TE Bvwg Erkenntnis 2019/9/4 W103 2221750-1

JUSLINE Entscheidung

Veröffentlicht am 04.09.2019
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Entscheidungsdatum

04.09.2019

Norm

AsylG 2005 §57
AsylG 2005 §7 Abs1 Z2
AsylG 2005 §7 Abs4
AsylG 2005 §8
BFA-VG §9 Abs3
B-VG Art. 133 Abs4
FPG §52
FPG §54
FPG §55

Spruch

W103 2221750-1/2E

IM NAMEN DER REPUBLIK!

Das Bundesverwaltungsgericht hat durch den Richter Mag. AUTTRIT als Einzelrichter über die Beschwerde von XXXX , geb. XXXX , StA. Russische Föderation, vertreten durch die XXXX , gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 25.06.2019, Zl. 733385406/190490476, zu Recht erkannt:

A)

I. Die Beschwerde gegen die Spruchpunkte I. bis III. wird gemäß den §§ 7 Abs. 1 Z 2 und Abs. 4, 8, 57 AsylG 2005 idgF als unbegründet abgewiesen.

II. In Stattgabe der Beschwerde gegen die Spruchpunkte IV. bis VI. wird ausgesprochen, dass eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 FPG 2005 idgF iVm § 9 Abs. 3 BFA-VG idgF auf Dauer unzulässig ist. Gemäß §§ 54 und 55 AsylG 2005 wird XXXX der Aufenthaltstitel "Aufenthaltsberechtigung" erteilt.

B)

Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.

Text

ENTSCHEIDUNGSGRÜNDE:

I. Verfahrensgang:

1. Dem Beschwerdeführer, einem damals minderjährigen Staatsangehörigen der Russischen Föderation, wurde mit rechtskräftigem Bescheid des Bundesasylamtes vom 09.02.2004, Zahl 03 33.854-BAT, gemäß § 11 Abs. 1 AsylG 1997 durch Erstreckung Asyl in Österreich gewährt und gemäß § 12 AsylG 1997 festgestellt, dass diesem damit kraft Gesetzes die Flüchtlingseigenschaft zukommt, nachdem er zuvor gemeinsam mit seinen Eltern und Geschwistern illegal in das Bundesgebiet eingereist war und durch seine damalige gesetzliche Vertreterin am 30.10.2003 einen Asylerstreckungsantrag gestellt hatte.

2. Aus einem polizeilichen Abschlussbericht vom 28.03.2019 ergibt sich, dass gegen den - zwischenzeitig volljährigen - Beschwerdeführer wegen des Verdachts auf Nötigung, schwere Nötigung sowie gefährliche Drohung zum Nachteil unterschiedlicher Personen ermittelt wurde.

Mit Urteil des Landesgerichts XXXX vom XXXX wurde der Beschwerdeführer wegen des Verbrechens der schweren Körperverletzung nach § 84 Abs. 5 Z 2 StGB zu einer Freiheitstrafe in der Dauer von vier Monaten sowie einer Geldstrafe von 250 Tagsätzen, im Falle der Uneinbringlichkeit zu einer Ersatzfreiheitsstrafe von 125 Tagen, verurteilt, wobei ihm die verhängte Freiheitsstrafe unter Bestimmung einer dreijährigen Probezeit bedingt nachgesehen wurde.

3. Mit Aktenvermerk vom 14.05.2019 leitete das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl ein Verfahren zur Aberkennung des Status des Asylberechtigten wegen geänderter Verhältnisse im Herkunftsstaat ein. Mit Schreiben vom 31.05.2019 informierte das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl den Beschwerdeführer über das gegen seine Person eingeleitete Aberkennungsverfahren und gewährte ihm die Möglichkeit, zu näher angeführten Fragestellungen hinsichtlich seiner Befürchtungen für den Fall einer Rückkehr in die Russische Föderation sowie seiner Lebensumstände in Österreich binnen Frist schriftlich Stellung zu beziehen.

Im Rahmen einer am 17.06.2019 eingebrachten Stellungnahme führte der Beschwerdeführer zusammengefasst aus, er befürchte, im Falle einer Rückkehr auf Ablehnung der Bevölkerung zu stoßen, da es Vorurteile gegen in Europa ansässige Gruppen gebe; desweiteren habe er Angst, unter dem Führungsstil Tschetscheniens sowie unter einem möglichen Krieg und sozialem Notstand zu leiden. Er habe keine Angehörigen mehr im Herkunftsstaat. In Österreich führe er eine Lebensgemeinschaft mit einer namentlich genannten Frau, er habe keine Kinder. Seine Mutter und seine gesamte Familie befänden sich in Österreich, der Beschwerdeführe spreche fließend Deutsch. Der Beschwerdeführer habe einen guten Hauptschulabschluss und habe sich auch in einer höheren Schule versucht. Er ginge keiner Arbeit nach, würde jedoch gerne eine Lehrstelle finden. Seinen Lebensunterhalt bestreite er durch familiäre Unterstützung. Derzeit besuche er keine Kurse, jedoch habe er sich in der Vergangenheit sozial engagiert. Sein strafrechtswidriges Verhalten bereue er sehr. Seine Lebensgefährtin sei bedroht worden und er habe diese aus Gründen der Liebe beschützen wollen, habe jedoch aus einer Kurzschlussreaktion die falsche Entscheidung getroffen. Er habe aus seinen Fehlern gelernt und werde es nie wieder tun.

4. Mit dem nunmehr angefochtenen Bescheid vom 25.06.2019 wurde dem Beschwerdeführer in Spruchteil I. der ihm mit Bescheid vom 09.02.2004 zuerkannte Status des Asylberechtigten gemäß § 7 Abs. 1 Z 2 AsylG 2005 idgF aberkannt. Gemäß § 7 Abs. 4 AsylG wurde festgestellt, dass diesem die Flüchtlingseigenschaft nicht mehr zukomme. In Spruchteil II. wurde dem Beschwerdeführer gemäß § 8 Abs. 1 Z 2 AsylG 2005 der Status des subsidiär Schutzberechtigten nicht zuerkannt, weiters wurde ihm in Spruchteil III. ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen gemäß § 57 AsylG 2005 nicht erteilt. Darüber hinaus wurde gegen den Beschwerdeführer gemäß § 10 Abs. 1 Z 4 AsylG iVm § 9 BFA-VG idgF eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs. 2 Z 3 FPG idgF erlassen (Spruchpunkt IV.), gemäß § 52 Abs. 9 FPG festgestellt, dass die Abschiebung in die Russische Föderation gemäß § 46 FPG zulässig sei (Spruchpunkt V.) und die Frist für die freiwillige Ausreise gemäß § 55 Abs. 1 bis 3 FPG 14 Tage ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung betrage (Spruchpunkt VI.).

