TE Bvwg Erkenntnis 2019/4/15 L524 2212854-1

JUSLINE Entscheidung

Veröffentlicht am 15.04.2019
beobachten
merken

Entscheidungsdatum

15.04.2019

Norm

AsylG 2005 §10 Abs1 Z3
AsylG 2005 §3
AsylG 2005 §3 Abs1
AsylG 2005 §55 Abs1
AsylG 2005 §57
AsylG 2005 §58 Abs1
AsylG 2005 §8 Abs1 Z1
AsylG 2005 §8 Abs2
AsylG 2005 §8 Abs3
BFA-VG §21 Abs7
BFA-VG §9
B-VG Art133 Abs4
EMRK Art2
EMRK Art3
EMRK Art8
FPG §46
FPG §50 Abs1
FPG §50 Abs2
FPG §50 Abs3
FPG §52 Abs2 Z2
FPG §52 Abs9
FPG §55 Abs2
VwGVG §24
VwGVG §28 Abs1
VwGVG §28 Abs2

Spruch

L524 2212854-1/6E

IM NAMEN DER REPUBLIK!

Das Bundesverwaltungsgericht hat durch die Richterin Mag. Veronika SANGLHUBER LL.B. über die Beschwerde von XXXX , geb. XXXX , StA. Türkei, vertreten durch Verein Menschenrechte Österreich, Alser Straße 20, 1090 Wien, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 30.11.2018, Zl. 1011891204-14514128/BMI-BFA_WIEN_AST_01, zu Recht erkannt:

A) Die Beschwerde wird gemäß § 3 Abs. 1, § 8 Abs. 1, § 57, § 10 Abs. 1 Z 3 AsylG iVm § 9 BFA-VG, § 52 Abs. 2 Z 2 und Abs. 9, § 46 und § 55 FPG als unbegründet abgewiesen.

B) Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.

Text

ENTSCHEIDUNGSGRÜNDE:

I. Verfahrensgang:

1. Die Beschwerdeführerin, eine türkische Staatsangehörige, stellte nach illegaler Einreise in das österreichische Bundesgebiet am 04.04.2014 einen Antrag auf internationalen Schutz. Bei der am 05.04.2014 erfolgten Erstbefragung durch ein Organ des öffentlichen Sicherheitsdienstes brachte sie vor, dass sie Kurdin und Muslimin sei. Sie stamme aus XXXX , XXXX in XXXX . In der Türkei würden noch ihre Eltern, sowie drei Brüder und drei Schwestern leben. Sie habe die Türkei am 28.03.2014 illegal von Istanbul aus mit einem LKW verlassen und sei schlepperunterstützt nach Österreich gereist. Für die Reise habe sie € 4.000,- bezahlt.

Hinsichtlich ihres Fluchtgrundes gab sie an (Schreibfehler im Original):

"In der Osttürkei erwartet man von einer jungen Frau, dass sie schon mit 20 Jahren heiratet. Wer schon 30 ist und noch unverheiratet wird von der Familie und Dorfgemeinschaft unter Druck gesetzt und diskriminiert. Meine Eltern wollten mich mit einen 50-jährigen zwangsverheiraten. Dieser Mann ist aber bereist verheiratet und hat Kinder. Das wollte ich nicht. Das Ganze geht nun schon seit sieben Jahren. Vor drei Jahren wurde ich von der Familie in der Wohnung eingesperrt und durfte die Wohnung drei Monate nicht verlassen. Weil der Druck der Familie nicht nachließ bin ich vor sechs Monate nach Istanbul. Dort habe ich in einer Studentenwohnung gewohnt. Meine Familie hat aber erfahren, wo ich lebe. Aus Angst vor ihnen wollte ich nach Europa flüchten. Sowohl mein Vater als auch der 50-jährige und meine Cousins haben mich mit dem Umbringen bedroht, sollte ich diesen Mann nicht heiraten. Ich wurde auch von meinen Brüdern verprügelt. Das war kurz vor meiner Flucht nach Istanbul. Das ist mein einziger Flucht- und Asylgrund. Sonst habe ich keine anderen religiöse, ethnische oder politische Flucht- und Asylgründe."

Bei einer Rückkehr habe sie Angst vor ihrer Familie und Angst umgebracht zu werden.

2. Bei der ersten Einvernahme vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (im Folgenden: BFA) am 19.02.2015 gab die Beschwerdeführerin an, sie sei arbeitsfähig und gesund. Sie habe in der Türkei vier Jahre die Volksschule besucht und mittels Fernstudium die Hauptschule absolviert. Sie habe von 1999 bis 2007 in einem Mädcheninternat junge Mädchen gepflegt und seit 2007 zwei Jahre als Schneiderin gearbeitet. Danach habe sie als Sachbearbeiterin und als Friseurin gearbeitet. Zuletzt sei sie ohne Beschäftigung gewesen. Sie gehöre der Religionsgemeinschaft der Shafei an. In der Türkei würden noch ihre Eltern und drei Brüder und drei Schwestern leben, in Österreich habe sie keine Familienangehörigen. Sie habe bis zum 18. Lebensjahr in XXXX gelebt und danach bis zu ihrer Ausreise in XXXX .

In Österreich wolle sie einen Deutschkurs besuchen und unterhalte eine Beziehung zu einem türkischen Staatsangehörigen mit Aufenthaltstitel für Österreich mit dem sie auch zusammenlebe.

Zu ihrem Fluchtgrund befragt gab die Beschwerdeführerin an (Schreibfehler im Original):

"F: Nennen Sie alle Ihre Gründe für ihr Ansuchen auf Asyl in Österreich? Erzählen Sie bitte

ausführlich und detailreich!

A: Meine Familie gehört zu einem großen kurdischen Stamm mit dem Namen XXXX . Es geht dem Stamm finanziell ziemlich gut aber auch meiner Familie. Ich wollte mich unbedingt in meinem Leben verwirklichen und habe angefangen zu arbeiten. Ich wollte gerne studieren können. Diese Möglichkeit bekam ich nicht von meiner Familie. Ich habe dann viel gearbeitet und einen Führerschein gemacht und diverse Kurse besucht um mich persönlich zu entwickeln. Meine Familie hat permanent versucht zu verhindern, dass ich arbeite. Ich habe mir mit meinem Geld 2 Wohnungen gekauft in XXXX . In der einen Wohnung habe ich mit meiner Schwester XXXX und meinem Bruder XXXX gelebt. Sie sind in die Schule gegangen. Nachdem diese 2 Geschwister von mir die Schule abgeschlossen haben und dann für die Uni nach Istanbul gingen hat mir meine Familie mir verboten alleine als Frau in einer Wohnung zu leben. Sie haben mich gezwungen ins Dorf zurückzukehren und jemanden Ihrer Wahl zu heiraten. Sie haben einen Mann gefunden, welcher 25 Jahre älter war als ich. Sie sagten dieser Mann ist ein reicher Mann und ich müsste ihn heiraten. Sie haben mir 3 Jahre keine Ruhe gegeben und wollten unbedingt, dass ich diesen Mann heirate. Wir haben sehr oft miteinander diskutiert und wurde auch von meinem Vater und meinem Schwager verprügelt. Ich wollte eine Anzeige gegen meine Familie machen. Ich bin zur Polizei von XXXX gegangen. Die Polizisten sagten, dass wir eine sehr große Familie seien und wenn sie meine Anzeige annehmen würden, würden Probleme entstehen, die sie selbst nicht mehr im Griff hätten. Sehr viele Verwandte von mir sind Polizisten und Beamte/Ärzte/Juristen auch in XXXX . Ich habe versucht meine Mutter zu überzeugen, dass sie zu mir hält, aber das Spiel hat immer wieder von vorne angefangen und hat 3 Jahre lange angedauert. Sie verlangten von mir, dass ich mich bedecke und heirate. Ich wollte mich nicht bedecken. (auf Nachfrage gemeint Kopftuch und Kleidung die den Körper vollständig bedeckt, traditionell) Ich habe bemerkt, dass es kein Ende findet und habe beschlossen, nach Istanbul zu gehen und dort anonym zu leben. Meine Familie hat möglicherweise geahnt, dass ich von zu Hause weggehe und haben meinen türkischen Ausweis versteckt. Ich bin nach Istanbul gefahren, habe über meine Kontakte über das private Kursinstitut, für welches ich gearbeitet hatte, eine Wohngemeinschaft für Studentinnen gefunden und habe mich dort einquartiert. Ich habe auch eine Arbeit gefunden bei einer Bäckerei, wo ich hauseigenes Essen gekocht habe. Danach habe ich erfahren, dass meine Familie herausgefunden hat, dass ich in Istanbul gelebt habe. Eine Freundin namens XXXX , hat mich angerufen und hat gesagt, dass viele Cousins (einer davon ist mein Schwager, Mann der XXXX ) mich suchen. Ich habe große Angst bekommen und habe die Wohnung nicht mehr verlassen. In XXXX wurde ich auch bestraft durch meinen Schwager als auch Cousin XXXX , ich wurde geschlagen und eingesperrt. Ich hatte große Angst und wusste nicht was ich machen soll. Als ich nach Istanbul ging habe ich mir gedacht ich könnte meine 2 Wohnungen in XXXX verkaufen und ein normales Leben in Istanbul führen. Nachdem mich meine Familie gefunden hat, war ich verzweifelt. Meine Freundin XXXX sagte mir, solange ich die Türkei nicht verlasse, werde ich keine Ruhe finden. Sie hat recherchiert und mir empfohlen ins Ausland zu gehen. Sie hat Schlepper gefunden. Die haben aber viel Geld verlangt. Ich hatte Goldschmuck und habe das verkauft. Ich wusste nicht in welches Land ich gehen soll. Die Schlepper haben mich dann in Österreich abgesetzt. Sie wollten mich nach Frankreich bringen aber der Weg war sehr mühsam und ich habe gemeint sie sollten mich irgendwo absetzen.

