzberechtigten nicht zu, erteilte keinen Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen, erließ gegen ihn eine Rückkehrentscheidung sowie ein auf die Dauer von sechs Jahren befristetes Einreiseverbot und stellte fest, dass seine Abschiebung nach Syrien unzulässig sei. Die Frist für die freiwillige Ausreise legte die Behörde mit 14 Tagen ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung fest.

7 In seiner Begründung führte das BFA zur Aberkennung des Status des Asylberechtigten zusammengefasst aus, der Revisionswerber habe einen Asylausschlussgrund gemäß § 6 Abs. 1 Z 4 AsylG 2005 verwirklicht. Er sei wegen der Begehung eines besonders schweren Verbrechens rechtskräftig verurteilt worden. Der Revisionswerber sei ein halbes Jahr nach seiner Einvernahme vor dem BFA erneut straffällig geworden, daher sei ein innerer Wertewandel völlig ausgeschlossen. Die Betrachtung des schwerwiegenden Fehlverhaltens und des sich daraus ableitbaren Persönlichkeitsbildes lasse auf eine sozialschädliche Neigung zur Missachtung der österreichischen Rechtsvorschriften schließen. Die öffentlichen Interessen an der Aufenthaltsbeendigung überwögen das Interesse des Revisionswerbers am Weiterbestehen des Schutzes durch den Zufluchtsstaat.

8 Dagegen erhob der Revisionswerber Beschwerde, in der er unter anderem ausdrücklich die Durchführung einer mündlichen Verhandlung beantragte. Das Ermittlungsverfahren der Behörde sei mangelhaft. Die letzte Einvernahme des Revisionswerbers sei mehr als zehn Monate vor Erlassung des Bescheides erfolgt. Erst nach seiner Einvernahme habe der Revisionswerber das Haftübel verspürt, welches bei ihm aufgrund seiner Minderjährigkeit einen besonderen Eindruck hinterlassen habe. Der Revisionswerber befinde sich im Rahmen der Bewährungshilfe in einem aufrechten Betreuungsverhältnis beim Verein Neustart und es sei nunmehr ein positiver Lebenswandel ersichtlich, was sich auch daran zeige, dass er seit Ende Februar 2019 die "Produktionsschule" besuche. Zur Erstellung einer Gefährdungsprognose und zur Beurteilung einer Gemeingefährdung wäre eine neuerliche Einvernahme des Revisionswerbers erforderlich gewesen.

9 Mit Erkenntnis vom 22. Mai 2019 wies das BVwG die Beschwerde - ohne Durchführung einer mündlichen Verhandlung - mit der Maßgabe als unbegründet ab, dass die Dauer des Einreiseverbots auf fünf Jahre herabgesetzt werde. Unter einem sprach es aus, dass die Revision an den Verwaltungsgerichtshof gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig sei.

10 Das BVwG stellte die strafbaren Handlungen des Revisionswerber insofern näher dar, als es feststellte, dass er das Opfer beim Raubüberfall von hinten einen heftigen Stoß versetzt habe, sodass dieses zu Boden gefallen sei, der Revisionswerber diesem die Handtasche entrissen habe, davongelaufen sei und aus der Handtasche das darin befindliche Bargeld in der Höhe von EUR 30,-- und eine Bankomatkarte behalten, während er die Handtasche weggeschmissen habe. Die dabei dem Opfer zugefügten Verletzungen präzisierte es nicht näher. Weiters hielt es fest, dass der Revisionswerber versucht habe, eine andere näher bestimmte Person dazu zu bestimmen, in einem Ermittlungsverfahren als Zeuge zur Sache vor der Kriminalpolizei falsch auszusagen. Zur strafbaren Handlung, die zur zweiten Verurteilung geführt hat, stellte es fest, dass der Revisionswerber dem Opfer mit einem Messer einen Stich in den Oberschenkel versetzt habe, wodurch dieses eine drei Zentimeter breite und zwei Zentimeter tiefe Stichverletzung erlitten habe. Darüber hinaus führte das Verwaltungsgericht die vom Landesgericht für Strafsachen Wien bei der Strafbemessung jeweils als mildernd und erschwerend gewertete Umstände im Detail an.