Die Entscheidung über die Aberkennung des Status des Asylberechtigten wurde darauf gestützt, dass der Beschwerdeführer im Falle einer Rückkehr in sein Heimatland keine Gefährdungs- oder Bedrohungslage zu befürchten hätte und er eine aktuelle Furcht vor Verfolgung in der Russischen Föderation nicht habe glaubhaft machen können. In Anbetracht der Vielzahl an Rückkehrern aus dem Ausland und deren Möglichkeiten, sich im Heimatland wieder anzusiedeln, lasse sich kein Grund feststellen, der gerade im Fall des Beschwerdeführers eine solche Rückkehr unmöglich erscheinen ließe, zumal er keine diesbezügliche Begründung abgegeben hätte. Seinem Aufenthalt in Europa lasse sich keine besondere Gefährdungslage entnehmen. Auch die Stellung eines Asylantrages im Ausland führe nicht für sich genommen zu einer Verfolgung. Dem Beschwerdeführer sei der Status des Asylberechtigten im Wege der Erstreckung zuerkannt worden, eine individuelle Verfolgung seiner Person habe demnach nicht festgestellt werden können. Aus dem Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichts vom 03.07.2017, Zahl L515 1235454-3, ergebe sich, dass sich eine Person nicht auf ein gemäß § 34 AsylG zu führendes Familienverfahren berufen könne, wenn sie aufgrund von Straffälligkeit hiervon gemäß Abs. 3 Z 1 leg.cit. ausdrücklich ausgeschlossen sei.

Der Beschwerdeführer habe keine glaubhaften Gründe vorgebracht, die ein Leben in der Russischen Föderation für ihn unzumutbar darstellen würden. Dieser könnte seinen Lebensunterhalt in der Russischen Föderation als junger gesunder Mann im erwerbsfähigen Alter bestreiten und würde ebendort Arbeitsmöglichkeiten vorfinden. Auch könnte er auf Unterstützung durch seine in Österreich lebende Familie zurückgreifen. Da er im Kreise seiner Familie aufgewachsen sei, sei davon auszugehen, dass er mit den Gebräuchen und Gepflogenheiten seines Herkunftsstaates vertraut sei und ihm eine Wiedereingliederung problemlos möglich sein werde. Dieser leide an keinen lebensbedrohlichen Erkrankungen und sei arbeitsfähig. Es hätten seitens der Behörde keine exzeptionellen Umstände erkannt werden können, die einer in Art. 2 und/oder Art. 3 EMRK genannten Gefährdung gleichzuhalten wären und es habe nicht festgestellt werden können, dass der Beschwerdeführer im Herkunftsstaat einer unmenschlichen Behandlung ausgesetzt sein werde.

Gründe für die Erteilung eines Aufenthaltstitels gemäß § 57 AsylG hätten sich im Verfahren nicht ergeben.

Die Eltern und Geschwister des Beschwerdeführers seien in Österreich asylberechtigt. Der Beschwerdeführer lebe in einem gemeinsamen Haushalt mit seiner Mutter und seinen vier Geschwistern. Dieser führe eine Beziehung mit einer österreichischen Staatsangehörigen, mit welcher er nicht im gemeinsamen Haushalt wohne. Der Beschwerdeführer spreche Deutsch, ginge keiner Arbeit nach und weise eine rechtskräftige Verurteilung wegen schwerer Körperverletzung auf. Der Eingriff in das Familien- und Privatleben des Beschwerdeführers erweise sich insofern als gerechtfertigt, als bei einer Abwägung seiner familiären und privaten Interessen mit jenen der Öffentlichkeit zu Gunsten der Allgemeinheit und zur Sicherung des rechtskonformen Miteinanders zu entscheiden sei, da der Beschwerdeführer wegen eines schweren Verbrechens rechtskräftig verurteilt worden sei. Besonders erschwerend zu bemessen sei gewesen, dass der Beschwerdeführer die Straftat mit zahlreichen Mittätern begangen und das Opfer zum Tatzeitpunkt psychisch massiv unter Druck gesetzt hätte. Dies lasse die kriminelle Energie des Beschwerdeführers erkennen. Die Tatsache, dass er sein Opfer zuerst an einen bestimmten Ort gelockt hätte, folglich unvermittelt auf dieses losgegangen sei und somit Gewaltanwendung billigend in Kauf genommen hätte, verstärke die Feststellung, dass er durch seine Handlungen die Allgeneinheit bedrohe. Wie dem Abschlussbericht einer Polizeiinspektion vom 28.03.2019 zu entnehmen sei, solle der Beschwerdeführer mehrere gefährliche Drohungen sowie Nötigungen an unterschiedlichen Personen verübt haben. Mit den Anzeigen wegen mehrfacher Nötigung sowie mehrfacher gefährlicher Drohung und der Verurteilung wegen schwerer Körperverletzung stelle eine Fortsetzung des Aufenthalts des Beschwerdeführers im Bundesgebiet eine besondere Gefahr für die Allgemeinheit dar.

Der dargestellte Bescheid wurde dem Beschwerdeführer am 04.07.2019 durch Hinterlegung zugestellt.