[...]

F: Wie heißt der Mann den sie heiraten sollten?

A: XXXX .

F: Ist dieser Angehöriger Ihres Stammes?

A: Nein. Er ist ein Freund meines Vaters aber nicht von unserem Stamm.

F: Leben Angehörige Ihres Stammes in Europa oder Österreich?

A: Ich weiß es nicht.

F: Ab wann waren Sie alleine in Ihrer Wohnung in XXXX , wann gingen Ihre Geschwister

woanders hin studieren?

A: Im Sommer 2013.

F: sie haben vorhin gesagt, dass sie dann 3 Jahre unter Druck gesetzt wurden.

A: Dieser Druck hat bereits früher angefangen. Die ganze Zeit hat meine Familie versucht, dass ich einen Mann heirate. Sie wollten mir nicht erlauben, dass ich in ein Tee- oder Kaffeehaus gehe.

[...]

F: Wie heißt die "Kursfirma" wo Sie gearbeitet haben?

A: XXXX , diese gibt es in der ganzen Türkei. Nachgefragt gebe ich an, dass diese

Leute für die Zulassungsprüfungen zum Studium vorbereiten.

F: Wann wurden Sie geschlagen (vorher berichtet Schwager und Vater)? War dies ein einmaliger Vorfall oder kam es mehrmals dazu?

A: Ich wurde 2 Mal geschlagen. Das letzte Mal wurde ich ca. 5 Monate bevor ich XXXX verlassen habe. Das erste Mal weiß ich nicht genau, aber es war im Dorf.

F: Wann sind Sie nach Istanbul gezogen?

A: Ca. 5 Monate vor meiner Ausreise aus der Türkei.

[...]

F: Kommt es in Ihrer Familie öfter bei Fehlverhalten gegen Traditionen zu Gewalt gegen Frauen?

A: Es gab sogar einen Todesfall. Nachgefragt gebe ich an, dass dies XXXX (Cousine 2. Grades) passiert ist. Offiziell weiß ich nichts. Was gesprochen wurde war, dass sie mit einem Mann Kontakt hatte und deswegen von der Familie getötet wurde, das war ca. 1997/1998."

3. Mit Schreiben vom 11.08.2016 erstattete die Beschwerdeführerin eine schriftliche Stellungnahme, in der sie im Wesentlichen ihr Vorbringen bei der Einvernahme wiederholte. Sie sei immer wieder von ihrem Vater, ihren Brüdern, Cousins, Schwager und dem für sie ausgewählten künftigen Ehemann geschlagen worden. Sie sei außerdem während der letzten drei Monate in XXXX eingesperrt worden. Sie sei nach Istanbul geflüchtet, wo sie sich drei Monate aufgehalten habe und kaum die Wohnung verlassen habe.

4. Am 12.07.2018 erfolgte eine weitere Einvernahme der Beschwerdeführerin vor dem BFA, bei der sie angab, sie sei gesund, habe in Ihrer Einvernahme im Jahr 2015 korrekte Angaben gemacht und es ihr sei rückübersetzt worden. In der Türkei würden noch ihre Eltern, drei Brüder, drei Schwestern und andere Verwandte leben. Ihre Familie würde in der Türkei Wohnungen und Grundstücke besitzen. In der Türkei habe sie fünf Jahre die Volks- und drei Jahre die Mittelschule besucht. Sie habe als Friseurin, Aufsichtsperson in einem Internat und als Schneiderin gearbeitet. Die finanzielle Situation ihrer Familie in der Türkei sei gut gewesen. Sie sei 2013 nach Istanbul gegangen und habe dort ca. vier oder fünf Monate gelebt.

Sie lebe in Österreich seit 2014 mit einem türkischen Staatsangehörigen, der ein unbefristetes Visum habe, in einer Lebensgemeinschaft. Sie sei kein Mitglied in einem Verein oder einer sonstigen Organisation. Sie habe Deutschkurse besucht, besuche derzeit aber keine Kurse. Sie habe Kontakte zu anderen Teilnehmern der Deutschkurse; zu Österreichern sei es aufgrund sprachlicher Probleme schwierig, Anschluss zu finden.

Zu ihrem Fluchtgrund befragt gab die Beschwerdeführerin an (Schreibfehler im Original):

"LA: Bitte nennen Sie Ihre Fluchtgründe? Warum haben Sie Ihr Herkunftsland verlassen

und haben in Österreich einen Asylantrag gestellt?

Anmerkung: Partei wird gefragt, ob Sie erneut ihre Fluchtgründe vorbringen will oder ob sie die Fluchtgründe von der Einvernahme 2015 vorgelesen bekommen möchte. Partei entscheidet sich dazu, dass Sie einfach die Fluchtgründe vorgelesen bekommen möchte. Sie gibt an, dass sich nichts geändert hat seit 2015.

[...]

LA: Stimmen sämtliche Angaben des Fluchtvorbringens von der asylrechtlichen Einvernahme 2015 oder möchten Sie dazu noch etwas angeben oder korrigieren?

VP: Nein, nichts, es wurde alles gesagt.

LA: Haben Sie noch weitere Fluchtgründe?

VP: Nein.

LA: Erzählen Sie mir mehr über den Mann, den Sie heiraten hätten sollen!

VP: Er war ein bekannter meiner Familie, er ist auch von der Gegend dort. Er war ein cholerischer, unausgeglichener Mensch. Er war ein älterer Mann.

LA: Wurden Sie persönlich von diesem Mann, den Sie heiraten hätten sollen, bedroht oder belästigt?

VP: Ja, ich wurde bedroht und belästigt. Mein ganzes soziales Leben wurde von ihm beendet. Ich durfte nicht rausgehen, ich durfte nicht arbeiten gehen. Er hat mich mit dem Tod bedroht, er hat mich gestalkt. Er hat mir hunderte von SMS geschickt.

LA: Wurden Ihre Schwestern auch unter Zwang verheiratet?

VP: Ja, meine ältere Schwester ließ sich umstimmen. Aber meine jüngere Schwester wurde gegen ihren Willen verheiratet.

LA: Waren Sie in Istanbul behördlich gemeldet?

