TE Vwgh Erkenntnis 2019/10/8 Ra 2019/08/0110

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Veröffentlicht am 08.10.2019
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Index

21/01 Handelsrecht
66/01 Allgemeines Sozialversicherungsgesetz

Norm

ASVG §111 Abs1
ASVG §33 Abs1
ASVG §35 Abs1
UGB §1
UGB §17

Betreff

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Bachler und die Hofräte Dr. Strohmayer und Mag. Stickler als Richter, unter Mitwirkung des Schriftführerin Klima, LL.M., über die Revision des M C in G, P, vertreten durch Mag. Johann Juster, Rechtsanwalt in 3910 Zwettl, Landstraße 21, gegen das Erkenntnis des Landesverwaltungsgerichts Niederösterreich vom 20. Mai 2019, Zl. LVwG-S-995/001-2018, betreffend Bestrafung nach dem ASVG (belangte Behörde vor dem Verwaltungsgericht: Bezirkshauptmannschaft Melk), zu Recht erkannt:

Spruch

Das angefochtene Erkenntnis wird wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufgehoben.

Der Bund hat dem Revisionswerber Aufwendungen in der Höhe von € 1.346,40 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.

Begründung

1        Mit dem in Revision gezogenen Erkenntnis hat das Landesverwaltungsgericht über den Revisionswerber gemäß § 111 Abs. 1 Z 1 iVm § 33 Abs. 1 ASVG eine Geldstrafe von € 900,-- (Ersatzfreiheitsstrafe von 138 Stunden) verhängt, weil er als Dienstgeber den D L. vom 23. Februar 2016 bis 17. Jänner 2017 als LKW-Lenker krankenversicherungspflichtig beschäftigt habe, ohne ihn vor Arbeitsantritt beim zuständigen Krankenversicherungsträger anzumelden.

2        Der Revisionswerber sei „Inhaber sowohl der Einzelfirma M. ... mit Sitz in ... W, als auch der Einzelfirma C. mit dem Sitz in ... P“. Seine österreichische Gewerbeberechtigung umfasse den grenzüberschreitenden Güterverkehr mit fünf Kraftfahrzeugen. Diese habe er „als österreichischer Unternehmer und nicht als polnischer Unternehmer“ geleast. Den verfahrensgegenständlichen Transportauftrag habe er „als österreichischer Unternehmer erhalten“. Er sei somit „vom österreichischen Unternehmen ... auf Rechnung und Gefahr des [Revisionswerbers] als österreichischer Unternehmer ... und nicht auf Rechnung und Gefahr des [Revisionswerbers] als polnischer Unternehmer“ durchgeführt worden.

3        D L. sei in Polen wohnhaft. Er habe einen Arbeitsvertrag „mit dem polnischen Unternehmen abgeschlossen“. Im angegebenen Zeitraum habe er „im österreichischen Unternehmen als Lenker gearbeitet“. Er sei am Tag seiner Betretung von Wien nach Krems unterwegs gewesen. Das Entgelt sei „seitens des polnischen Einzelunternehmens überwiesen“ worden. Die Aufwendungen hiefür seien dem Revisionswerber „als polnischer Einzelkaufmann“ vom „Revisionswerber als österreichischem Einzelkaufmann“ ersetzt worden. Nach dem gegenständlichen Zeitraum sei er vom „polnischen Einzelunternehmen beim polnischen Sozialversicherungsträger“ angemeldet worden. Das A1 Dokument beziehe sich auf den Zeitraum vom 6. Februar 2017 bis 31. Jänner 2018. Aus diesem Dokument würde sich ergeben, „dass für den verfahrensgegenständlichen Beschäftigungszeitraum eine Anmeldung ... zur polnischen Sozialversicherung nicht vorlag“.

4        Der Revisionswerber sei „als Inhaber des österreichischen Einzelunternehmens“ Dienstgeber iSd § 35 Abs. 1 ASVG. Er habe „den ihm angelasteten Tatbestand in objektiver und in subjektiver Hinsicht zu verantworten“.

5        Gemäß § 25a Abs. 1 VwGG sprach das Landesverwaltungsgericht aus, dass die Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig sei.

6        Gegen das genannte Erkenntnis des Landesverwaltungsgerichts richtet sich die außerordentliche Revision.

7        Die belangte Behörde hat keine Revisionsbeantwortung erstattet.

8        Der Verwaltungsgerichtshof hat erwogen:

9        Der Revisionswerber bringt vor, er setze seine Arbeitskräfte aus Polen in Österreich ein. Er sieht eine Rechtsfrage von grundsätzlicher Bedeutung darin, dass das Landesverwaltungsgericht eine natürliche Person (den Revisionswerber) als zwei zu unterscheidende Rechtssubjekte (und eines davon als Dienstgeber iSd § 35 ASVG) betrachtet hat.