5. Mit am 22.07.2019 beim Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl eingelangtem Schriftsatz wurde durch die nunmehr bevollmächtigte Rechtsberatungsorganisation fristgerecht die verfahrensgegenständliche Beschwerde wegen inhaltlicher Rechtswidrigkeit und Verletzung von Verfahrensvorschriften eingebracht. Begründend wurde im Wesentlichen ausgeführt, der Beschwerdeführer sei im Jahr 2003 ins Bundesgebiet eingereist, spreche perfekt Deutsch und lebe mit seiner Familie in Österreich. Er führe eine Beziehung zu einer österreichischen Staatsangehörigen und wolle mit dieser zusammenziehen. Darüber hinaus habe er im Bundesgebiet die Schule besucht und im Sommer 2019 den Abschluss gemacht. Derzeit sei er auf Arbeitssuche. In den vorangegangenen Ferien habe er in einer Metallwerkstatt sowie bei der XXXX gearbeitet. Der Beschwerdeführer sei in Österreich sozialisiert worden und sei hier bestens integriert. Dieser verfüge über zahlreiche Freunde und Bekannte in Österreich; im Herkunftsstaat, den er im Alter von drei Jahren verlassen hätte, kenne er hingegen niemanden. Dem Beschwerdeführer drohe in der Russischen Föderation der sichere Tod; sein Onkel sei nach wie vor von den tschetschenischen Milizen verfolgt, dies könnte auch den Beschwerdeführer treffen. Die Behörde habe ein grob mangelhaftes Ermittlungsverfahren geführt, da sie den Beschwerdeführer im Vorfeld der Aberkennung des Asylstatus nicht einvernommen hätte. Die Gründe, welche zur Zuerkennung des Asylstatus geführt hätten, wären nach wie vor aktuell, die Behörde hätte sich zudem einen persönlichen Eindruck verschaffen müssen. Im Verfahren sei der Grundsatz des Parteiengehörs verletzt worden, zumal er vor Erlass einer aufenthaltsbeendenden Maßnahme nicht persönlich gehört worden sei. Der Beschwerdeführer lebe seit fast sechzehn Jahren in Österreich und sei von seiner Heimat völlig entfremdet. Der Beschwerdeführer bereue die von ihm begangene Tat sehr und sei bemüht, künftig ein straffreies Leben zu führen. Die Behörde habe sich in keiner Weise mit den ursprünglichen Fluchtgründen des Beschwerdeführers und seiner Familie befasst. Entgegen der Annahme der Behörde, wäre es der Familie des Beschwerdeführers nicht möglich, diesem Geld in die Russische Föderation zu schicken. Die im angefochtenen Bescheid getroffenen Länderfeststellungen seien unvollständig und teilweise veraltet; diese würden zwar allgemeine Aussagen beinhalten, sich jedoch kaum mit der Lage des Beschwerdeführers als alleinstehendem jungem Rückkehrer nach jahrzehntelanger Abwesenheit und Sozialisierung in Österreich befassen. Verschiedene näher angeführte Berichte würden die prekäre Menschenrechtslage und unzureichende Gesundheitsversorgung in der Russischen Föderation belegen. Das Bundesamt habe nicht näher ermittelt, ob für den Beschwerdeführer unter Berücksichtigung seiner persönlichen Lebensumstände und der derzeitigen Verhältnisse in der Russischen Föderation tatsächlich eine innerstaatliche Fluchtalternative existiere. Sehe man sich die Verurteilung des Beschwerdeführers näher an, sei erkennbar, dass dieser keine schwere Straftat begangen hätte und keine besondere Gefahr von diesem ausginge. Beim von diesem begangenen Delikt handle es sich bloß um ein Vergehen, welches zur Verhängung einer bedingten Freiheitsstrafe geführt hätte.

6. Im Rahmen einer Stellungnahme vom 24.07.2019 führte das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl aus, der Beschwerdeführer habe von der Möglichkeit mündlichen Parteiengehörs keinen Gebrauch gemacht und hätte sehr wohl über die Möglichkeit verfügt, etwaige aktuelle Rückkehrbefürchtungen im Rahmen des schriftlichen Parteiengehörs darzulegen. Die Feststellungen und die Beweiswürdigung zur Person und zu den Fluchtgründen des Beschwerdeführers seien individuell und stringent formuliert worden und seien eindeutig nachvollziehbar. Aufgrund dessen sei der Vorhalt eines groben Verfahrensmangels hinsichtlich einer fehlenden Einvernahme klar zurückzuweisen. Es wurde beantragt, die Beschwerde in allen Punkten als unbegründet abzuweisen. Die Beschwerdevorlage des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl langte am 26.07.2019 beim Bundesverwaltungsgericht ein.

II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:

1. Feststellungen:

1.1. Der volljährige Beschwerdeführer ist Staatsangehöriger der Russischen Föderation, welcher aus der Teilrepublik Tschetschenien stammt und sich zum moslemischen Glauben bekennt. Der damals minderjährige Beschwerdeführer reiste im Jahr 2003 gemeinsam mit seinen Eltern und Geschwistern illegal in das Bundesgebiet ein und stellte durch seine gesetzliche Vertreterin am 30.10.2003 einen Antrag auf Asylerstreckung. Mit Bescheid des Bundesasylamtes vom 09.02.2004, Zahl 03 33.854-BAT, wurde dem Beschwerdeführer gemäß § 11 AsylG 1997 im Wege der Erstreckung (bezogen auf das Verfahren seines Vaters) der Status eines Asylberechtigten zuerkannt.

1.2. Nicht festgestellt werden kann, dass der Beschwerdeführer in Tschetschenien respektive der Russischen Föderation aus Gründen der Rasse, der Religion, der Nationalität, der Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder wegen seiner politischen Ansichten bedroht wäre. Im Entscheidungszeitpunkt konnte keine aktuelle Gefährdung des Beschwerdeführers in der Russischen Föderation festgestellt werden.

Ebenfalls nicht festgestellt werden kann, dass der Beschwerdeführer im Fall seiner Zurückweisung, Zurückschiebung oder Abschiebung nach Tschetschenien respektive in die Russische Föderation in seinem Recht auf Leben gefährdet, der Folter oder unmenschlicher oder erniedrigender Strafe oder Behandlung unterworfen oder von der Todesstrafe bedroht wäre. Der Beschwerdeführer liefe dort nicht Gefahr, grundlegende und notwendige Lebensbedürfnisse wie Nahrung, Kleidung sowie Unterkunft nicht befriedigen zu können und in eine ausweglose bzw. existenzbedrohende Situation zu geraten. Der Beschwerdeführer, welcher sein Heimatland im Alter von zwei Jahren verlassen hat, leidet an keinen schwerwiegenden oder lebensbedrohlichen Erkrankungen und ist zu einer eigenständigen Bestreitung seines Lebensunterhaltes in der Lage.

1.3. Mit Urteil des Landesgerichts XXXX vom XXXX wurde der Beschwerdeführer wegen des Verbrechens der schweren Körperverletzung nach § 84 Abs. 5 Z 2 StGB zu einer Freiheitstrafe in der Dauer von vier Monaten sowie einer Geldstrafe von 250 Tagsätzen, im Falle der Uneinbringlichkeit zu einer Ersatzfreiheitsstrafe von 125 Tagen, verurteilt, wobei ihm die verhängte Freiheitsstrafe unter Bestimmung einer dreijährigen Probezeit bedingt nachgesehen wurde.