VP: Nein. Ich hatte Angst, mich anzumelden und dass sie mich dann finden würden. Ich war in einer Wohngemeinschaft mit mehreren Studentinnen in einem Wohnheim. Meine Familie hat mich nicht gefunden, aber sie haben erfahren, dass ich in Istanbul lebe. Aber meinen Aufenthaltsort kannten sie nicht

LA: Woher hatten Sie die Information, dass Ihre Familie über Ihren Aufenthalt in Istanbul Bescheid wusste?

VP: Meine Freundin hat mir das mitgeteilt.

LA: Wie lange waren Sie bereits in Istanbul aufhältig, als Ihre Freundin Ihnen mitteilte, dass Ihre Familie Ihren Aufenthaltsort kennt?

VP: Ca. 2 Monate, nachdem ich nach Istanbul gezogen bin, habe ich erfahren, dass meine Familie nach mir sucht. Ich hatte nie einen Gedanken an eine Flucht gehabt. Ich bin nach Istanbul um mir dort ein neues Leben aufzubauen. Erst meine Freundin, welche mir erzählt hat, dass meine Familie nach mir sucht meinte, ich solle ins Ausland gehen und sie hat dann auch die Organisation dafür übernommen

LA: Können Sie mir den Namen dieser Freundin sagen?

VP: Sie hieß XXXX , den Familiennamen habe ich vergessen. Ich kannte sie bereits aus meiner Heimat. Sie lebte damals nicht in Istanbul. Sie hat mich nur telefonisch kontaktiert, dass meine Familie mich sucht. XXXX hat vom Heimatdorf die Flucht für mich organisiert. Sie hat mir die Nummer einer Person gegeben. Diese Person konnte mir nicht helfen, aber ich hatte dann mit vielen weiteren Personen Kontakt gehabt. Befragt gebe ich an, dass ich ca. einen oder eineinhalb Monate nach dem Anruf von XXXX die Türkei verlassen habe

LA: Wovon haben Sie in Ihrer Zeit in Istanbul gelebt?

VP: Ich hatte ein oder zwei Armreifen und etwas Bargeld bei mir. Ich habe bereits in meinem Heimatdorf begonnen, Geld auf die Seite zu legen, ich wollte ja weg von dort. Außerdem habe ich etwa zwei Monate in Istanbul gearbeitet.

LA: Was würde passieren, wenn Sie jetzt in die Türkei zurückkehren würden?

VP: Ich weiß nicht, es würden sicherlich schlimme Sachen passieren. Ich vermute, dass meine Flucht noch größere Folgen für mich nach sich ziehen würden.

[...]

LA: Wurden Sie jemals wegen Ihrer Religion oder Volksgruppenzugehörigkeit persönlich

bedroht?

VP: In der Türkei hatte ich große Probleme gehabt aufgrund meiner kurdischen Abstammung. Wir hatten immer Probleme, vor allem wenn ich in einer anderen Provinz leben würde. Wenn ich jetzt zurück müsste, würde mich der türkische Staat befragen. Ich würde große Probleme bekommen, sie würden mich befragen, warum ich geflohen sei, ob ich jemand etwas angetan hätte, ob ich etwas gestohlen hätte etc.

[...]

LA: Ich beende jetzt die Befragung! Möchten Sie noch irgendetwas angeben?

VP: Ich möchte noch hinzufügen, dass ich im Falle meiner Rückkehr sicher nicht überleben werde. Durch meine Flucht habe ich Angst vor einem Ehrenmord. Das Staatsgebilde hat sich in der letzten Zeit stark verändert. Ich als Kurdin werde es noch schwieriger werden. Ich würde seitens der Familie bedroht werden weil ich mich gegen sie aufgelehnt habe und seitens der Behörde weil ich zu einer Minderheit gehöre"

Sie habe niemals Probleme mit den Behörden ihres Herkunftsstaates gehabt, sei niemals in Haft gewesen oder festgenommen worden und habe nie an Demonstrationen teilgenommen.

5. Mit Bescheid des BFA vom 30.11.2018, Zl. 1011891204-14514128/BMI-BFA_WIEN_AST_01, wurde der Antrag auf internationalen Schutz hinsichtlich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten gemäß § 3 Abs. 1 AsylG abgewiesen (Spruchpunkt I.). Gemäß § 8 Abs. 1 AsylG wurde der Status des subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Türkei nicht zuerkannt (Spruchpunkt II.). Ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen gemäß § 57 AsylG wurde nicht erteilt (Spruchpunkt III.). Gemäß § 10 Abs. 1 Z 3 AsylG iVm § 9 BFA-VG wurde gegen die Beschwerdeführerin eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs. 2 Z 2 FPG erlassen (Spruchpunkt IV.) und gemäß § 52 Abs. 9 FPG festgestellt, dass eine Abschiebung gemäß § 46 FPG in die Türkei zulässig sei (Spruchpunkt V.). Gemäß § 55 Abs. 1 bis 3 FPG betrage die Frist für die freiwillige Ausreise 14 Tage ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung (Spruchpunkt VI.).

In der Begründung wurden zunächst die Angaben der Beschwerdeführerin zu ihrem Fluchtgrund in der Erstbefragung sowie die Niederschrift der Einvernahmen vor dem BFA wörtlich wiedergegeben. Weiters wurden die von der Beschwerdeführerin vorgelegten Dokumente angeführt.

Das BFA stellte fest, dass die Identität der Beschwerdeführerin aufgrund des vorgelegten türkischen Führerscheins im Original feststehe. Sie sei türkische Staatsangehörige, Kurdin und sunnitische Muslimin. Sie sei am XXXX im Dorf XXXX , im Bezirk XXXX in der Provinz XXXX geboren und habe fünf Jahre die Volksschule und drei Jahre die Mittelschule besucht. Sie habe einen Führerschein und von 1999 bis 2007 als Aufsichtsperson in einem Mädcheninternat sowie für zwei Jahre in einer Schneiderei gearbeitet. Außerdem habe sie einen Ausbildungskurs zur Damenfriseurin besucht und in Istanbul zwei Monate in einer Bäckerei gearbeitet. Sie sei in der Türkei im Besitz von Gold und zwei Wohnungen gewesen, die sie selbst gekauft habe. Sie spreche Kurdisch, Türkisch sowie Deutsch auf dem Niveau B1. In der Türkei seien noch ihre Eltern, drei Brüder und drei Schwestern aufhältig. Eine Schwester und ein Bruder würden in Istanbul studieren, die restlichen Familienangehörigen würden in XXXX leben. In Österreich würden keine Verwandten leben. Sie sei ledig, kinderlos und lebe seit 2014 in einer Lebensgemeinschaft mit einem türkischen Staatsangehörigen, der einen Aufenthaltstitel habe. Die Beschwerdeführerin sei gesund und strafrechtlich unbescholten.

Zu den Gründen für das Verlassen ihres Heimatstaates stellte das BFA fest, dass die Beschwerdeführerin keine asylrelevante Verfolgung oder Bedrohung in ihrer Heimat vorbringen habe können. Es habe nicht festgestellt werden können, dass die Beschwerdeführerin in der Türkei einer Gefährdung oder Verfolgung ausgesetzt war oder im Rückkehrfall ausgesetzt wäre. Sie habe in der Einvernahme vor dem BFA keine asylrelevante Verfolgung glaubhaft machen können. Danach traf das BFA Feststellungen zur Lage in der Türkei.

Beweiswürdigend führte das BFA zu aus (Schreibfehler im Original):

"Gerade im Asylverfahren ist das Vorbringen des Antragstellers oft das einzige Beweismittel, welches von der Partei der Behörde zur Verfügung gestellt wird. Die niederschriftlichen Angaben der Partei stellen daher im überwiegenden Teil des Verfahrens die wesentliche Entscheidungsgrundlage dar. Im Asylverfahren liegt oft ein geradezu sachtypischer Beweisnotstand vor, weshalb das Vorbringen auf die Glaubhaftigkeit und die Person des Asylwerbers selbst auf die Glaubwürdigkeit zu prüfen sind.

Ein Vorbringen wird dann glaubhaft sein, von es nachfolgende Grunderfordernisse erfüllt:

1. Das Vorbringen des Asylwerbers ist genügend substantiiert. Dieses Erfordernis ist insbesondere dann nicht erfüllt, wenn der Asylwerber den Sachverhalt sehr vage schildert oder sich auf Gemeinplätze beschränkt, nicht aber in der Lage ist, konkrete und detaillierte Angaben über seine Erlebnisse zu machen.