10       Die Revision ist aus dem genannten Grund zulässig und berechtigt:

11       Bei einem Einzelunternehmen treffen die Rechte und Pflichten den Einzelkaufmann. Die Firma des Einzelkaufmannes ist keine juristische Person und damit nicht Träger von Rechten und Pflichten. Träger von Rechten und Pflichten ist die hinter einer Firma stehende Rechtspersönlichkeit, also der Einzelkaufmann (vgl. das ebenfalls den Revisionswerber betreffende Erkenntnis VwGH 23.3.2017, Ra 2017/11/0014). Die Unterscheidung zwischen einem „polnischen“ und einem „österreichischen“ Einzelunternehmen des Revisionswerbers ist daher verfehlt. Dies unbeschadet der unten relevierten Frage, wo ein Einzelkaufmann seinen Wohnsitz hat.

12       Das Landesverwaltungsgericht hat zu dem vorliegenden grenzüberschreitenden Sachverhalt die für die Ermittlung der anzuwendenden Rechtsvorschriften (insbesondere betreffend die Dienstgebereigenschaft und die Pflicht zur Anmeldung beim Krankenversicherungsträger) erforderlichen Feststellungen iSd Verordnung (EG) Nr. 883/2004 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29. April 2004 zur Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit (im Folgenden: VO 833/2004) über die Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit nicht getroffen.

13       Gemäß Art. 11 Abs. 1 VO 883/2004 unterliegen Personen, für die diese Verordnung gilt, den Rechtsvorschriften nur eines Mitgliedstaats.

14       Vorbehaltlich der Art. 12 bis 16 VO 883/2004 unterliegt eine Person, die in einem Mitgliedstaat eine Beschäftigung ausübt, gemäß Art. 11 Abs. 3 lit. a VO 883/2004 den Rechtsvorschriften dieses Mitgliedstaats.

15       Gemäß Art. 12 Abs. 1 VO 883/2004 unterliegt eine Person, die in einem Mitgliedstaat für Rechnung eines Arbeitgebers, der gewöhnlich dort tätig ist, eine Beschäftigung ausübt und die von diesem Arbeitgeber in einen anderen Mitgliedstaat entsandt wird, um dort eine Arbeit für dessen Rechnung auszuführen, weiterhin den Rechtsvorschriften des ersten Mitgliedstaats, sofern die voraussichtliche Dauer dieser Arbeit 24 Monate nicht überschreitet und diese Person nicht eine andere entsandte Person ablöst.

16       Art. 13 Abs. 1 VO 883/2004 lautet auszugsweise samt Überschrift:

„Artikel 13

Ausübung von Tätigkeiten in zwei oder mehr Mitgliedstaaten

(1) Eine Person, die gewöhnlich in zwei oder mehr Mitgliedstaaten eine Beschäftigung ausübt, unterliegt:

a)   den Rechtsvorschriften des Wohnmitgliedstaats, wenn sie dort einen wesentlichen Teil ihrer Tätigkeit ausübt, oder

b)   wenn sie im Wohnmitgliedstaat keinen wesentlichen Teil ihrer Tätigkeit ausübt,

i)   den Rechtsvorschriften des Mitgliedstaats, in dem das Unternehmen oder der Arbeitgeber seinen Sitz oder Wohnsitz hat, sofern sie bei einem Unternehmen bzw. einem Arbeitgeber beschäftigt ist, ...“

17       Art. 14 der Verordnung (EG) Nr. 987/2009 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16. September 2009 zur Festlegung der Modalitäten für die Durchführung der Verordnung (EG) Nr. 883/2004 über die Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit lautet auszugsweise samt Überschrift:

„Artikel 14

Nähere Vorschriften zu den Artikeln 12 und 13 der Grundverordnung

(1) Bei der Anwendung von Artikel 12 Absatz 1 der Grundverordnung umfassen die Worte ‚eine Person, die in einem Mitgliedstaat für Rechnung eines Arbeitgebers, der gewöhnlich dort tätig ist, eine Beschäftigung ausübt und die von diesem Arbeitgeber in einen anderen Mitgliedstaat entsandt wird‘ auch eine Person, die im Hinblick auf die Entsendung in einen anderen Mitgliedstaat eingestellt wird, vorausgesetzt die betreffende Person unterliegt unmittelbar vor Beginn ihrer Beschäftigung bereits den Rechtsvorschriften des Mitgliedstaats, in dem das Unternehmen, bei dem sie eingestellt wird, seinen Sitz hat.

(2) Bei der Anwendung von Artikel 12 Absatz 1 der Grundverordnung beziehen sich die Worte ‚der gewöhnlich dort tätig ist‘ auf einen Arbeitgeber, der gewöhnlich andere nennenswerte Tätigkeiten als reine interne Verwaltungstätigkeiten auf dem Hoheitsgebiet des Mitgliedstaats, in dem das Unternehmen niedergelassen ist, ausübt, unter Berücksichtigung aller Kriterien, die die Tätigkeit des betreffenden Unternehmens kennzeichnen; die maßgebenden Kriterien müssen auf die Besonderheiten eines jeden Arbeitgebers und die Eigenart der ausgeübten Tätigkeiten abgestimmt sein.

(...)

