RS Vfgh 2019/10/1 G207/2018

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Veröffentlicht am 01.10.2019
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Index

20/01 Allgemeines bürgerliches Gesetzbuch (ABGB)

Norm

B-VG Art7 Abs1 / Gesetz
B-VG Art140 Abs1 Z1 litd
ABGB §1352
EMRK 1. ZP Art1
StGG Art5
VfGG §7 Abs1

Leitsatz

Kein Verstoß gegen den Gleichheitsgrundsatz durch eine Bestimmung des ABGB betreffend die Bürgschaft für geschäftsunfähige Personen; Ausnahme vom Grundsatz der Akzessorietät der Bürgschaft und Zuweisung des wirtschaftlichen Risikos an den Bürgen als Mitschuldner sachlich gerechtfertigt; keine Überschreitung des rechtspolitischen Gestaltungsspielraums des Gesetzgebers im Hinblick auf das Ziel des Gläubigerschutzes und das Ziel, geschäftsunfähige Personen am rechtsgeschäftlichen Verkehr zu beteiligen

Rechtssatz

Abweisung eines Parteiantrags auf Aufhebung von §1352 ABGB idF JGS 946/1811.

Das Erstgericht hat §1352 ABGB - aus methodischer Sicht offenkundig im Sinne eines Analogieschlusses - zur Begründung seiner Entscheidung herangezogen: Wenn die Bürgschaft bereits dann wirksam ist, wenn der Hauptschuldner der besicherten Forderung im Zeitpunkt des Vertragsabschlusses geschäftsunfähig ist, muss dies auch in einem Fall gelten, in dem ein mit der besicherten Forderung lediglich wirtschaftlich verbundener Vertrag, nämlich der Kaufvertrag zwischen der Ehegattin und der GmbH, wegen Geschäftsunfähigkeit der Schuldnerin unwirksam ist. Die Präjudizialität einer Bestimmung kann sich auch aus der analogen Anwendung einer Bestimmung ergeben.

Aus dem Antrag ergibt sich eindeutig, dass der Antragsteller die Aufhebung des gesamten in Geltung stehenden §1352 ABGB begehrt, weswegen die geringfügige Fehlbezeichnung (Aufhebung des §1352 ABGB zur Gänze, also einschließlich der Paragraphenbezeichnung "§1352." am Beginn und des Klammerausdrucks "(§. 896)." am Ende der Bestimmung, oder nur im Umfang des im Antrag unter Anführungszeichen und kursiv gesetzten Textes sowie ("ungeteilt" statt "ungetheilt" und "(§896 ABGB)" statt "(§. 896).") weder zu Zweifeln am Inhalt des Antrages noch zu einer Mehrdeutigkeit führt.

§1352 ABGB bewirkt einerseits, dass (potentiell) Geschäftsunfähigen bzw beschränkt Geschäftsfähigen der Zugang zu Vertragsabschlüssen - auf Grund der Möglichkeit des Gläubigers zur Besicherung durch einen Bürgen - erleichtert wird: Sähe das Gesetz keine entsprechende Ausnahme vom Grundsatz der Akzessorietät der Bürgschaft vor, wären Personen, hinsichtlich derer Zweifel an der (vollen) Geschäftsfähigkeit bestehen, faktisch vielfach von Vertragsabschlüssen ausgeschlossen, weil potentielle Gläubiger diese auf Grund der drohenden Unwirksamkeit der Bürgschaft ablehnen könnten. §1352 ABGB kann solchen Personen somit die Teilnahme am rechtsgeschäftlichen Verkehr erleichtern. Schon im Hinblick darauf geht der VfGH davon aus, dass §1352 ABGB sachlich gerechtfertigt ist.

Darüber hinaus gewährleistet §1352 ABGB Rechtssicherheit und damit Planbarkeit für (potentielle) Gläubiger geschäftsunfähiger bzw beschränkt geschäftsfähiger Personen. Dies ist vor dem Hintergrund zu sehen, dass Verträge mit einem nicht ausreichend Geschäftsfähigen - von Ausnahmen (vgl etwa §865 Abs2 ABGB sowie die nachträgliche Genehmigung des Vertrages durch den Vertreter) abgesehen - grundsätzlich unwirksam sind und bereicherungsrechtlich rückabgewickelt werden müssen. Das Gesetz sieht bei der Rückforderung von Zahlungen an Geschäftsunfähige bestimmte Schranken vor: So kann nach §1424 zweiter Satz ABGB eine ungerechtfertigte Zahlung an einen Geschäftsunfähigen nur insoweit zurückgefordert werden, als das Bezahlte noch tatsächlich vorhanden oder zum Nutzen des Empfängers verwendet worden ist.