2. Das Vorbringen muss, um als glaubhaft zu gelten, in sich schlüssig sein. Der Asylwerber darf sich nicht in wesentlichen Aussagen widersprechen.

3. Das Vorbringen muss plausibel sein, d.h. mit den Tatsachen oder der allgemeinen Erfahrung übereinstimmen. Diese Voraussetzung ist u. a. dann nicht erfüllt, wenn die Darlegung mit den allgemeinen Verhältnissen im Heimatland nicht zu vereinbaren sind oder sonst unmöglich erschienen.

4. Der Asylwerber muss persönlich glaubwürdig sein. Das wird dann nicht der Fall sein, wenn sein Vorbringen auf gefälschte oder verfälschte Beweismittel abgestützt ist, aber auch dann, wenn er wichtige Tatsachen verheimlicht oder bewusst falsch darstellt, im Laufe des Verfahrens das Vorbringen auswechselt oder unbegründet und verspätet erstatte oder mangelndes Interesse am Verfahrensablauf zeigt und die nötige Mitwirkung verweigert.

Ihr beim BFA vorgelegtes Vorbringen entspricht jedoch nicht diesen genannten Anforderungen.

Zunächst gaben Sie während Ihrer Erstbefragung am 05.04.2014 Folgendes an:

"In der Osttürkei erwartet man von einer jungen Frau, dass sie schon mit 20 Jahren heiratet. Wer schon 30 ist und noch unverheiratet wird von der Familie und Dorfgemeinschaft unter Druck gesetzt und diskriminiert. Meine Eltern wollten mich mit einen 50-jährigen zwangsverheiraten. Dieser Mann ist aber bereist verheiratet und hat Kinder. Das wollte ich nicht. Das Ganze geht nun schon seit sieben Jahren. Vor drei Jahren wurde ich von der Familie in der Wohnung eingesperrt und durfte die Wohnung drei Monate nicht verlassen. Weil der Druck der Familie nicht nachließ bin ich vor sechs Monate nach Istanbul. Dort habe ich in einer Studentenwohnung gewohnt. Meine Familie hat aber erfahren, wo ich lebe. Aus Angst vor ihnen wollte ich nach Europa flüchten. Sowohl mein Vater als auch der 50-jährige und meine Cousins haben mich mit dem Umbringen bedroht, sollte ich diesen Mann nicht heiraten. Ich wurde auch von meinen Brüdern verprügelt. Das war kurz vor meiner Flucht nach Istanbul. Das ist mein einziger Flucht- und Asylgrund. Sonst habe ich keine anderen religiöse, ethnische oder politische Flucht- und Asylgründe."

Am 19.02.2015 und am 12.07.2018 wurden Sie asylrechtlich einvernommen.

In Ihren diversen Angaben gibt es widersprüchliche Angaben bzw. sind einige Aussagen Ihrerseits nicht kongruent und wenig plausibel.

Zu Beginn Ihres Fluchtvorbringens gaben Sie an, dass Sie sich unbedingt in Ihrem Leben verwirklichen wollten, unter anderem wollten Sie studieren gehen. Sie gaben diesbezüglich an, dass Sie diese Möglichkeit nicht von Ihrer Familie erhalten haben. Ihre jüngste Schwester, Ihren Angaben zufolge 25 Jahre alt, studiert jedoch in Istanbul. Dies ist für Ihre Eltern und Ihre Familie anscheinend kein Problem. Warum gerade Sie diese Möglichkeit nicht erhalten haben, konnte nicht vorgebracht werden.

Zu dem konkreten Vorbringen, dass Sie Ihr Leben nicht verwirklichen konnten, darf angemerkt werden, dass Sie selbst angegeben haben, viel gearbeitet zu haben, in diversen Berufen tätig gewesen zu sein. Sie haben Kurse besucht und den Führerschein gemacht. Hätte Ihre Familie tatsächlich derartigen Druck auf Sie ausgeübt wäre Ihnen dies nicht möglich gewesen. Weiters gaben Sie an, dass Sie sich zwei Wohnungen von Ihrem selbst ersparten Geld in XXXX gekauft hätten. Bei der ersten asylrechtlichen Einvernahme gaben Sie noch an, dass diese nach wie vor in Ihrem Besitze sei. Eine von Ihrer Familie unterdrückte und kontrollierte Frau hätte diese sämtlichen Möglichkeiten nicht gehabt. Bis zum Sommer 2013 hätten Sie in einer Ihrer eigenen Wohnungen gemeinsam mit Ihrer jüngsten Schwester und Ihrem Bruder gewohnt, welche zu dieser Zeit noch zur Schule gingen. Ab dem Sommer 2013 gingen jedoch beide zwecks Studiums nach Istanbul. Ihre Eltern wollten nicht, dass Sie alleine lebten, daher mussten Sie angeblich wieder zu Hause einziehen.

Ihren Angaben zufolge wollte Ihre Familie Sie an einen älteren Mann zwangsverheiraten. Ihre Familie bedrängte Sie angeblich über drei Jahre (bzw. äußerten Sie zu einem späteren Zeitpunkt, dass Sie bereits viel länger bedrängt wurden). Sie wurden angeblich insgesamt zweimal geschlagen, das letzte Mal fünf Monate bevor Sie nach Istanbul geflohen sind. Ihrer Aussage zufolge wurden Ihnen untersagt, in ein Kaffee- oder Teehaus zu gehen, Sie hätten sich und Ihren Körper bedecken müssen (mittels Kopftuch). Bis zum Sommer 2013 war es Ihnen jedoch möglich, alleine mit Ihren zwei Geschwistern in einer eigenen Wohnung zu leben, Sie haben am Arbeitsleben teilgenommen. Die von Ihnen angegeben Unterdrückung und das kontrolliert werden von Seiten Ihrer Eltern ist mit der Tatsache, dass Sie ein selbstbestimmtes Leben in einer eigenen Wohnung, mit Zugang zum Arbeitsleben und der Möglichkeit nach Mobilität (Führerschein) nicht kongruent.

Sie wurden zu der Zwangsheirat befragt. Sie gaben in der Erstbefragung an, dass in der Türkei eine Frau in der Osttürkei bereits mit zwanzig verheiratet sein soll. Sie waren zum Zeitpunkt Ihrer Flucht 31 Jahre alt. Wäre Ihre Familie so stark religiös und traditionsbewusst, hätte diese bereits viel früher eine Ehe arrangiert und hätte Sie in Ihren Entscheidungen wesentlich mehr eingeschränkt. Zwangsehen werden vollzogen, es widerspricht jeglicher Logik und Plausibilität, dass Ihre Eltern und der vermeintliche "zukünftige Ehemann" Sie über Jahre hinweg bedrängt hätten ohne konkrete Maßnahmen zu setzen. Die Eheschließung hätte jederzeit ohne Ihre Zustimmung durchgeführt werden können.

Sie gaben an, fünf Monate vor Ihrer Flucht von Ihrer Familie geschlagen worden zu sein. Es ist nicht nachvollziehbar, warum Sie mit Ihrer Flucht weitere fünf Monate abgewartet haben, der Druck war immer gleichbleibend. Sie hatten Ihren Angaben zufolge ausreichend Geld, es bestand jederzeit die Möglichkeit zur Flucht, wie Sie dies fünf Monate später auch gemacht haben.