(5) Bei der Anwendung von Artikel 13 Absatz 1 der Grundverordnung beziehen sich die Worte ‚eine Person, die gewöhnlich in zwei oder mehr Mitgliedstaaten eine Beschäftigung ausübt‘ auf eine Person, die gleichzeitig oder abwechselnd für dasselbe Unternehmen oder denselben Arbeitgeber oder für verschiedene Unternehmen oder Arbeitgeber eine oder mehrere gesonderte Tätigkeiten in zwei oder mehr Mitgliedstaaten ausübt.

(5a) Für die Zwecke der Anwendung des Titels II der Grundverordnung beziehen sich die Worte ‚Sitz oder Wohnsitz‘ auf den satzungsmäßigen Sitz oder die Niederlassung, an dem/der die wesentlichen Entscheidungen des Unternehmens getroffen und die Handlungen zu dessen zentraler Verwaltung vorgenommen werden.

(...)

(5b) Für die Bestimmung der anzuwendenden Rechtsvorschriften nach Artikel 13 der Grundverordnung werden marginale Tätigkeiten nicht berücksichtigt. Artikel 16 der Durchführungsverordnung gilt für alle Fälle gemäß diesem Artikel.

(...)

(7) Um die Tätigkeiten nach den Absätzen 5 und 6 von den in Artikel 12 Absätze 1 und 2 der Grundverordnung beschriebenen Situationen zu unterscheiden, ist die Dauer der Tätigkeit in einem oder weiteren Mitgliedstaaten (ob dauerhaft, kurzfristiger oder vorübergehender Art) entscheidend. Zu diesem Zweck erfolgt eine Gesamtbewertung aller maßgebenden Fakten, einschließlich insbesondere, wenn es sich um einen Arbeitnehmer handelt, des Arbeitsortes, wie er im Arbeitsvertrag definiert ist.

(8) Bei der Anwendung von Artikel 13 Absätze 1 und 2 der Grundverordnung bedeutet die Ausübung ‚eines wesentlichen Teils der Beschäftigung oder selbständigen Erwerbstätigkeit‘ in einem Mitgliedstaat, dass der Arbeitnehmer oder Selbständige dort einen quantitativ erheblichen Teil seiner Tätigkeit ausübt, was aber nicht notwendigerweise der größte Teil seiner Tätigkeit sein muss.

Um festzustellen, ob ein wesentlicher Teil der Tätigkeit in einem Mitgliedstaat ausgeübt wird, werden folgende Orientierungskriterien herangezogen:

a)   im Falle einer Beschäftigung die Arbeitszeit und/oder das Arbeitsentgelt und

b)   im Falle einer selbständigen Erwerbstätigkeit der Umsatz, die Arbeitszeit, die Anzahl der erbrachten Dienstleistungen und/oder das Einkommen.

Wird im Rahmen einer Gesamtbewertung bei den genannten Kriterien ein Anteil von weniger als 25 % erreicht, so ist dies ein Anzeichen dafür, dass ein wesentlicher Teil der Tätigkeit nicht in dem entsprechenden Mitgliedstaat ausgeübt wird.

(...)

(10) Für die Festlegung der anzuwendenden Rechtsvorschriften nach den Absätzen 8 und 9 berücksichtigen die betroffenen Träger die für die folgenden 12 Kalendermonate angenommene Situation.

(11) (...).“

18       Hinweise zur Auslegung dieser Bestimmungen sind dem - für die Gerichte nicht bindenden - Beschluss Nr. A2 vom 12. Juni 2009 der Verwaltungskommission für die Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit zur Auslegung des Art. 12 der Verordnung (EG) Nr. 883/2004 hinsichtlich der auf entsandte Arbeitnehmer sowie auf Selbständige, die vorübergehend eine Tätigkeit in einem anderen als dem zuständigen Mitgliedstaat ausüben, anzuwendenden Rechtsvorschriften sowie dem von der Verwaltungskommission beschlossenen Praktischen Leitfaden zum anwendbaren Recht in der EU, im EWR und in der Schweiz, Teil II: Ausübung einer Tätigkeit in zwei oder mehreren Mitgliedstaaten, zu entnehmen.

19       Das Landesverwaltungsgericht wird im fortzusetzenden Verfahren iSd zitierten Rechtsgrundlagen Feststellungen insbesondere darüber zu treffen haben, ob Dariusz L. im gegenständlichen Zeitraum eine Beschäftigung nur in einem Mitgliedstaat oder gewöhnlich in zwei oder mehreren Mitgliedstaaten ausgeübt hat und gegebenenfalls, ob er einen wesentlichen Teil seiner Tätigkeit in seinem Wohnmitgliedstaat Polen ausgeübt bzw. wo der Revisionswerber (Arbeitgeber) seinen Sitz oder Wohnsitz gehabt hat.

20       Das angefochtene Erkenntnis war gemäß § 42 Abs. 2 Z 1 VwGG wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufzuheben.

21       Die Zuerkennung von Aufwandersatz beruht auf den §§ 47 ff VwGG iVm der Verordnung BGBl. II Nr. 455/2008.

Wien, am 8. Oktober 2019

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:VWGH:2019:RA2019080110.L00

Im RIS seit

16.11.2021

Zuletzt aktualisiert am

16.11.2021
Quelle: Verwaltungsgerichtshof VwGH, http://www.vwgh.gv.at
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