Der Verurteilung lag zugrunde, dass der Beschwerdeführer im Jänner 2019 in verabredeter Verbindung mit zumindest zwei unbekannten Mittätern einen namentlich genannten jungen Mann, nachdem sie ihn via Snapchat zu einem Fußballplatz gelockt hatten, durch das Versetzen von Faustschlägen und Fußtritten im Bereich des Gesichts, der Hände und des Rückens am Körper verletzt hat, indem das Opfer Prellungen des Nasenbeins sowie des linken Ring- und Mittelfingers erlitt.

1.4. Der im Alter von zwei Jahren ins Bundesgebiet eingereiste Beschwerdeführer hält sich seit rund sechzehn Jahren durchgehend in Österreich auf, hat hier die Schule besucht und den Hauptschulabschluss erlangt. Der Beschwerdeführer beherrscht die deutsche Sprache und lebt im Bundesgebiet in einer gemeinsamen Wohnung mit seiner Mutter und seinen Geschwistern, welche ebenfalls den Status von Asylberechtigten innehaben. Er führt eine Beziehung mit einer österreichischen Staatsangehörigen, mit welcher er in keinem gemeinsamen Haushalt wohnt. Der Beschwerdeführer ist in Österreich aufgewachsen und verfügt hier über seinen Lebensmittelpunkt, wohingegen er zu seinem Herkunftsstaat keine nennenswerten Bindungen mehr aufweist.

Es kann nicht erkannt werden, dass der Beschwerdeführer die Dauer seines mittlerweile rund sechzehnjährigen, rechtmäßigen, Aufenthalts im Bundesgebiet überhaupt nicht zur Integration genutzt hätte oder durch einen weiteren Aufenthalt eine Gefährdung der öffentlichen Ordnung und Sicherheit entstehen würde.

1.5. Insbesondere zur allgemeinen Situation und Sicherheitslage, zur allgemeinen Menschenrechtslage, zu Grundversorgung und Wirtschaft sowie zur Lage von Rückkehrern in der Russischen Föderation wird unter Heranziehung der erstinstanzlichen Länderfeststellungen Folgendes festgestellt:

...

Bewegungsfreiheit bzw. Tschetschenen in der Russischen Föderation außerhalb Tschetscheniens.

Bekanntlich werden innerstaatliche Fluchtmöglichkeiten innerhalb Russlands seitens renommierter Menschenrechtseinrichtungen meist unter Verweis auf die Umtriebe der Schergen des tschetschenischen Machthabers Kadyrow im ganzen Land in Abrede gestellt. Der medialen Berichterstattung zufolge scheint das Netzwerk von Kadyrow auch in der tschetschenischen Diaspora im Ausland tätig zu sein. Dem ist entgegenzuhalten, dass renommierte Denkfabriken auf die hauptsächlich ökonomischen Gründe für die Migration aus dem Nordkaukasus und die Grenzen der Macht von Kadyrow außerhalb Tschetscheniens hinweisen. So sollen laut einer Analyse des Moskauer Carnegie-Zentrums die meisten Tschetschenen derzeit aus rein ökonomischen Gründen emigrieren: Tschetschenien bleibe zwar unter der Kontrolle von Kadyrow, seine Macht reiche allerdings nicht über die Grenzen der Teilrepublik hinaus. Zur Förderung der sozio-ökonomischen Entwicklung des Nordkaukasus dient ein eigenständiges Ministerium, das sich dabei gezielt um die Zusammenarbeit mit dem Ausland bemüht (ÖB Moskau 10.10.2018).

Quellen:

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ÖB Moskau (10.10.2018): Information per Email

Rechtsschutz / Justizwesen

Die russischen Behörden zeigen sich durchaus bemüht, den Vorwürfen der Verfolgung von bestimmten Personengruppen in Tschetschenien nachzugehen. Bei einem Treffen mit Präsident Putin Anfang Mai 2017 betonte die russische Ombudsfrau für Menschenrechte allerdings, dass zur Inanspruchnahme von staatlichem Schutz eine gewisse Kooperationsbereitschaft der mutmaßlichen Opfer erforderlich sei. Das von der Ombudsfrau Moskalkova gegenüber Präsident Putin genannte Gesetz sieht staatlichen Schutz von Opfern, Zeugen, Experten und anderen Teilnehmern von Strafverfahren sowie deren Angehörigen vor. Unter den Schutzmaßnahmen sind im Gesetz Bewachung der betroffenen Personen und deren Wohnungen, strengere Schutzmaßnahmen in Bezug auf die personenbezogenen Daten der Betroffenen sowie vorläufige Unterbringung an einem sicheren Ort vorgesehen. Wenn es sich um schwere oder besonders schwere Verbrechen handelt, sind auch Schutzmaßnahmen wie Umsiedlung in andere Regionen, Ausstellung neuer Dokumente, Veränderung des Aussehens etc. möglich. Die Möglichkeiten des russischen Staates zum Schutz von Teilnehmern von Strafverfahren beschränken sich allerdings nicht nur auf den innerstaatlichen Bereich. So wurde im Rahmen der GUS ein internationales Abkommen über den Schutz von Teilnehmern im Strafverfahren erarbeitet, das im Jahr 2006 in Minsk unterzeichnet, im Jahr 2008 von Russland ratifiziert und im Jahr 2009 in Kraft getreten ist. Das Dokument sieht vor, dass die Teilnehmerstaaten einander um Hilfe beim Schutz von Opfern, Zeugen und anderen Teilnehmern von Strafverfahren ersuchen können. Unter den Schutzmaßnahmen sind vorläufige Unterbringungen an einem sicheren Ort in einem der Teilnehmerstaaten, die Umsiedlung der betroffenen Personen in einen der Teilnehmerstaaten, etc. vorgesehen (ÖB Moskau 10.10.2018).