Sie waren nach Ihrer Flucht aus XXXX etwa vier bis fünf Monate in Istanbul aufhältig. Sie gaben an, dass Sie dort in einer Wohngemeinschaft gelebt hätten, Sie waren bei einer Bäckerei angestellt. Sie hätten eines Tages einen Anruf einer guten Freundin aus XXXX erhalten, welche Ihnen mitteilte, dass Ihre Familie von Ihrem Leben in Istanbul wusste. Dieser Anruf kam angeblich zwei Monate nach Ihrem Weggang aus Ihrer Heimat. Sie konnten keine konkreten Angaben dazu machen, woher die Familie von Ihrem Aufenthalt wusste, noch konkrete Angaben zu dieser Freundin. Sie hätte für Sie die Flucht geplant, können sich aber nicht an den Nachnamen Ihrer "Freundin" erinnern. In diesem Fall handelt es sich um reines Hörensagen. Sie gaben an, dass Sie dieser Anruf in Angst versetzt hat und Sie die Wohnung kaum mehr verlassen hätten. Es widerspricht jeder Logik, dass Sie nach diesem Anruf weitere ein bis eineinhalb Monate in Istanbul blieben. Hätte Ihre Familie den von Ihnen behaupteten großen Einfluss, hätte sie Sie in Istanbul in dieser Zeit ausfindig gemacht. Zudem gaben Sie mehrmals an, fünf Monate in Istanbul aufhältig gewesen zu sein. Sie waren eigenen Angaben zufolge zwei Monate in Istanbul, als der Anruf kam, demnach müssten Sie mindestens weitere zwei Monate oder länger in Istanbul aufhältig gewesen sein.

Sie waren in XXXX bei der Polizei um Anzeige gegen Ihre Familie zu machen, die dortige Polizei lehnte eine Unterstützung jedoch ab, angeblich weil Ihre Familie zu großen Einfluss hätte und die Polizei keine Probleme damit haben wollte. Als Sie jenen Anruf von Ihrer vermeintlichen Freundin erhalten haben, hätten Sie in Istanbul jederzeit zu den Sicherheitsbehörden gehen können. Auf diese hätte Ihre Familie keinen Einfluss gehabt. Diese Möglichkeit haben Sie jedoch nicht in Betracht gezogen.

In der Türkei gibt es laut Länderinformationsblatt 137 Frauenhäuser. Weiters gibt es seit Jänner 2018 in 68 Provinzen Zentren für Gewaltprävention und -überwachung. Sie hätten sich an eines dieser Institute oder an eine NGO wenden können.

Bei Ihrer zweiten asylrechtlichen Einvernahme gaben Sie zusätzlich noch große Probleme aufgrund Ihrer kurdischen Abstammung an, diese Probleme wären noch größer, wenn Sie in einer anderen Provinzen leben würden.

Die Behörde sieht in dieser Aussage ein gesteigertes Fluchtvorbringen. Sie gaben weder bei der Erstbefragung vor den Behörden des öffentlichen Sicherheitsdienstes, noch bei der ersten Einvernahme am 19.02.2015 konkrete Probleme wegen Ihrer kurdischen Abstammung an.

Auszug der Einvernahme am 19.02.2015:

F: Haben Sie noch andere Gründe Ihr Heimatland zu verlassen?

A: Nein

F: Haben Sie nun all Ihre Fluchtgründe/Gründe für Ihr Asylansuchen genannt?

A: Ja

Zudem liegt dies in klarem Widerspruch zu Ihrem geschilderten Leben in der Türkei. Sie sind zur Schule gegangen, haben mindestens zehn bis elf Jahre gearbeitet, Sie haben Geld gespart und sich davon selbst zwei Wohnungen gekauft.

Der Einwand, dass Sie in anderen Provinzen noch mehr Probleme haben, ist nicht nachvollziehbar. Sie haben in Istanbul einen Wohnplatz in einer Wohngemeinschaft gehabt, waren erneut berufstätig und gaben keine konkreten Probleme aufgrund Ihrer kurdischen Abstammung an.

Aus dem Länderinformationsblatt darf folgende Studie hier wiedergegeben werden:

Laut einer Studie der Kadir Has Universität vom März 2016 war für 77,8% der Befragten das größte Problem von Frauen in der Türkei die Gewalt. Unter den 1.200 Studienteilnehmerinnen waren auch "Ungleichheit" (41,8%), "mangelnde Bildung" (34,8%), "Gruppenzwang" (30,7%) und "Familiendruck" (26,5%) brennende Themen. Die Studie ergab, dass 64,8% der Befragten arbeitslos waren und 70,2% nie einen Arbeitsplatz hatten. In einem der auffälligsten Befunde antworteten 72,2% der Frauen negativ auf die Frage: "Würden Sie gerne arbeiten?" Nebst dem Bildungsfaktor und der Sicherheit am Arbeitsplatz nannten mit 47,9% an erster Stelle die Zustimmung des Vaters, Ehemannes und der Familie als Kriterium überhaupt eine Arbeit aufnehmen zu wollen (AM 8.3.2016).

Auf Sie treffen der Gruppenzwang und der Familiendruck zu. Sie haben sich jedoch dem mit Ihrer Selbstbestimmtheit durchaus widersetzen können. Sie haben acht oder neun Jahre die Schule besucht. Sie haben zusätzlich diverse Kurse besucht und einen Führerschein gemacht. Sie waren jahrelang berufstätig. Sie haben zwei Wohnungen besessen und haben im Vergleich zu anderen Frauen in der Türkei ein durchaus selbstbestimmtes Leben geführt. Ihre jüngere Schwester durfte nach Istanbul zwecks Studiums, Ihre Familie ließ diese gewähren. Aus Ihren Beschreibungen ist nicht erkennbar, dass Ihre Familie extrem traditionelle Werte verfolgen. Es wäre Ihnen und Ihrer Schwester nicht möglich gewesen, ein derart selbstbestimmtes Leben zu führen.

Zu der eingebrachten Stellungnahme darf folgendes angemerkt werden:

In der verfassten Stellungnahme gibt es widersprüchliche Angaben zu der von Ihnen getätigten Angaben bei den asylrechtlichen Einvernahmen.

In der Stellungnahme wird angegeben, dass Sie langjährig unterdrückt und geschlagen wurden. In der Einvernahme vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl wurden Sie konkret gefragt, wie oft Sie geschlagen wurden:

F: Wann wurden Sie geschlagen (vorher berichtet Schwager und Vater)? War dies ein einmaliger Vorfall oder kam es mehrmals dazu?

A: Ich wurde 2 Mal geschlagen. Das letzte Mal wurde ich ca. 5 Monate bevor ich XXXX verlassen habe geschlagen. Das erste Mal weiß ich nicht genau, aber es war im Dorf.

Eine langjährige durchgehende körperliche Misshandlung ist in diesem Fall nicht ersichtlich. Es liegt auch hier ein grober Widerspruch zu folgendem Auszug aus der Stellungnahme vor:

"Sie wurde immer wieder von Ihrem Vater, den Brüdern, Cousins, Ihrem Schwager sowie auch von dem von den Eltern ausgewählten künftigen Ehemann geschlagen."

Die Stellungnahme weicht zu dem Punkt "Zu den Fluchtgründen und der Glaubwürdigkeit des Vorbringens" deutlich von dem Gesagten aus den asylrechtlichen Einvernahmen ab.

Folgende Auszüge sind nicht kongruent mit Ihrem Vorbringen vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl:

".... Sie wollte selbst weiter lernen, arbeiten und selbstständig

und unabhängig sein. .... Sie (die Familie) kontrollierte jeden

Schritt der Ast. ....."

In der Einvernahme gaben Sie jedoch an, dass Sie zur Schule gegangen sind (auch wenn es zu Beginn ohne das Wissen Ihrer Eltern war), diverse Kurse besucht haben, jahrelang zur Arbeit gehen konnten, Ihr selbst verdientes Geld auch selbst verwalten konnten. Sie haben sich selbstständig zwei Wohnungen gekauft. Hier liegt ein klarer Widerspruch in sich und die Stellungnahme lässt Zweifel an der Glaubwürdigkeit aufkommen.

Weitere widersprüchliche Angaben betreffen den Aufenthalt in Istanbul.

.... Sie flüchtete nach Istanbul, wo sie sich drei Monate aufhielt

und kaum die Wohnung verließ. .......

In den Einvernahmen gaben Sie jedoch durchwegs an, in Istanbul fünf Monate aufhältig gewesen zu sein (in der Erstbefragung waren es sogar sechs Monate). Zudem haben Sie die ersten zwei Monate in Istanbul in einer Bäckerei gearbeitet, dies ist ein Indiz dafür, dass Sie sehr wohl die Wohnung verlassen haben.