11 Die Aberkennung des Status des Asylberechtigten begründete das BVwG zusammengefasst damit, dass zwei einschlägige rechtskräftige Verurteilungen aufgrund gegen objektiv besonders geschützte Rechtsgüter (Leib und Leben) gerichteter Verbrechen vorliegen würden, die in objektiver und subjektiver Hinsicht als besonders verwerflich und schwer zu qualifizieren seien. Ausgehend von den Strafdrohungen der verwirklichten Delikte sei aus objektiver Sicht von einem "besonders schweren Verbrechen" auszugehen. Die mit dem zweiten Urteil verhängte Freiheitsstrafe von zwölf Monaten, auch wenn elf Monate bedingt nachgesehen worden seien, sei jedenfalls nicht als gering anzusehen und bringe auch in subjektiver Sicht den hohen Unwert der begangenen Tat zum Ausdruck. Trotz des im ersten Strafverfahren abgelegten reumütigen Geständnisses, der verhängten Probezeit und der angeordneten Bewährungshilfe sei der Revisionswerber nur kurze Zeit nach seiner ersten Verurteilung erneut straffällig geworden. Dazu komme die Anwendung einer Waffe, die neben der zusätzlichen Gefährdung des Opfers eine besondere Verwerflichkeit der Tat nach sich ziehe. Vor dem Hintergrund der aufgezeigten Tatumstände sei jedenfalls in Zusammenschau der beiden Verurteilungen auch in subjektiver Hinsicht von einem "besonders schweren Verbrechen" auszugehen. Der Revisionswerber stelle darüber hinaus eine tatsächliche, gegenwärtige und erhebliche Gefahr für die Allgemeinheit dar. Weder die erste Verurteilung noch die Beigabe eines Bewährungshelfers seien geeignet gewesen, den Revisionswerber zum Umdenken zu bewegen. Dazu komme, dass er bereit gewesen sei, körperliche Gewalt und sogar eine Waffe einzusetzen und damit auch in wesentliche Grundrechte anderer Personen massiv einzugreifen. Der Zeitraum zwischen der Haft von 3. Oktober 2018 bis 26. November 2018 bzw. der Verurteilung im Jänner 2019 sei vor dem Hintergrund der gesetzten Probezeiten von fünf Jahren jedenfalls zu kurz, um ein nachhaltiges Wohlverhalten seit der letzten Tatbegehung festzustellen und auf einen Wegfall oder eine erhebliche Minderung der von ihm ausgehenden Gefährdung der öffentlichen Ordnung und Sicherheit schließen zu können. Im aktuellen Zeitpunkt sei daher insgesamt betrachtet jedenfalls von einem mangelnden Unrechtsbewusstsein des Revisionswerbers auszugehen. Auch wenn der Revisionswerber derzeit seine Termine der angeordneten Bewährungshilfe sowie der angeordneten Therapie wahrnehme und seit Februar 2019 am Projekt "Produktionsschule" teilnehme, könne erst ein längeres Wohlverhalten, welches nicht nur auf die gesetzte Probezeit und die Unterstützung durch die Bewährungshilfe zurückzuführen ist, zu einer (maßgeblichen) Minderung bzw. zu einem Wegfall der Gefährdungsprognose führen. An dieser Gefährdungsprognose vermöge auch der Umstand nichts zu ändern, dass der Revisionswerber bei der zweiten Verurteilung "nur" zu einer Freiheitsstrafe von zwölf Monaten, wobei elf Monate unter Setzung einer fünfjährigen Probezeit nachgesehen worden seien, verurteilt worden sei, insbesondere weil die "geringe" Freiheitsstrafe auf die Anwendung des § 5 Z 4 JGG zurückzuführen sei. Selbst wenn das Strafgericht zu dem Schluss gekommen sei, dass die verhängte Strafe genüge, um den Revisionswerber von der Begehung weiterer strafbarer Handlungen abzuhalten, kann aufgrund seines Gesamtverhaltens die Begehung strafbarer Handlungen in Zukunft nicht ausgeschlossen werden. Die öffentlichen Interessen an der Aufenthaltsbeendigung überwögen das Interesse des Revisionswerbers am Weiterbestehen des Schutzes durch den Zufluchtsstaat. Zum Unterbleiben der mündlichen Verhandlung führte das BVwG im Wesentlichen aus, dass das BFA seiner Ermittlungspflicht durch detaillierte Befragung des Revisionswerbers und seiner gesetzlichen Vertreterin nachgekommen sei. Der Sachverhalt sei unter schlüssiger und nachvollziehbarer Beweiswürdigung des BFA vollständig festgestellt worden. In der Beschwerde sei auf Sachverhaltsebene nichts Entscheidungsrelevantes mehr vorgebracht worden, das mit dem Revisionswerber mündlich zu erörtern gewesen wäre.