Quellen:

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ÖB Moskau (10.10.2018): Information per Email

1. Politische Lage

Die Russische Föderation hat ca. 143 Millionen Einwohner (CIA 12.7.2018, vgl. GIZ 7.2018c). Russland ist eine Präsidialdemokratie mit föderativem Staatsaufbau. Der Präsident verfügt über weit reichende exekutive Vollmachten, insbesondere in der Außen- und Sicherheitspolitik (GIZ 7.2018a, vgl. EASO 3.2017). Er ernennt auf Vorschlag der Staatsduma den Vorsitzenden der Regierung, die stellvertretenden Vorsitzenden und die Minister und entlässt sie (GIZ 7.2018a). Wladimir Putin ist im März 2018, bei der Präsidentschaftswahl im Amt mit 76,7% bestätigt worden. Die Wahlbeteiligung lag der Nachrichtenagentur TASS zufolge bei knapp 67% und erfüllte damit nicht ganz die Erwartungen der Präsidialadministration (Standard.at 19.3.2018). Putins wohl ärgster Widersacher Alexej Nawalny durfte nicht bei der Wahl kandidieren. Er war zuvor in einem von vielen als politisch motivierten Prozess verurteilt worden und rief daraufhin zum Boykott der Abstimmung auf, um die Wahlbeteiligung zu drücken (Presse.at 19.3.2018). Oppositionelle Politiker und die Wahlbeobachtergruppe Golos hatten mehr als 2.400 Verstöße gezählt, darunter mehrfach abgegebene Stimmen und die Behinderung von Wahlbeobachtern. Wähler waren demnach auch massiv unter Druck gesetzt worden, um an der Wahl teilzunehmen. Auch die Wahlkommission wies auf mutmaßliche Manipulationen hin (Tagesschau.de 19.3.2018, FH 1.2018). Putin kann dem Ergebnis zufolge nach 18 Jahren an der Staatsspitze weitere sechs Jahre das Land führen. Gemäß der Verfassung darf er nach dem Ende seiner sechsjährigen Amtszeit nicht erneut antreten, da es eine Beschränkung auf zwei aufeinander folgende Amtszeiten gibt (Tagesschau.de 19.3.2018, vgl. OSCE/ODIHR 18.3.2018).

Die Verfassung wurde per Referendum am 12.12.1993 mit 58,4% der Stimmen angenommen. Sie garantiert die Menschen- und Bürgerrechte. Das Prinzip der Gewaltenteilung ist zwar in der Verfassung verankert, jedoch verfügt der Präsident über eine Machtfülle, die ihn weitgehend unabhängig regieren lässt. Er ist Oberbefehlshaber der Streitkräfte, trägt die Verantwortung für die Innen- und Außenpolitik und kann die Gesetzentwürfe des Parlaments blockieren. Die Regierung ist dem Präsidenten untergeordnet, der den Premierminister mit Zustimmung der Staatsduma ernennt. Das Parlament - Staatsduma und Föderationsrat - ist in seinem Einfluss stark beschränkt. Der Föderationsrat ist als "obere Parlamentskammer" das Verfassungsorgan, das die Föderationssubjekte auf föderaler Ebene vertritt. Er besteht aus 178 Abgeordneten: Jedes Föderationssubjekt entsendet je einen Vertreter aus der Exekutive und Legislative in den Föderationsrat. Die Staatsduma mit 450 Sitzen wird für vier Jahre nach dem Verhältniswahlrecht auf der Basis von Parteilisten gewählt. Es gibt eine Siebenprozentklausel. Wichtige Parteien sind die regierungsnahen Einiges Russland (Jedinaja Rossija) mit 1,9 Millionen Mitgliedern und Gerechtes Russland (Spravedlivaja Rossija) mit 400.000 Mitgliedern. Die Kommunistische Partei der Russischen Föderation (KPRF) mit 150.000 Mitgliedern, die die Nachfolgepartei der früheren KP ist. Die Liberaldemokratische Partei (LDPR) mit 185.000 Mitgliedern, die populistisch und nationalistisch ausgerichtet ist, die Wachstumspartei (Partija Rosta), die sich zum Neoliberalismus bekennt; Jabloko, eine demokratisch-liberale Partei mit 55.000 Mitgliedern, die Patrioten Russlands (Patrioty Rossii), linkszentristisch, mit 85.000 Mitgliedern, die Partei der Volksfreiheit (PARNAS) und die demokratisch-liberale Partei mit 58.000 Mitgliedern (GIZ 7.2018a). Die Zusammensetzung der Staatsduma nach Parteimitgliedschaft gliedert sich wie folgt: Einiges Russland (339 Sitze), Kommunistische Partei Russlands (42 Sitze), Liberaldemokratische Partei Russlands (40 Sitze), Gerechtes Russland (23 Sitze), Vaterland-Partei (1 Sitz), Bürgerplattform (1 Sitz) (AA 5.2018b).

Russland ist eine Föderation, die aus 85 Föderationssubjekten (einschließlich der international umstrittenen Einordnung der Republik Krim und der Stadt föderalen Ranges, Sewastopol) mit unterschiedlichem Autonomiegrad besteht. Die Föderationssubjekte (Republiken, Autonome Gebiete, Autonome Kreise, Gebiete, Regionen und Föderale Städte) verfügen über jeweils eine eigene Legislative und Exekutive (GIZ 7.2018a, vgl. AA 5.2018b). Die Gouverneure der Föderationssubjekte werden auf Vorschlag der jeweils stärksten Fraktion der regionalen Parlamente vom Staatspräsidenten ernannt. Dabei wählt der Präsident aus einer Liste dreier vorgeschlagener Kandidaten den Gouverneur aus (GIZ 7.2018a).

Es wurden acht Föderationskreise (Nordwestrussland, Zentralrussland, Südrussland, Nordkaukasus, Wolga, Ural, Sibirien, Ferner Osten) geschaffen, denen jeweils ein Bevollmächtigter des Präsidenten vorsteht. Der Staatsrat der Gouverneure tagt unter Leitung des Präsidenten und gibt der Exekutive Empfehlungen zu aktuellen politischen Fragen und zu Gesetzesprojekten. Nach der Eingliederung der Republik Krim und der Stadt Sewastopol in die Russische Föderation wurde am 21.3.2014 der neunte Föderationskreis Krim gegründet. Die konsequente Rezentralisierung der Staatsverwaltung führt seit 2000 zu politischer und wirtschaftlicher Abhängigkeit der Regionen vom Zentrum. Diese Tendenzen wurden bei der Abschaffung der Direktwahl der Gouverneure in den Regionen und der erneuten Unterordnung der regionalen und kommunalen Machtorgane unter das föderale Zentrum ("exekutive Machtvertikale") deutlich (GIZ 7.2018a).

