TE Vfgh Erkenntnis 2019/2/26 E4224/2018

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Veröffentlicht am 26.02.2019
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Index

41/02 Staatsbürgerschaft, Pass- und Melderecht, Fremdenrecht, Asylrecht

Norm

B-VG Rassendiskriminierung ArtI Abs1
EMRK Art8
AsylG 2005 §10, §55
FremdenpolizeiG 2005 §46, §52, §55

Leitsatz

Verletzung im Recht auf Gleichbehandlung von Fremden untereinander durch Abweisung eines Aufenthaltstitels aus Gründen des Art8 EMRK und Erlassung einer Rückkehrentscheidung betreffend eine nigerianische Staatsangehörige mangels Auseinandersetzung mit ihren minderjährigen Kindern und der Situation in Nigeria

Spruch

I. Die Beschwerdeführerin ist durch das angefochtene Erkenntnis im verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf Gleichbehandlung von Fremden untereinander (ArtI Abs1 Bundesverfassungsgesetz BGBl Nr 390/1973) verletzt worden.

Das Erkenntnis wird aufgehoben.

II. Der Bund (Bundesminister für Inneres) ist schuldig, der Beschwerdeführerin zuhanden ihres Rechtsvertreters die mit € 2.616,– bestimmten Prozesskosten binnen 14 Tagen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.

Begründung

Entscheidungsgründe

I.        Sachverhalt, Beschwerde und Vorverfahren

1.       Die Beschwerdeführerin, eine nigerianische Staatsangehörige, ist ledig und hat vier Kinder, die in den Jahren 2015 bis 2018 zur Welt gekommen sind. Der Vater der Kinder und Lebensgefährte der Beschwerdeführerin verfügt über einen spanischen Aufenthaltstitel und besucht die Beschwerdeführerin regelmäßig. Die Kinder der Beschwerdeführerin und ihr Lebensgefährte sind ebenfalls nigerianische Staatsangehörige.

2.       Am 2. Februar 2009 stellte die Beschwerdeführerin einen Antrag auf internationalen Schutz. Dieser wurde mit Bescheid vom 24. April 2009 abgewiesen und ausgesprochen, dass eine Ausweisung nach Nigeria zulässig sei. Die dagegen erhobene Beschwerde wurde vom Asylgerichtshof mit Erkenntnis vom 10. Juni 2009 abgewiesen.

3.       Am 17. Februar 2014 beantragte die Beschwerdeführerin die Erteilung eines Aufenthaltstitels gemäß §56 Abs1 AsylG, änderte den Antrag jedoch mit Schriftsatz vom 8. April 2014 dahingehend ab, dass sie einen Aufenthaltstitel gemäß §55 AsylG 2005 wegen ihrer starken Bindung zu Österreich begehre.

4.       Dieser Antrag auf Erteilung eines Aufenthaltstitels gemäß §55 AsylG 2005 wurde mit Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 20. März 2015 abgewiesen. Gegenüber der Beschwerdeführerin wurde gemäß §10 Abs3 AsylG 2005 iVm §9 BFA-VG eine Rückkehrentscheidung gemäß §52 Abs3 FPG erlassen und gemäß §52 Abs9 FPG festgestellt, dass ihre Abschiebung nach Nigeria gemäß §46 FPG zulässig sei. Weiters wurde ausgesprochen, dass gemäß §55 Abs1 bis 3 FPG die Frist für die freiwillige Ausreise zwei Wochen ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung betrage.

5.       Die dagegen erhobene Beschwerde wies das Bundesverwaltungsgericht – nach Durchführung einer öffentlichen mündlichen Verhandlung – mit Erkenntnis vom 9. Oktober 2018 als unbegründet ab. Begründend führt es im Wesentlichen aus, die Beschwerdeführerin habe in Österreich, abgesehen von ihren Kindern, keine maßgeblichen persönlichen und familiären Beziehungen. Sie halte sich seit dem Jahr 2009 durchgehend in Österreich auf, habe aber zu keinem Zeitpunkt über einen Aufenthaltstitel oder eine Karte für Geduldete verfügt. Die Integrationsaspekte seien erst nach der Abweisung des Asylantrages der Beschwerdeführerin begründet worden. Die Beschwerdeführerin habe den Großteil ihres Lebens in Nigeria verbracht, von einer völligen Entwurzelung könne nicht ausgegangen werden. Nach einer Interessenabwägung im Sinne des Art8 EMRK sei der Eingriff in das Privat- und Familienleben der Beschwerdeführerin daher verhältnismäßig.