12 Gegen dieses Erkenntnis richtet sich die vorliegende Revision, über die der Verwaltungsgerichtshof nach Einleitung des Vorverfahrens - eine Revisionsbeantwortung wurde nicht erstattet - in einem gemäß § 12 Abs. 1 Z 2 VwGG gebildeten Senat erwogen hat:

13 Die Revision bringt zu ihrer Zulässigkeit unter anderem vor, das BVwG habe von einer mündlichen Verhandlung Abstand genommen, obwohl die nach der höchstgerichtlichen Rechtsprechung für ein Unterbleiben einer mündlichen Verhandlung erforderlichen Voraussetzungen nicht vorgelegen seien. Bereits der Bescheid des BFA habe auf keiner hinreichend geklärten Sachverhaltsgrundlage beruht. Gerade im Asylaberkennungsverfahren sei es für die Beurteilung der Gemeingefährlichkeit essentiell, einen persönlichen Eindruck vom Revisionswerber zu gewinnen. Das BVwG habe zudem keine Feststellungen bezüglich den Verurteilungen des Revisionswerbers zugrunde liegenden Tatgeschehen getroffen, wodurch die Gefährdungsprognose auf keiner "verfahrensrechtlich einwandfreien Grundlage" beruhe. Die kursorische Wiedergabe des Urteilstenors sei nicht ausreichend. Das Zulässigkeitsvorbringen richtet sich auch gegen die rechtliche Einschätzung des BVwG, wonach es sich bei den vom Revisionswerber begangenen Delikten um "besonders schwere Delikte" im Sinn des § 6 Abs. 1 Z 4 AsylG 2005 handle.

14 Die Revision ist zulässig und auch begründet.

15 Nach der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes müssen

für die Anwendung des § 6 Abs. 1 Z 4 AsylG 2005 kumulativ vier Voraussetzungen erfüllt sein. Er muss erstens ein besonders schweres Verbrechen verübt haben, dafür zweitens rechtskräftig verurteilt worden und drittens gemeingefährlich sein, und viertens müssen die öffentlichen Interessen an der Aufenthaltsbeendigung seine Interessen am Weiterbestehen des Schutzes durch den Zufluchtsstaat überwiegen. Es genügt nicht, wenn ein abstrakt als "schwer" einzustufendes Delikt verübt worden ist. Die Tat muss sich im konkreten Einzelfall als objektiv und subjektiv besonders schwerwiegend erweisen. Bei der Beurteilung, ob ein "besonders schweres Verbrechen" vorliegt, ist daher eine konkrete fallbezogene Prüfung vorzunehmen und es sind insbesondere die Tatumstände zu berücksichtigen. Lediglich in gravierenden Fällen schwerer Verbrechen ist bereits ohne umfassende Prüfung der einzelnen Tatumstände eine eindeutige Wertung als schweres Verbrechen mit negativer Zukunftsprognose zulässig (vgl. etwa VwGH 14.2.2018, Ra 2017/18/0419, mwN).

16 Gemäß § 21 Abs. 7 erster Satz BFA-Verfahrensgesetz (BFA-VG) kann eine mündliche Verhandlung unterbleiben, wenn der Sachverhalt aus der Aktenlage in Verbindung mit der Beschwerde geklärt erscheint oder sich aus den bisherigen Ermittlungen zweifelsfrei ergibt, dass das Vorbringen nicht den Tatsachen entspricht. Nach der ständigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes sind zur Beurteilung, ob der Sachverhalt im Sinn dieser Bestimmung "geklärt erscheint" folgende Kriterien beachtlich:

Der für die rechtliche Beurteilung entscheidungswesentliche Sachverhalt muss von der Verwaltungsbehörde vollständig in einem ordnungsgemäßen Ermittlungsverfahren erhoben worden sein und bezogen auf den Zeitpunkt der Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichtes immer noch die gesetzlich gebotene Aktualität und Vollständigkeit aufweisen. Die Verwaltungsbehörde muss die die entscheidungsmaßgeblichen Feststellungen tragende Beweiswürdigung in ihrer Entscheidung in gesetzmäßiger Weise offen gelegt haben und das Bundesverwaltungsgericht muss die tragenden Erwägungen der verwaltungsbehördlichen Beweiswürdigung teilen. In der Beschwerde darf kein dem Ergebnis des behördlichen Ermittlungsverfahrens entgegenstehender oder darüber hinausgehender für die Beurteilung relevanter Sachverhalt behauptet werden, wobei bloß unsubstantiiertes Bestreiten des von der Verwaltungsbehörde festgestellten Sachverhaltes ebenso außer Betracht bleiben kann wie ein Vorbringen, das gegen das in § 20 BFA-VG festgelegte Neuerungsverbot verstößt. Auf verfahrensrechtlich festgelegte Besonderheiten ist bei der Beurteilung Bedacht zu nehmen (vgl. grundlegend VwGH 28.5.2014, Ra 2014/20/0017 und 0018, sowie aus der folgenden Rechtsprechung VwGH 28.8.2019, Ra 2018/14/0241 bis 0247, mwN).