Quellen:

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AA - Auswärtiges Amt (5.2018b): Russische Föderation - Außen- und Europapolitik,

https://www.auswaertiges-amt.de/de/aussenpolitik/laender/russischefoederation-node/russischefoederation/201534, Zugriff 1.8.2018

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CIA - Central Intelligence Agency (12.7.2018): The World Factbook, https://www.cia.gov/library/publications/the-world-factbook/geos/rs.html, Zugriff 1.8.2018

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EASO - European Asylum Support Office (3.2017): COI-Report Russian Federation - State Actors of Protection, http://www.ecoi.net/file_upload/1226_1489999668_easocoi-russia-state-actors-of-protection.pdf, Zugriff 1.8.2018

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FH - Freedom House (1.2018): Freedom in the World 2017 - Russia, https://www.ecoi.net/de/dokument/1428824.html, Zugriff 1.8.2018

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GIZ - Deutsche Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit GmbH (7.2018a): Russland, Geschichte und Staat, https://www.liportal.de/russland/geschichte-staat/#c17836, Zugriff 1.8.2018

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GIZ - Deutsche Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit GmbH (7.2018c): Russland, Gesellschaft, https://www.liportal.de/russland/gesellschaft/, Zugriff 1.8.2018

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OSCE/ODIHR - Organization for Security and Co-operation in Europe/Office for Democratic Institutions and Human Rights (18.3.2018): Russian Federation Presidential Election Observation Mission Final Report,

https://www.osce.org/odihr/elections/383577?download=true, Zugriff 29.8.2018

-

Presse.at (19.3.2018): Putin: "Das russische Volk schließt sich um Machtzentrum zusammen",

https://diepresse.com/home/ausland/aussenpolitik/5391213/Putin_Das-russische-Volk-schliesst-sich-um-Machtzentrum-zusammen, Zugriff 1.8.2018

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Standard.at (19.3.2018): Putin sichert sich vierte Amtszeit als Russlands Präsident,

https://derstandard.at/2000076383332/Putin-sichert-sich-vierte-Amtszeit-als-Praesident, Zugriff 1.8.2018

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Tagesschau.de (19.3.2018): Klarer Sieg für Putin, https://www.tagesschau.de/ausland/russland-wahl-putin-101.html, Zugriff 1.8.2018

1. 1.1. Tschetschenien

Die Tschetschenische Republik ist eine der 22 Republiken der Russischen Föderation. Die Fläche beträgt 15.647 km2 (Rüdisser 11.2012) und laut offizieller Bevölkerungsstatistik der Russischen Föderation zum 1.1.2018 beläuft sich die Einwohnerzahl Tschetscheniens auf 1,4 Millionen (GKS 25.1.2018), wobei die offiziellen Angaben von unabhängigen Medien infrage gestellt werden. Laut Aussagen des Republiksoberhauptes Ramzan Kadyrow sollen rund 600.000 TschetschenInnen außerhalb der Region leben, die eine Hälfte davon in der Russischen Föderation, die andere Hälfte im Ausland. Experten zufolge hat die Hälfte Tschetschenien während der Kriege nach dem Zerfall der Sowjetunion verlassen, bei der anderen Hälfte handle es sich um Siedlungsgebiete außerhalb Tschetscheniens, die bereits vor über einem Jahrhundert entstanden seien, teilweise durch Migration aus dem Russischen in das Osmanische Reich, und zwar über Anatolien bis in den arabischen Raum (ÖB Moskau 12.2017). In Bezug auf Fläche und Einwohnerzahl ist Tschetschenien somit mit der Steiermark vergleichbar. Etwa die Hälfte des tschetschenischen Territoriums besteht aus Ebenen im Norden und Zentrum der Republik.

Heutzutage ist die Republik eine nahezu monoethnische: 95,3% der Bewohner/innen Tschetscheniens gaben [bei der letzten Volkszählung] 2010 an, ethnische Tschetschenen/innen zu sein. Der Anteil ethnischer Russen/innen an der Gesamtbevölkerung liegt bei 1,9%. Rund 1% sind ethnische Kumyk/innen, des Weiteren leben einige Awar/innen, Nogaier/innen, Tabasar/innen, Türk/innen, Inguschet/innen und Tatar/innen in der Republik (Rüdisser 11.2012).

In Tschetschenien gilt Ramzan Kadyrow als Garant Moskaus für Stabilität. Mit Duldung der russischen Staatsführung hat er in der Republik ein autoritäres Herrschaftssystem geschaffen, das vollkommen auf seine eigene Person ausgerichtet ist und weitgehend außerhalb des föderalen Rechtsrahmens funktioniert (ÖB Moskau 12.2017, vgl. AA 21.5.2018). So musste im Mai 2016 der Vorsitzende des Obersten Gerichts Tschetscheniens nach Kritik von Kadyrow zurücktreten, obwohl die Ernennung/Entlassung der Richter grundsätzlich in föderale Kompetenz fällt. Fraglich bleibt auch die föderale Kontrolle über die tschetschenischen Sicherheitskräfte, deren faktische Loyalität vorrangig dem Oberhaupt der Republik gilt. Im Juni 2016 beschloss das tschetschenische Parlament die vorzeitige Selbstauflösung, um vorgezogene Neuwahlen parallel zu den Wahlen zum Oberhaupt der Republik durchzuführen. Bei den Wahlen vom 18.9.2016 lag die Wahlbeteiligung in Tschetschenien weit über dem landesweiten Durchschnitt. Kadyrow wurde laut offiziellen Angaben bei hoher Wahlbeteiligung mit überwältigender Mehrheit für eine weitere Amtszeit von fünf Jahren gewählt. Unabhängige Medien berichteten über Unregelmäßigen bei den Wahlen, in deren Vorfeld Human Rights Watch über massive Druckausübung auf Kritiker des derzeitigen Machthabers berichtet hatte. Das tschetschenische Oberhaupt bekundet immer wieder seine absolute Loyalität gegenüber dem Kreml (ÖB Moskau 12.2017). Vertreter russischer und internationaler NGOs berichten immer wieder von Gewalt und Menschenrechtsverletzungen, einem Klima der Angst und Einschüchterung (AA 21.5.2018). Gegen vermeintliche Extremisten und deren Angehörige, aber auch gegen politische Gegner, wird rigoros vorgegangen. Anfang 2016 sorgte Kadyrow landesweit für Aufregung, als er die liberale Opposition in Moskau als Staatsfeinde bezeichnete, die danach trachteten, Russland zu zerstören. Nachdem er dafür von Menschenrechtsaktivisten sowie von Vertretern des präsidentiellen Menschenrechtsrats scharf kritisiert worden war, wurde in Grozny eine Massendemonstration zur Unterstützung Kadyrows organisiert (ÖB Moskau 12.2017).