Betreffend die Kinder der Beschwerdeführerin wird Folgendes ausgeführt:

"Sie lebt […] in Lebensgemeinschaft mit […] einem ebenfalls nigerianischen Staatsangehörigen, welcher über einen spanischen Aufenthaltstitel, gültig bis 2020, verfügt. Gemeinsam haben sie die Kinder ([…] geb. am 06.10.2015, […] 19.09.2016 sowie […] am 03.09.2017). […] Die Kinder der Beschwerdeführerin sind ebenfalls nigerianische Staatsangehörige und befinden sich im anpassungsfähigen Alter. Derzeit lebt sie mit ihren drei Kindern in Linz und besucht sie ihr Lebensgefährte regelmäßig für zwei bis drei Wochen.

[…]

Die Beschwerdeführerin war vor ihrer Ausreise und nunmehr auch in Österreich als Friseurin tätig und konnte sich so ihren eigenen Lebensunterhalt und den ihrer Kinder verdienen. Es ist kein Grund ersichtlich, wieso sie ihren Lebensunterhalt nunmehr nach ihrer Rückkehr nicht ebenfalls durch adäquate Arbeit bestreiten können sollte. Zudem besteht ganz allgemein in Nigeria derzeit keine solche extreme Gefährdungslage, dass gleichsam jeder, der dorthin zurückkehrt, eine Gefährdung im Sinne des Art2 und 3 EMRK oder der Protokolle Nr 6 oder Nr 13 zur EMRK ausgesetzt wäre.

[…]

Zudem kann das Familienleben in Nigeria weitergeführt werden. Alle Familienangehörige sind nigerianische Staatsbürger und [es] befinden sich alle Kinder der Beschwerdeführerin im anpassungsfähigen Alter, sodass auch ihnen eine gemeinsame Rückkehr mit ihrer Mutter nach Nigeria zugemutet werden kann."

6.       Gegen dieses Erkenntnis richtet sich die vorliegende, auf Art144 B-VG gestützte Beschwerde, in der die Verletzung in näher bezeichneten verfassungsgesetzlich gewährleisteten Rechten behauptet und die kostenpflichtige Aufhebung des Erkenntnisses beantragt wird. Begründend wird im Wesentlichen ausgeführt, es wäre zu berücksichtigen gewesen, dass die vier Kinder der Beschwerdeführerin ebenfalls Aufenthaltstitel beantragt hätten. Ein allenfalls zu erteilender Aufenthaltstitel der Kinder würde auf die Mutter durchschlagen. Zudem wäre ein Familienverfahren durchzuführen gewesen. Da das jüngste Kind am 6. September 2018 geboren worden sei, sei evident, dass dieses nicht reisefähig sei. Das Bundesverwaltungsgericht setze sich nicht damit auseinander, ob die Beschwerdeführerin und ihre Kinder in Nigeria in eine ausweglose Lage geraten würden. Das Bundesverwaltungsgericht übersehe zudem, dass eine alleinerziehende Mutter von vier Kindern nicht einer Vollzeitbeschäftigung nachgehen und somit nicht den Lebensunterhalt bestreiten könne. Dies sei auch in Österreich schwer möglich.

7.       Das Bundesverwaltungsgericht legte die Verwaltungs- und Gerichtsakten vor, nahm von der Erstattung einer Gegenschrift jedoch Abstand.