Selbst für den Fall der hypothetischen Wahrunterstellung Ihrer Angaben liegt kein relevanter Sachverhalt vor:

Sie haben eine Verfolgung durch nichtstaatliche Organe, nämlich durch Ihren Vater, Ihre Brüder und Ihren vermeintlich zukünftigen Ehegatten geltend gemacht. Eine Verfolgung von Seiten Dritter (nichtstaatlichen Verfolgung) ist jedoch nur dann als asylrelevant anzusehen, wenn es aufgrund mangelnder bzw. nicht vorhandener Schutzwilligkeit und Schutzfähigkeit des Staates weder möglich noch zumutbar ist, sich zur Abwehr der Verfolgung unter den Schutz des Heimatstaates zu stellen.

Vorliegend sind den Länderfeststellungen und auch Ihrem Vorbringen keine konkreten Hinweise zu entnehmen, dass keine ausreichenden Schutzmechanismen der zuständigen staatlichen Behörden vorhanden wären, um den Eintritt eines von Ihnen für möglich gehaltenen Erfolges mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit nicht eintreten zu lassen. Sie haben angegeben, dass Sie einmalig bei der Polizei in XXXX gewesen seien und diese Ihnen nicht geholfen hätte. Es kann aufgrund einer einzelnen Nichtvornahme von Maßnahmen bzw. dem Fehlverhalten eines einzelnen Polizisten nicht darauf geschlossen werden, dass der gesamte Polizeiapparat oder übergeordnete Behörden nicht schutzwillig und schutzfähig wären.

Aus Behauptungen, Polizeikräfte würden nicht ordnungsgemäß arbeiten, kann keineswegs abgeleitet werden, dass es von vornherein klar war, dass die staatlichen Stellen des Herkunftsstaates vor Verfolgung nicht schützen können oder wollen und kann somit nicht von mangelnder Schutzfähigkeit und Schutzwilligkeit ausgegangen werden. Vielmehr wäre in Ihrem Interesse gewesen, sich entsprechend zu informieren und sich an staatliche Hilfe bzw. einen Ombudsmann oder eine der zahlreichen NGO's zu wenden, was jedoch nicht einmal ansatzweise versucht wurde.

Die geschilderten Drohungen/Übergriffe stellen amtswegig zu verfolgende strafbare Handlungen dar. Aus den Länderberichten geht insbesondere auch hervor, dass von einer grundsätzlich ausreichenden Schutzfähigkeit und -willigkeit des türkischen Staates ausgegangen werden darf, wenngleich gewisse Defizite durchaus zugestanden werden.

Zusammenfassend ist es Ihnen nicht gelungen, die Behörde von der Glaubwürdigkeit hinsichtlich einer konkret gegen Ihre Person gerichteten asylrelevanten Bedrohung zu überzeugen, dies vorwiegend wegen der Widersprüche zwischen Ihrem Vorbringen und dem LIB, Ihrem Vorbringen und der eingereichten Stellungnahme und dem phasenweisen nicht plausiblen Aussagen."

In rechtlicher Hinsicht wurde ausgeführt, dass keine Verfolgung aus Gründen der GFK gegeben sei. Aus dem Umstand der bloßen Volksgruppenzugehörigkeit könne keine asylrelevante Verfolgungsgefahr abgeleitet werden, zudem stehe der Beschwerdeführerin Istanbul als innerstaatliche Fluchtalternative offen. Der von der Beschwerdeführerin vorgebrachte Fluchtgrund sei zudem nicht glaubhaft. Nachteile allgemeiner Natur seien hinzunehmen. Es ergebe sich auch kein Hinweis darauf, dass die Zurückweisung, Zurückschiebung oder Abschiebung in die Türkei eine reale Gefahr einer Verletzung von Art. 2 EMRK, Art. 3 EMRK oder der Protokolle Nr. 6 oder Nr. 13 zur Konvention bedeuten würde. Es sei nicht zu erwarten, dass die Beschwerdeführerin im Falle der Abschiebung in eine aussichtslose Situation geraten würde. Nach Abwägung aller Interessen ergebe sich, dass eine Rückkehrentscheidung zulässig sei.

6. Gegen diesen Bescheid erhob die Beschwerdeführerin fristgerecht Beschwerde wegen Rechtswidrigkeit seines Inhalts, mangelhafter bzw. unrichtiger Bescheidbegründung sowie Rechtswidrigkeit infolge der Verletzung von Verfahrensvorschriften.

II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:

1. Feststellungen:

Die Beschwerdeführerin ist türkische Staatsangehörige, Kurdin und sunnitische Muslimin. Die Beschwerdeführerin ist in XXXX im Bezirk XXXX geboren und lebte dort bis zu ihrem 18. Lebensjahr. Danach lebte sie in XXXX in ihrer eigenen Wohnung. Sie besuchte fünf Jahre die Volksschule und drei Jahre eine Mittelschule.

Die Beschwerdeführerin arbeitete von 1999 bis 2007 als Aufsichtsperson in einem Mädcheninternat. Ab 2007 arbeitete sie für zwei Jahre in einer Schneiderei. Danach arbeitete sie als Sachbearbeiterin und Friseurin. Vor ihrer Ausreise aus der Türkei lebte sie ca. fünf Monate in Istanbul und arbeitete dort zwei Monate in einer Bäckerei.

In XXXX besitzt die Beschwerdeführerin zwei Wohnungen. In XXXX leben noch ihre Eltern und drei Schwestern sowie drei Brüder.

Die Beschwerdeführerin verließ ca. Ende März 2014 die Türkei und reiste schlepperunterstützt in das österreichische Bundesgebiet ein, wo sie am 04.04.2014 den gegenständlichen Antrag auf internationalen Schutz stellte.

Der von der Beschwerdeführerin vorgebrachte Fluchtgrund wird der Entscheidung mangels Glaubhaftigkeit nicht zugrunde gelegt. Eine konkrete Verfolgungsgefahr aufgrund der Volksgruppenzugehörigkeit der Beschwerdeführerin konnte nicht festgestellt werden.

Die Beschwerdeführerin hat keine Verwandte in Österreich und hat keine Kinder. Sie führt seit 2014 eine Lebensgemeinschaft mit einem türkischen Staatsangehörigen, der einen Aufenthaltstitel für Österreich hat. Die Beschwerdeführerin ist gesund. Sie ist nicht berufstätig und besucht keine Kurse. Sie hat bislang zwei Deutschprüfungen bis zum Niveau B1 absolviert. Sie hat Kontakte zu anderen Deutschkursteilnehmern. Sie ist kein Mitglied eines Vereins oder einer sonstigen Organisation. Die Beschwerdeführerin ist strafrechtlich unbescholten und bezieht Leistungen aus der Grundversorgung.

Zur Lage in der Türkei werden folgende Feststellungen getroffen:

Politische Lage

Die Türkei ist eine Präsidialrepublik und laut Art. 2 ihrer Verfassung ein demokratischer, laizistischer und sozialer Rechtsstaat auf der Grundlage öffentlichen Friedens, nationaler Solidarität, Gerechtigkeit und der Menschenrechte sowie den Grundsätzen ihres Gründers Atatürk besonders verpflichtet. Staats- und Regierungschef ist seit Einführung des präsidialen Regierungssystems (9.7.2018) der Staatspräsident, der die politischen Geschäfte führt (AA 3.8.2018).

Der Präsident wird für eine Amtszeit von fünf Jahren direkt gewählt und kann bis zu zwei Amtszeiten innehaben, mit der Möglichkeit einer dritten Amtszeit, wenn während der zweiten Amtszeit vorgezogene Präsidentschaftswahlen ausgerufen werden. Erhält kein Kandidat in der ersten Runde die absolute Mehrheit der gültigen Stimmen, findet zwei Wochen später eine Stichwahl zwischen den beiden stimmenstärksten Kandidaten statt. Die 600 Mitglieder des Einkammerparlaments werden durch ein proportionales System mit geschlossenen Parteienlisten bzw. unabhängigen Kandidaten in 87 Wahlkreisen für eine Amtszeit von fünf Jahren gewählt. Wahlkoalitionen sind erlaubt. Es gilt eine 10%-Hürde für Parteien bzw. Wahlkoalitionen, die höchste unter den Staaten der OSZE und des Europarates. Die Verfassung garantiert die Rechte und Freiheiten, die den demokratischen Wahlen zugrunde liegen, nicht ausreichend, da sie sich auf Verbote zum Schutze des Staates beschränkt und der Gesetzgebung diesbezügliche unangemessene Einschränkungen erlaubt. Im Rahmen der Verfassungsänderungen 2017 wurde die Zahl der Sitze von 550 auf 600 erhöht und die Amtszeit des Parlaments von vier auf fünf Jahre verlängert (OSCE/ODIHR 25.6.2018).