Während der mittlerweile über zehn Jahre dauernden Herrschaft des amtierenden Republikführers Ramzan Kadyrow gestaltete sich Tschetscheniens Verhältnis zur Russischen Föderation ambivalent. Einerseits ist Kadyrow bemüht, die Zugehörigkeit der Republik zu Russland mit Nachdruck zu bekunden, tschetschenischen Nationalismus mit russischem Patriotismus zu verbinden, Russlands Präsidenten in der tschetschenischen Hauptstadt Grozny als Staatsikone auszustellen und sich als "Fußsoldat Putins" zu präsentieren. Andererseits hat er das Föderationssubjekt Tschetschenien so weit in einen Privatstaat verwandelt, dass in der Umgebung des russischen Präsidenten die Frage gestellt wird, inwieweit sich die von Wladimir Putin ausgebaute föderale Machtvertikale dorthin erstreckt. Zu Kadyrows Eigenmächtigkeit gehört auch eine Außenpolitik, die sich vor allem an den Mittleren Osten und die gesamte islamische Welt richtet. Kein anderer regionaler Führer beansprucht eine vergleichbare, über sein eigenes Verwaltungsgebiet und die Grenzen Russlands hinausreichende Rolle. Kadyrow inszeniert Tschetschenien als Anwalt eines russländischen Vielvölker-Zusammenhalts, ist aber längst zum "inneren Ausland" Russlands geworden. Deutlichster Ausdruck dieser Entwicklung ist ein eigener Rechtszustand, in dem islamische und gewohnheitsrechtliche Regelungssysteme sowie die Willkür

des Republikführers in Widerspruch zur Gesetzgebung Russlands geraten (SWP 3.2018).

Quellen:

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AA - Auswärtiges Amt (21.5.2018): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Russischen Föderation

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GKS - Staatliches Statistikamt (25.1.2018): Bevölkerungsverteilung zum 1.1.2018,

http://www.gks.ru/free_doc/new_site/population/demo/PrPopul2018.xlsx, Zugriff 1.8.2018

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ÖB Moskau (12.2017): Asylländerbericht Russische Föderation

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Rüdisser, V. (11.2012): Russische Föderation/Tschetschenische Republik. In: Länderinformation n°15, Österreichischer Integrationsfonds,

http://www.integrationsfonds.at/themen/publikationen/oeif-laenderinformation/, Zugriff 1.8.2018

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SWP - Stiftung Wissenschaft und Politik (3.2018): Tschetscheniens Stellung in der Russischen Föderation. Ramsan Kadyrows Privatstaat und Wladimir Putins föderale Machtvertikale, https://www.swp-berlin.org/fileadmin/contents/products/studien/2018S01_hlb.pdf, Zugriff 1.8.2018

2. Sicherheitslage

Wie verschiedene Anschläge mit zahlreichen Todesopfern in den letzten Jahren gezeigt haben, kann es in Russland, auch außerhalb der Kaukasus-Region, zu Anschlägen kommen. Todesopfer forderte zuletzt ein Terroranschlag in der Metro von St. Petersburg im April 2017. Die russischen Behörden halten ihre Warnung vor Anschlägen aufrecht und rufen weiterhin zu besonderer Vorsicht auf (AA 28.8.2018a, vgl. BMeiA 28.8.2018, GIZ 6.2018d). Trotz verschärfter Sicherheitsmaßnahmen kann das Risiko von Terrorakten nicht ausgeschlossen werden. Die russischen Sicherheitsbehörden weisen vor allem auf eine erhöhte Gefährdung durch Anschläge gegen öffentliche Einrichtungen und größere Menschenansammlungen hin (Untergrundbahn, Bahnhöfe und Züge, Flughäfen etc.) (EDA 28.8.2018).

Russland tritt als Protagonist internationaler Terrorismusbekämpfung auf und begründet damit seinen Militäreinsatz in Syrien. Vom Beginn des zweiten Tschetschenienkriegs 1999 bis ins Jahr 2013 sah es sich mit 75 größeren Terroranschlägen auf seinem Staatsgebiet konfrontiert, die Hunderten Zivilisten das Leben kosteten. Verantwortlich dafür war eine über Tschetschenien hinausgehende Aufstandsbewegung im Nordkaukasus. Gewaltzwischenfälle am Südrand der Russischen Föderation gingen 2014 um 46% und 2015 um weitere 51% zurück. Auch im Global Terrorism Index, der die Einwirkung des Terrorismus je nach Land misst, spiegelt sich diese Entwicklung wider. Demnach stand Russland 2011 noch an neunter Stelle hinter mittelöstlichen, afrikanischen und südasiatischen Staaten, weit vor jedem westlichen Land. Im Jahr 2016 rangierte es dagegen nur noch auf Platz 30 hinter Frankreich (Platz 29), aber vor Großbritannien (Platz 34) und den USA (Platz 36). Nach der Militärintervention in Syrien Ende September 2015 erklärte der sogenannte Islamische Staat (IS) Russland den Dschihad und übernahm die Verantwortung für den Abschuss eines russischen Passagierflugzeugs über dem Sinai mit 224 Todesopfern. Seitdem ist der Kampf gegen die Terrormiliz zu einer Parole russischer Außen- und Sicherheitspolitik geworden, auch wenn der russische Militäreinsatz in Syrien gewiss nicht nur von diesem Ziel bestimmt ist, sondern die Großmachtrolle Russlands im Mittleren Osten stärken soll. Moskau appelliert beim Thema Terrorbekämpfung an die internationale Kooperation (SWP 4.2017).

Eine weitere Tätergruppe rückt in Russland ins Zentrum der Medienaufmerksamkeit, nämlich Islamisten aus Zentralasien. Die Zahl der Zentralasiaten, die beim sogenannten IS kämpfen, wird auf einige tausend geschätzt (Deutschlandfunk 28.6.2017).