Wenn die Rechtsordnung zum Schutz des Geschäftsunfähigen bzw beschränkt Geschäftsfähigen eine Regelung vorsieht, welche die bereicherungsrechtliche Rückforderung beschränkt bzw erschwert, so ist es nicht unsachlich, wenn dem Gläubiger - gleichsam als Ausgleich - die Möglichkeit eingeräumt wird, das wirtschaftliche Risiko eines solchen - potentiell riskanten - Rechtsgeschäftes durch Bürgschaft abzusichern. Auch dieser Gesichtspunkt unterstreicht die sachliche Rechtfertigung der in §1352 ABGB geregelten Ausnahme vom Grundsatz der Akzessorietät.

Zur Zuweisung des wirtschaftlichen Risikos eines Vertragsabschlusses an den Bürgen ist zu berücksichtigen, dass eine Haftung des Bürgen auch in der vorliegenden Sonderkonstellation dem Wesen der Bürgschaft entspricht und keine Verpflichtung besteht, eine Haftung als Bürge einzugehen. Der Bürge wird vor den damit verbundenen Risiken sogar durch das Schriftformgebot des §1346 Abs2 ABGB gewarnt. Geht er - auf Grund seiner privatautonomen Entscheidung - dennoch eine Bürgschaft ein, ist es nicht unsachlich, wenn er auch das damit verbundene wirtschaftliche Risiko zu tragen hat.

Dazu kommt, dass der Bürge - in einer Durchschnittsbetrachtung - die persönlichen Verhältnisse des Schuldners vielfach besser beurteilen kann als der Gläubiger, zumal eine Bürgschaft auf Grund ihres regelmäßig beträchtlichen Risikos nur bei Vorliegen eines besonderen - persönlichen oder wirtschaftlichen - Naheverhältnisses eingegangen werden wird. Auch diese typische Interessenlage rechtfertigt es, das wirtschaftliche Risiko der Besicherung einer Forderung eines Geschäftsunfähigen bzw beschränkt Geschäftsfähigen dem Bürgen zuzuweisen. Der Bürge ist angehalten, entsprechende Nachforschungen über eine allfällige Geschäftsunfähigkeit des Schuldners anzustellen.

Dass ein Bürge, der die Geschäftsunfähigkeit des Schuldners kannte und sich dennoch - privatautonom - für eine Bürgschaft entscheidet, für die eingegangene Schuld einstehen muss, begegnet keinen gleichheitsrechtlichen Bedenken. Ebenso wenig ist es zu beanstanden, wenn ein Bürge haften soll, der die Geschäftsunfähigkeit bzw beschränkte Geschäftsfähigkeit des Schuldners auf Grund seiner eigenen Nachlässigkeit nicht kannte.

In der Konstellation, dass der Gläubiger in Kenntnis der Geschäftsunfähigkeit war, der Bürge unverschuldet jedoch keine Kenntnis hatte, besteht nach allgemeinen privatrechtlichen Rechtsbehelfen ein ausreichender Schutz über den schadenersatzrechtlichen Anspruch wegen Verletzung (vor-)vertraglicher Aufklärungspflichten (culpa in contrahendo) sowie uU über Anfechtung auf Grund von List (§870 ABGB) oder Irrtums (§871 ABGB).

Für jene Konstellation, in der sowohl der Bürge als auch der Gläubiger unverschuldet keine Kenntnis von der Geschäftsunfähigkeit des Schuldners hatten, weist der Gesetzgeber in §1352 ABGB das alleinige Risiko dem Bürgen zu. Die Zuweisung des wirtschaftlichen Risikos an den Bürgen liegt innerhalb des dem Gesetzgeber zustehenden rechtspolitischen Gestaltungsrahmens. Dabei ist zu berücksichtigen, dass dieses Ergebnis der grundsätzlichen, gesetzlichen Risikozuweisung bei der Bürgschaft entspricht: Entscheidet sich der Bürge privatautonom für das Eingehen einer Haftung, muss er auch damit rechnen, dass diese Haftung tatsächlich schlagend wird. Darüber hinaus ist zu berücksichtigen, dass der Bürge auch in diesem Fall nicht schutzlos ist: So kann ihm ein Regressanspruch gegen den Geschäftsunfähigen zustehen. Ob dieser Anspruch tatsächlich realisiert werden kann, betrifft das der Bürgschaft generell immanente Ausfallrisiko, das grundsätzlich der Bürge zu tragen hat.

Entscheidungstexte

Schlagworte

Zivilrecht, Geschäftsfähigkeit, Bürgschaft, Rechtspolitik, Privatautonomie, VfGH / Präjudizialität

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:VFGH:2019:G207.2018

Zuletzt aktualisiert am

16.02.2021
Quelle: Verfassungsgerichtshof VfGH, http://www.vfgh.gv.at
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