Am 16.4.2017 stimmten bei einer Beteiligung von 85,43% der türkischen Wählerschaft 51,41% für die von der regierenden AKP initiierte und von der rechts-nationalistischen Partei der Nationalistischen Bewegung (MHP) unterstützte Verfassungsänderung, welche ein exekutives Präsidialsystem vorsah (OSCE 22.6.2017, vgl. HDN 16.4.2017). Die gemeinsame Beobachtungsmisson der OSZE und der Parlamentarischen Versammlung des Europarates (PACE) kritisierte die ungleichen Wettbewerbsbedingungen beim Referendum. Der Staat hat nicht garantiert, dass die WählerInnen unparteiisch und ausgewogen informiert wurden. Zivilgesellschaftliche Organisationen konnten an der Beobachtung des Referendums nicht teilhaben. Einschränkungen von grundlegenden Freiheiten aufgrund des bestehenden Ausnahmezustands hatten negative Auswirkungen. Im Vorfeld des Referendums wurden Journalisten und Gegner der Verfassungsänderung behindert, verhaftet und fallweise physisch attackiert. Mehrere hochrangige Politiker und Beamte, darunter der Staatspräsident und der Regierungschef setzten die Unterstützer der Nein-Kampagne mit Terrorsympathisanten oder Unterstützern des Putschversuchs vom Juli 2016 gleich (OSCE/PACE 17.4.2017). Die oppositionelle Republikanische Volkspartei (CHP) und die pro-kurdische Demokratische Partei der Völker (HDP) legten bei der Obersten Wahlkommission Beschwerde ein, dass 2,5 Millionen Wahlzettel ohne amtliches Siegel verwendet worden seien. Die Kommission wies die Beschwerde zurück (AM 17.4.2017). Gegner der Verfassungsänderung demonstrierten in den größeren Städten des Landes gegen die vermeintlichen Manipulationen (AM 18.7.2017). Die OSZE kritisiert eine fehlende Bereitschaft der türkischen Regierung zur Klärung von Manipulationsvorwürfen (FAZ 19.4.2017).

Bei den vorgezogenen Präsidentschaftswahlen am 24.6.2018 errang Amtsinhaber Recep Tayyip Erdogan 52,6% der Stimmen, sodass ein möglicher zweiter Wahlgang obsolet wurde. Bei den gleichzeitig stattfindenden Parlamentswahlen erhielt die regierende AK-Partei 42,6% der Stimmen und 295 der 600 Sitze im Parlament. Zwar verlor die AKP die absolute Mehrheit, doch durch ein Wahlbündnis mit der rechts-nationalistischen Partei der Nationalistischen Bewegung (MHP) unter dem Namen "Volksbündnis", verfügt sie über eine Mehrheit im Parlament. Die kemalistisch-sekuläre CHP gewann 22,6% bzw. 146 Sitze und ihr Wahlbündnispartner, die national-konservative Iyi-Partei, eine Abspaltung der MHP, 10% bzw. 43 Mandate. Drittstärkste Partei wurde die pro-kurdische HDP mit 11,7% und 67 Mandaten (HDN 26.6.2018). Zwar hatten die Wähler und Wählerinnen eine echte Auswahl, doch bestand keine Chancengleichheit zwischen den Kandidaten und Parteien. Der amtierende Präsident und seine Partei genossen einen beachtlichen Vorteil, der sich auch in einer übermäßigen Berichterstattung der staatlichen und privaten Medien zu ihren Gunsten widerspiegelte. Zudem missbrauchte die regierende AKP staatliche Verwaltungsressourcen für den Wahlkampf. Der restriktive Rechtsrahmen und die unter dem geltenden Ausnahmezustand gewährten Machtbefugnisse schränkten die Versammlungs- und Meinungsfreiheit auch in den Medien ein. Der Wahlkampf fand in einem stark polarisierten politischen Umfeld statt (OSCE/ODIHR 25.6.2018).

Der Präsident hat die Befugnis hochrangige Regierungsbeamte zu ernennen und zu entlassen, die nationale Sicherheitspolitik festzulegen und die erforderlichen Durchführungsmaßnahmen zu ergreifen; den Ausnahmezustand auszurufen; Präsidialerlässe zu Exekutivangelegenheiten außerhalb des Gesetzes zu erlassen; das Parlament indirekt aufzulösen, indem er Parlaments- und Präsidentschaftswahlen ausruft; das Regierungsbudget aufzustellen; Vetogesetze zu erlassen; und vier von 13 Mitgliedern des Rates der Richter und Staatsanwälte und zwölf von 15 Richtern des Verfassungsgerichtshofes zu ernennen. Die traditionellen Instrumente des Parlaments zur Kontrolle der Exekutive, wie z. B. ein Vertrauensvotum und die Möglichkeit mündlicher Anfragen an die Regierung, sind nicht mehr möglich. Nur schriftliche Anfragen können an Vizepräsidenten und Minister gerichtet werden. Wenn drei Fünftel des Parlamentes zustimmen, kann dieses eine parlamentarische Untersuchung mutmaßlicher strafrechtlicher Handlungen des Präsidenten, der Vizepräsidenten und der Minister im Zusammenhang mit ihren Aufgaben einleiten. Der Grundsatz des Vorrangs von Gesetzen vor Präsidialerlässen ist im neuen System verankert. Präsident darf keine Dekrete in Bereichen erlassen, die durch die Verfassung der Legislative vorbehalten sind. Der Präsident hat das Recht, gegen jedes Gesetz ein Veto einzulegen, obgleich das Parlament mit absoluter Mehrheit ein solches Veto außer Kraft setzen kann, während das Parlament nur beim Verfassungsgericht die Nichtigkeitserklärung von Präsidialerlässen beantragen kann (EC 17.4.2018).

Unter dem Ausnahmezustand wurde die Schlüsselfunktion des Parlaments als Gesetzgeber eingeschränkt, da die Regierung auf Verordnungen mit "Rechtskraft" zurückgriff, um Fragen zu regeln, die nach dem ordentlichen Gesetzgebungsverfahren hätten behandelt werden müssen. Das Parlament erörterte nur eine Handvoll wichtiger Rechtsakte, insbesondere das Gesetz zur Änderung der Verfassung und umstrittene Änderungen seiner Geschäftsordnung. Nach den sich verschärfenden politischen Spannungen im Land wurde der Raum für den Dialog zwischen den politischen Parteien im Parlament weiter eingeschränkt. Die oppositionelle Demokratische Partei der Völker (HDP) wurde besonders an den Rand gedrängt, da viele HDP-ParlamentarierInnen wegen angeblicher Unterstützung terroristischer Aktivitäten verhaftet und zehn von ihnen ihres Mandates enthoben wurden (EC 17.4.2018). Nach dem Ende des Ausnahmezustandes am 18.7.2018 verabschiedete das türkische Parlament ein Gesetzespaket mit Anti-Terrormaßnahmen, das vorerst auf drei Jahre befristet ist (NZZ 18.7.2018; vgl. ZO 25.7.2018). In 27 Paragrafen wird geregelt, wie der Staat den Kampf gegen den Terror auch im Normalzustand weiterführen will. So behalten die Gouverneure einen Teil ihrer Befugnisse aus dem Ausnahmezustand. Sie dürfen weiterhin Menschen, bei denen der Verdacht besteht, dass sie "die öffentliche Ordnung oder Sicherheit stören", bis zu 15 Tage lang den Zugang zu bestimmten Orten und Regionen verwehren und die Versammlungsfreiheit einschränken. Grundsätzlich darf es wie im Ausnahmezustand nach Einbruch der Dunkelheit keine Demonstrationen im Freien mehr geben. Zusätzlich können sie Versammlungen mit dem Argument verhindern, dass diese "den Alltag der Bürger nicht auf extreme und unerträgliche Weise erschweren dürfen". Der neue Gesetzestext regelt im Detail, wie Richter, Sicherheitskräfte oder Ministeriumsmitarbeiter entlassen werden können. Außerdem will die Regierung wie während des Ausnahmezustandes die Pässe derer, die wegen Terrorverdachts aus dem Staatsdienst entlassen oder suspendiert werden, ungültig machen. Auch die Pässe ihrer Ehepartner können weiterhin annulliert werden (ZO 25.7.2018). Auf der Plus-Seite der gesetzlichen Regelungen steht die weitere Verkürzung der Zeit in Polizeigewahrsam ohne richterliche Anordnung von zuletzt sieben auf nun maximal vier Tage. Innerhalb von 48 Stunden nach der Festnahme sind Verdächtige an den Ort des nächstgelegenen Gerichts zu bringen. In den ersten Monaten nach dem Putsch konnten Bürger offiziell bis zu 30 Tage in Zellen verschwinden, ohne einen Richter zu sehen (NZZ 18.7.2018).