II.      Erwägungen

1.        Die – zulässige – Beschwerde ist begründet.

2.       Nach der mit VfSlg 13.836/1994 beginnenden, nunmehr ständigen Rechtsprechung des Verfassungsgerichtshofes (s etwa VfSlg 14.650/1996 und die dort angeführte Vorjudikatur; weiters VfSlg 16.080/2001 und 17.026/2003) enthält ArtI Abs1 des Bundesverfassungsgesetzes zur Durchführung des Internationalen Übereinkommens über die Beseitigung aller Formen rassischer Diskriminierung, BGBl 390/1973, das allgemeine, sowohl an die Gesetzgebung als auch an die Vollziehung gerichtete Verbot, sachlich nicht begründbare Unterscheidungen zwischen Fremden vorzunehmen. Diese Verfassungsnorm enthält ein – auch das Sachlichkeitsgebot einschließendes – Gebot der Gleichbehandlung von Fremden untereinander; deren Ungleichbehandlung ist also nur dann und insoweit zulässig, als hiefür ein vernünftiger Grund erkennbar und die Ungleichbehandlung nicht unverhältnismäßig ist.

Diesem einem Fremden durch ArtI Abs1 leg.cit. gewährleisteten subjektiven Recht widerstreitet eine Entscheidung, wenn sie auf einem gegen diese Bestimmung verstoßenden Gesetz beruht (vgl zB VfSlg 16.214/2001), wenn das Verwaltungsgericht dem angewendeten einfachen Gesetz fälschlicherweise einen Inhalt unterstellt hat, der – hätte ihn das Gesetz – dieses als in Widerspruch zum Bundesverfassungsgesetz zur Durchführung des Internationalen Übereinkommens über die Beseitigung aller Formen rassischer Diskriminierung, BGBl 390/1973, stehend erscheinen ließe (s etwa VfSlg 14.393/1995, 16.314/2001) oder wenn es bei Erlassung der Entscheidung Willkür geübt hat (zB VfSlg 15.451/1999, 16.297/2001, 16.354/2001 sowie 18.614/2008).

Ein willkürliches Verhalten des Verwaltungsgerichtes, das in die Verfassungssphäre eingreift, liegt unter anderem in einer gehäuften Verkennung der Rechtslage, aber auch im Unterlassen jeglicher Ermittlungstätigkeit in einem entscheidenden Punkt oder dem Unterlassen eines ordnungsgemäßen Ermittlungsverfahrens überhaupt, insbesondere in Verbindung mit einem Ignorieren des Parteivorbringens und einem leichtfertigen Abgehen vom Inhalt der Akten oder dem Außerachtlassen des konkreten Sachverhaltes (zB VfSlg 15.451/1999, 15.743/2000, 16.354/2001, 16.383/2001).

3.       Ein solcher Fehler ist dem Bundesverwaltungsgericht unterlaufen:

3.1.    Im angefochtenen Erkenntnis wird festgehalten, dass die Beschwerdeführerin Mutter von vier Kindern sei und diese ebenfalls nigerianische Staatsangehörige seien. Die mögliche Fortführung des Familienlebens in Nigeria begründet das Bundesverwaltungsgericht damit, dass "[a]lle Familienangehörige[n] […] nigerianische Staatsbürger [sind] und […] sich alle Kinder der Beschwerdeführerin im anpassungsfähigen Alter [befinden], sodass auch ihnen eine gemeinsame Rückkehr mit ihrer Mutter nach Nigeria zugemutet werden kann. Des Weiteren ist die Beschwerdeführerin in Österreich als Hairstylistin bzw Babysitterin selbstständig erwerbstätig und war sie auch vor ihrer Ausreise aus Nigeria bereits als Friseurin tätig. Es kann daher davon ausgegangen werden, dass es ihr auch bei ihrer Rückkehr nach Nigeria möglich sein wird, ihren Lebensunterhalt und den ihrer Kinder zu bestreiten".