Quellen:

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AA - Auswärtiges Amt (28.8.2018a): Russische Föderation: Reise- und Sicherheitshinweise,

https://www.auswaertiges-amt.de/de/russischefoederationsicherheit/201536#content_0, Zugriff 28.8.2018

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BmeiA (28.8.2018): Reiseinformation Russische Föderation, https://www.bmeia.gv.at/reise-aufenthalt/reiseinformation/land/russische-foederation/, Zugriff 28.8.2018

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Deutschlandfunk (28.6.2017): Anti-Terrorkampf in Dagestan. Russische Methoden,

https://www.deutschlandfunk.de/anti-terrorkampf-in-dagestan-russische-methoden.724.de.html?dram:article_id=389824, Zugriff 29.8.2018

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EDA - Eidgenössisches Departement für auswärtige Angelegenheiten (28.8.2018): Reisehinweise für Russland, https://www.eda.admin.ch/eda/de/home/vertretungen-und-reisehinweise/russland/reisehinweise-fuerrussland.html, Zugriff 28.8.2018

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GIZ - Deutsche Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit GmbH (6.2018d): Russland, Alltag,

https://www.liportal.de/russland/alltag/#c18170, Zugriff 28.8.2018

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SWP - Stiftung Wissenschaft und Politik (4.2017): Russland und der Nordkaukasus im Umfeld des globalen Jihadismus, https://www.swp-berlin.org/fileadmin/contents/products/aktuell/2017A23_hlb.pdf, Zugriff 28.8.2018

2. 2.1. Nordkaukasus

Die Menschenrechtsorganisation Memorial beschreibt in ihrem Bericht über den Nordkaukasus vom Sommer 2016 eindrücklich, dass die Sicherheitslage für gewöhnliche Bürger zwar stabil ist, Aufständische einerseits und Kritiker der bestehenden Systeme sowie Meinungs- und Menschenrechtsaktivisten andererseits weiterhin repressiven Maßnahmen und Gewalt bis hin zum Tod ausgesetzt sind (AA 21.5.2018). In internationalen sicherheitspolitischen Quellen wird die Lage im Nordkaukasus mit dem Begriff "low level insurgency" umschrieben (SWP 4.2017).

Das Kaukasus-Emirat, das seit 2007 den islamistischen Untergrundkampf im Nordkaukasus koordiniert, ist seit Ende 2014 durch das Überlaufen einiger Feldkommandeure zum sogenannten IS von Spaltungstendenzen erschüttert und geschwächt. Der IS verstärkte 2015 seine russischsprachige Propaganda in Internet-Foren wie Furat Media, ohne dass die Behörden laut Novaya Gazeta diesem Treiben große Aufmerksamkeit widmeten. Am 23. Juni 2015 rief der IS-Sprecher Muhammad al-Adnani ein ‚Wilajat Kavkaz', eine Provinz Kaukasus, als Teil des IS-Kalifats aus. Es war ein propagandistischer Akt, der nicht bedeutet, dass der IS in dieser Region militärisch präsent ist oder sie gar kontrolliert, der aber den zunehmenden Einfluss dieser Terrormiliz auf die islamistische Szene im Nordkaukasus symbolisiert. Zuvor hatten mehr und mehr ideologische und militärische Führer des Kaukasus Emirats dem ‚Kalifen' Abu Bakr al-Baghdadi die Treue geschworen und sich von al-Qaida abgewandt. Damit bestätigte sich im islamistischen Untergrund im Nordkaukasus ein Trend, dem zuvor schon Dschihad-Netzwerke in Nordafrika, Jemen, Pakistan und Afghanistan gefolgt waren (SWP 10.2015). Das rigide Vorgehen der Sicherheitskräfte, aber auch die Abwanderung islamistischer Kämpfer in die Kampfgebiete in Syrien und in den Irak haben dazu geführt, dass die Gewalt im Nordkaukasus in den vergangenen Jahren deutlich zurückgegangen ist. Innerhalb der extremistischen Gruppierungen verschoben sich in den vergangenen Jahren die Sympathien zur regionalen Zweigstelle des sogenannten IS, die mittlerweile das Kaukasus-Emirat praktisch vollständig verdrängt haben soll. Dabei sorgt nicht nur Propaganda und Rekrutierung des IS im Nordkaukasus für Besorgnis der Sicherheitskräfte. So wurden Mitte Dezember 2017 im Nordkaukasus mehrere Kämpfer getötet, die laut Angaben des Anti-Terrorismuskomitees dem sogenannten IS zuzurechnen waren (ÖB Moskau 12.2017). Offiziell kämpfen bis zu 800 erwachsene Tschetschenen für die Terrormiliz IS. Die Dunkelziffer dürfte höher sein (DW 25.1.2018).

Ein Risikomoment für die Stabilität in der Region ist die Verbreitung des radikalen Islamismus. Während in den Republiken Inguschetien und Kabardino-Balkarien auf einen Dialog innerhalb der muslimischen Gemeinschaft gesetzt wird, verfolgen die Republiken Tschetschenien und Dagestan eine konsequente Politik der Repression radikaler Elemente (ÖB Moskau 12.2017).

Im gesamten Jahr 2017 gab es im ganzen Nordkaukasus 175 Opfer des bewaffneten Konfliktes, davon 134 Todesopfer (82 Aufständische, 30 Zivilisten, 22 Exekutivkräfte) und 41 Verwundete (31 Exekutivkräfte, neun Zivilisten, ein Aufständischer) (Caucasian Knot 29.1.2018). Im ersten Quartal 2018 gab es im gesamten Nordkaukasus 27 Opfer des bewaffneten Konfliktes, davon 20 Todesopfer (12 Aufständische, sechs Zivilisten, 2 Exekutivkräfte) und sieben Verwundete (fünf Exekutivkräfte, zwei Zivilisten) (Caucasian Knot 21.6.2018).

Quellen:

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AA - Auswärtiges Amt (21.5.2018): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Russischen Föderation

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Caucasian Knot (29.1.2018): Infographics. Statistics of victims in Northern Caucasus for 2017 under the data of the Caucasian Knot, http://www.eng.kavkaz-uzel.eu/articles/42208/, Zugriff 28.8.2018

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Caucasian Knot (21.6.2018): Infographics. Statistics of victims in Northern Caucasus in Quarter 1 of 2018 under the data of the Caucasian Knot, http://www.eng.kavkaz-uzel.eu/articles/43519/, Zugriff 28.8.2018

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DW - Deutsche Welle (25.1.2018): Tschetschenien: "Wir sind beim IS beliebt",

https://www.dw.com/de/tschetschenien-wir-sind-beim-is-beliebt/a-42302520, Zugriff 28.8.2018

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ÖB Moskau (12.2017): Asylländerbericht Russische Föderation

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SWP - Stiftung Wissenschaft und Politik (10.2015): Reaktionen auf den "Islamischen Staat" (ISIS) in Russland und Nachbarländern, http://www.swp-berlin.org/fileadmin/contents/products/aktuell/2015A85_hlb.pdf, Zugriff 28.8.2018

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SWP - Stiftung Wissenschaft und Politik (4.2017): Russland und der Nordkaukasus im Umfeld des globalen Jihadismus, https://www.swp-berlin.org/fileadmin/contents/products/aktuell/2017A23_hlb.pdf, Zugriff 28.8.2018

2.2. Tschetschenien

Quelle: Bundesverwaltungsgericht BVwg, https://www.bvwg.gv.at
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