Seit der Einführung des Ausnahmezustands wurden über 150.000 Personen in Gewahrsam genommen, 78.000 verhaftet und über 110.000 Beamte entlassen, während nach Angaben der Behörden etwa 40.000 wieder eingestellt wurden, etwa 3.600 von ihnen per Dekret (EC 17.4.2018). Justizminister Abdulhamit Gül verkündete am 10.2.2017, dass rund 38.500 Mitglieder der Gülen-Bewegung, 10.000 der Arbeiterpartei Kurdistan (PKK) und rund 1.350 Mitglieder des sogenannten Islamischen Staates in der Türkei in Untersuchungshaft genommen oder verurteilt wurden. 2017 wurden von Staatsanwälten mehr als vier Millionen Untersuchungen eingeleitet. Laut Gül verhandelten die Obersten Strafgerichte 2017 mehr als sechs Millionen neue Fälle (HDN 12.2.2017). Die türkische Regierung hat Ermittlungen gegen insgesamt 612.347 Personen in der gesamten Türkei eingeleitet, weil sie in den letzten zwei Jahren angeblich "bewaffneten terroristischen Organisationen" angehört haben. Das Justizministerium gibt an, dass allein 2017 Ermittlungen gegen

457.425 Personen eingeleitet wurden, die im Sinne von Artikel 314 des Türkischen Strafgesetzbuches (TCK) als Gründer, Führungskader oder Mitglieder bewaffneter Organisationen gelten (TP 10.9.2018, vgl. SCF 7.9.2018). Mit Stand 29.8.2018 waren rund 170.400 Personen entlassen und 81.400 Personen in Gefängnissen inhaftiert (TP 29.8.2018). [siehe auch: 4. Rechtsschutz/Justizwesen,

5. Sicherheitsbhörden und 3.1. Gülen- oder Hizmet-Bewegung]

Quellen:

* AA - Auswärtiges Amt (3.8.2018): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Türkei

* AM - Al Monitor (17.4.2017): Where does Erdogan's referendum win leave Turkey?

http://www.al-monitor.com/pulse/originals/2017/04/turkey-erdogan-referendum-victory-further-uncertainty.html, Zugriff 19.9.2018

* AM - Al Monitor (18.4.2017): Calls for referendum annulment rise in Turkey,

http://www.al-monitor.com/pulse/originals/2017/04/turkey-referendum-fraud.html, Zugriff 19.9.2018

* EC - European Commission (17.4.2018): Turkey 2018 Report [SWD (2018) 153 final],

https://ec.europa.eu/neighbourhood-enlargement/sites/near/files/20180417-turkey-report.pdf, Zugriff 18.9.2018

* FAZ - Frankfurter Allgemeine Zeitung (19.4.2017): OSZE kritisiert Erdogans Umgang mit Manipulationsvorwürfen, http://www.faz.net/aktuell/tuerkei-referendum-osze-kritisiert-erdogans-umgang-mit-manipulationsvorwuerfen-14977732.html, Zugriff 19.9.2018

* HDN - Hürriyet Daily News (10.2.2017):More than 38,000 FETÖ-linked persons remanded, convicted in Turkey: Minister, http://www.hurriyetdailynews.com/more-than-38-000-feto-linked-persons-remanded-convicted-in-turkey-minister-127098, Zugriff 21.9.2018

* HDN - Hürriyet Daily News (16.4.2017): Turkey approves presidential system in tight referendum, http://www.hurriyetdailynews.com/live-turkey-votes-on-presidential-system-in-key-referendum.aspx?pageID=238&nID=112061&NewsCatID=338, Zugriff 19.9.2018

* HDN - Hürriyet Daily News (26.6.2018): 24. Juni 2018, Ergebnisse Präsidentschaftswahlen; Ergebnisse Parlamentswahlen, http://www.hurriyetdailynews.com/wahlen-turkei-2018, Zugriff 19.9.2018

* NZZ - Neue Zürcher Zeitung (18.7.2018): Wie es in der Türkei nach dem Ende des Ausnahmezustands weiter geht, https://www.nzz.ch/international/tuerkei-wie-es-nach-dem-ende-des-ausnahmezustands-weitergeht-ld.1404273, Zugriff 20.9.2018

* OSCE - Organization for Security and Cooperation in Europe (22.6.2017): Turkey, Constitutional Referendum, 16 April 2017: Final Report,

http://www.osce.org/odihr/elections/turkey/324816?download=true, Zugriff 19.9.2018

* OSCE/PACE - Organization for Security and Cooperation in Europe/ Parliamentary Assembly of the Council of Europe (17.4.2017):

INTERNATIONAL REFERENDUM OBSERVATION MISSION, Republic of Turkey - Constitutional Referendum, 16 April 2017 - Statement of Preliminary Findings and Conclusions,

https://www.osce.org/odihr/elections/turkey/311721?download=true, Zugriff 19.9.2018

* OSCE/ODIHR - Organization for Security and Co-operation in Europe/Office for Democratic Institutions and Human Rights; OSCE Parliamentary Assembly; PACE - Parliamentary Assembly of the Council of Europe (25.6.2018): International Election Observation Mission Republic of Turkey - Early Presidential and Parliamentary Elections - 24.6.2018,

https://www.osce.org/odihr/elections/turkey/385671?download=true, Zugriff 19.9.2018

* SCF - Stockholm Center for Freedom (7.9.2019): Turkish gov't investigates 612,347 people over 'armed terror organization' links in 2 years,

https://stockholmcf.org/turkish-govt-investigates-612347-people-over-armed-terror-organization-links-in-2-years/, Zugriff 21.9.2018

* TP - Turkey Purge (29.8.2018): Turkey's post-coup crackdown, https://turkeypurge.com/, Zugriff 10.10.2018

* TP - Turkey Purge (10.9.2018): 612,437 people faced terror investigations in Turkey in past 2 years: gov't, https://turkeypurge.com/612437-people-faced-terror-investigations-in-turkey-in-past-2-years-govt, Zugriff 21.9.2018

* ZO - Zeit Online (25.7.2018): Türkei verabschiedet Antiterrorgesetz,

https://www.zeit.de/politik/ausland/2018-07/tuerkisches-parlament-verabschiedung-neue-gesetze-anti-terror-massnahmen, Zugriff 20.9.2018

Sicherheitslage

Die innenpolitischen Spannungen und die bewaffneten Konflikte in den Nachbarländern Syrien und Irak haben Auswirkungen auf die Sicherheitslage. In den größeren Städten und in den Grenzregionen zu Syrien kann es zu Demonstrationen

Quelle: Bundesverwaltungsgericht BVwg, https://www.bvwg.gv.at
Zurück Haftungsausschluss Vernetzungsmöglichkeiten

Sofortabfrage ohne Anmeldung!

Jetzt Abfrage starten