3.2.    Das Bundesverwaltungsgericht setzt sich nicht näher mit den vier – zwischen 2015 und 2018 geborenen – Kindern der Beschwerdeführerin auseinander. Das Bundesverwaltungsgericht hat es verabsäumt, darauf einzugehen, welcher Status den Kindern der Beschwerdeführerin in Österreich zukommt, ob diese einen Antrag auf Gewährung internationalen Schutzes oder Erteilung eines Aufenthaltstitels gestellt haben, in welchem Stadium sich diese Verfahren befinden und ob sie bereits abgeschlossen wurden. Darüber hinaus hat das Bundesverwaltungsgericht keine dahingehenden Feststellungen getroffen, ob der Beschwerdeführerin die alleinige Obsorge für die Kinder zukommt. Diese Umstände wären jedoch im Rahmen der Interessenabwägung nach Art8 EMRK sowohl bei der Prüfung der Voraussetzungen des Aufenthaltstitels nach §55 AsylG 2005 als auch im Rahmen der Rückkehrentscheidung zu prüfen gewesen (vgl zur Nichtberücksichtigung wesentlicher Umstände im Rahmen der Interessenabwägung nach Art8 EMRK zB VfGH 10.12.2014, E10/2014; 27.2.2018, E3775/2017).

3.3.    Da das Bundesverwaltungsgericht anscheinend davon ausgeht, dass der Beschwerdeführerin die alleinige Obsorge für die Kinder obliegt und diese daher mit der Mutter nach Nigeria zurückkehren müssen, hätte eine nähere Auseinandersetzung damit erfolgen müssen, wie sich die Lage in Nigeria für eine alleinerziehende Mutter darstellt und ob die Beschwerdeführerin als Mutter von vier Kindern in eine ausweglose Situation geraten würde. In den vom Bundesverwaltungsgericht wiedergegebenen Länderberichten wird festgehalten, dass "kein spezielles Unterstützungsprogramm für allein zurückkehrende Frauen und Mütter [besteht]. Organisationen, die Unterstützungsprogramme betreiben, konzentrieren sich hauptsächlich auf Opfer des Menschenhandels". Weitere Feststellungen in Bezug auf alleinerziehende Mütter bzw Kinder werden nicht getroffen und auch in der Begründung erfolgt keine Auseinandersetzung mit der Situation in Nigeria für alleinerziehende Mütter und deren Kinder. Insofern liegt auch in diesem Zusammenhang die Unterlassung einer erforderlichen Ermittlungstätigkeit vor (vgl zur Nichtbeiziehung von Länderberichten bzw der erforderlichen Auseinandersetzung mit diesen zB VfGH 9.6.2017, E484/2017; 9.6.2017, E832/2017; 27.2.2018, E3507/2017).

3.4.    Das Bundesverwaltungsgericht hat damit wesentliche Gesichtspunkte des konkreten Sachverhalts außer Acht gelassen und ist seiner Verpflichtung, die für die Entscheidung maßgeblichen Erwägungen im Erkenntnis substantiiert zu begründen, nicht nachgekommen (vgl VfGH 14.3.2017, E2628/2016 mwN; 27.2.2018, E3775/2017).

III.    Ergebnis

1.       Die Beschwerdeführerin ist somit durch das angefochtene Erkenntnis im verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf Gleichbehandlung von Fremden untereinander (ArtI Abs1 Bundesverfassungsgesetz BGBl 390/1973) verletzt worden. Das Erkenntnis ist daher aufzuheben.

2.       Diese Entscheidung konnte gemäß §19 Abs4 VfGG ohne mündliche Verhandlung in nichtöffentlicher Sitzung getroffen werden.

3.       Die Kostenentscheidung beruht auf §88 VfGG. In den zugesprochenen Kosten ist Umsatzsteuer in der Höhe von € 436,– enthalten. Ein Ersatz der Eingabengebühr ist nicht zuzusprechen, weil die Beschwerdeführerin Verfahrenshilfe (auch) im Umfang des §64 Abs1 Z1 lita ZPO genießt.

Schlagworte

Asylrecht, Rückkehrentscheidung, Entscheidungsbegründung, Ermittlungsverfahren, Privat- und Familienleben, Kinder

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:VFGH:2019:E4224.2018

Zuletzt aktualisiert am

06.05.2019
Quelle: Verfassungsgerichtshof VfGH, http://www.vfgh.gv.at
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