17 Nach der ständigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes, kommt der Verschaffung eines persönlichen Eindrucks im Rahmen einer mündlichen Verhandlung sowohl in Bezug auf die Gefährdungsprognose als auch in Bezug auf die für die Abwägung nach Art. 8 EMRK relevanten Umstände besondere Bedeutung zu. Das gilt sinngemäß auch für die einzelfallbezogene Erstellung einer Gefährdungsprognose hinsichtlich des Erfordernisses der Gemeingefährlichkeit im Sinn des § 6 Abs. 1 Z 4 AsylG 2005 (vgl. VwGH 29.8.2019, Ra 2018/19/0522, mwN). Der Verwaltungsgerichtshof hat zwar in diesem Zusammenhang bereits wiederholt darauf hingewiesen, dass daraus noch keine "absolute" (generelle) Pflicht zur Durchführung einer mündlichen Verhandlung in Verfahren über die Aberkennung des Status des Asylberechtigten und aufenthaltsbeendende Maßnahmen abzuleiten ist (vgl. VwGH 18.11.2019, Ra 2019/18/0418), gleichzeitig aber in seiner Judikatur betont, dass nur (ausnahmsweise) von der Durchführung einer Verhandlung unter anderem dann abgesehen werden kann, wenn der Sachverhalt aus der Aktenlage in Verbindung mit der Beschwerde geklärt scheint (vgl. etwa VwGH 10.08.2017, Ra 2016/20/0105, 0106, mwN). 18 Die Voraussetzungen für ein Absehen von der Verhandlung lagen im gegenständlichen Fall nicht vor. Der Revisionswerber rügt zu Recht, dass sich das BVwG einen persönlichen Eindruck vom Revisionswerber hätte verschaffen müssen. Dies umso mehr, als die vom BFA durchgeführte Einvernahme des Revisionswerbers noch vor seiner ersten Verurteilung stattfand. Eine neuerliche Vernehmung wäre geboten gewesen, um eine gesicherte und aktuelle Beurteilungsgrundlage für die Gefährdungsprognose zu haben. 19 Die Durchführung einer mündlichen Verhandlung durch das BVwG wäre auch vor dem Hintergrund des Vorbringens des Revisionswerbers in seiner Beschwerde erforderlich gewesen, wo er auf einen Gesinnungswandel nach Verspüren des Haftübels, sein seither bestehendes Wohlverhalten sowie den Besuch der "Produktionsschule" hinwies. Der Revisionswerber legte im Beschwerdeverfahren überdies ein Schreiben der Bewährungshilfe vor, in dem der familiäre Zusammenhalt der Familie des Revisionswerbers hervorgehoben und eine positive Entwicklung des minderjährigen Revisionswerbers angesprochen wird. Wenngleich dem BVwG beizupflichten ist, dass im konkreten Fall nur ein kurzer Beobachtungszeitraum von etwa einem halben Jahr nach der Haftentlassung Ende November 2018 bis zur Erlassung seines Erkenntnisses vorlag, ist fallbezogen nicht von vornherein auszuschließen, dass ein für die Gefährdungsprognose maßgeblicher Gesinnungswandel gegeben sein könnte, zumal der Revisionswerber nach den aus den im Verwaltungsakt erliegenden Strafurteilen zu den Tatzeitpunkten erst 15 bzw. 16 Jahre alt und erstmals in Haft war (vgl. zur Dauer des Beobachtungszeitraumes VwGH 26.4.2018, Ra 2018/21/0027, mwN).

20 Im Fall der Durchführung einer mündlichen Verhandlung hätte sich das BVwG im Übrigen auch ein Bild von den (aktuellen) Familienverhältnissen des im Entscheidungszeitpunkt noch minderjährigen Revisionswerbers machen können, zumal es - entgegen den Ausführungen im obgenannten Schreiben der Bewährungshilfe - davon ausging, dass nur ein "bedingt enges Familienband" zu den Eltern bestehe. Des Weiteren liegen noch nicht ausreichend konkrete Feststellungen zu den Tatumständen vor, um eine abschließende Beurteilung vornehmen zu können, ob ein "besonders schweres Verbrechen" im Sinn des § 6 Abs. 1 Z 4 AsylG 2005 vorliegt.

21 Das angefochtene Erkenntnis war daher gemäß § 42 Abs. 2 Z 3 lit. b und c VwGG wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufzuheben.

22 Die Entscheidung über den Aufwandersatz gründet sich auf die §§ 47 ff VwGG in Verbindung mit der VwGH-Aufwandersatzverordnung 2014.

Wien, am 23. März 2020

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:VWGH:2020:RA2019140334.L00

Im RIS seit

19.05.2020

Zuletzt aktualisiert am

19.05.2020
Quelle: Verwaltungsgerichtshof VwGH, http://www.vwgh.gv.at
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