TE Vfgh Erkenntnis 2019/2/26 E3079/2018

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Veröffentlicht am 26.02.2019
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Index

41/02 Staatsbürgerschaft, Pass- und Melderecht, Fremdenrecht, Asylrecht

Norm

EMRK Art8
AsylG 2005 §10
FremdenpolizeiG 2005 §46, §52, §55

Leitsatz

Verletzung im Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens durch Bestätigung einer Rückkehrentscheidung betreffend einen Staatsangehörigen des Benin; unzureichende Interessenabwägung mangels Auseinandersetzung mit dem Bestehen eines Familienlebens des Beschwerdeführers mit Ehefrau und Kind

Spruch

Der Beschwerdeführer ist durch das angefochtene Erkenntnis, soweit damit seine Beschwerde gegen die erlassene Rückkehrentscheidung, gegen den Ausspruch der Zulässigkeit der Abschiebung nach Benin und gegen die Feststellung einer 14-tägigen Frist zur freiwilligen Ausreise abgewiesen wird, in seinem verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens gemäß Art8 EMRK verletzt worden.

Das Erkenntnis wird insoweit aufgehoben.

2. Im Übrigen wird die Behandlung der Beschwerde abgelehnt.

Insoweit wird die Beschwerde dem Verwaltungsgerichtshof zur Entscheidung abgetreten.

II. Der Bund (Bundesminister für Inneres) ist schuldig, dem Beschwerdeführer zuhanden seines Rechtsvertreters die mit € 2.616,– bestimmten Prozesskosten binnen 14 Tagen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.

Begründung

Entscheidungsgründe

I.       Sachverhalt, Beschwerde und Vorverfahren

1.       Der am 15. Februar 1997 geborene Beschwerdeführer ist Staatsangehöriger von Benin und stellte nach seiner Einreise in das Bundesgebiet am 13. Juli 2015 einen Antrag auf internationalen Schutz. Zu seinen Fluchtgründen brachte er vor, er habe in einem Familienbetrieb mit seinem Bruder und dessen Ehefrau zusammengearbeitet. Eines Nachts sei in dem Haus, in dem sie wohnten und den Betrieb (Verkauf von Benzin) führten, ein Feuer ausgebrochen, bei dem der Sohn seines Bruders getötet worden sei. Der Bruder und die gesamte Familie gäben dem Beschwerdeführer die Schuld am Tod des Kindes; sein Bruder trachte ihm seit dem Tod seines Neffen nach dem Leben. Seine Mutter bestätige dies fortgesetzt in Telefongesprächen. Er könne aus Angst vor seiner Familie und insbesondere seinem Bruder, der ihn töten wolle, nicht in seinen Herkunftsstaat zurückkehren.

2.  Mit Bescheid vom 5. September 2017 wies das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl den Antrag des Beschwerdeführers auf internationalen Schutz hinsichtlich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten sowie hinsichtlich des Status des subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf seinen Herkunftsstaat Benin als unbegründet ab. Zugleich wurde ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen nicht erteilt, eine Rückkehrentscheidung erlassen, und es wurde festgestellt, dass die Abschiebung nach Benin zulässig sei. Des Weiterem räumte das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl eine Frist für die freiwillige Ausreise von 14 Tagen ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung ein.

3.  Die gegen diesen Bescheid erhobene Beschwerde wies das Bundesverwaltungsgericht mit Erkenntnis vom 18. Juni 2018 ohne Durchführung einer mündlichen Verhandlung als unbegründet ab.

3.1. Das Bundesverwaltungsgericht führt in seinen Feststellungen unter anderem zunächst aus, der volljährige Beschwerdeführer sei kinderlos, gesund und arbeitsfähig. In Österreich verfüge der Beschwerdeführer über keine Verwandten und über keine maßgeblichen privaten und familiären Beziehungen. Dies ergebe sich – so das Bundesverwaltungsgericht im Rahmen der Beweiswürdigung – aus den Angaben des Beschwerdeführers anlässlich seiner Einvernahme durch das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl.

3.2. In Benin sei der Beschwerdeführer keinen gegen seine Person gerichteten Verfolgungshandlungen wegen seiner politischen Gesinnung, der Zugehörigkeit zu einer sozialen Gruppe und zur Volksgruppe der Afrikaner oder seinem muslimischen Glauben durch staatliche Behörden ausgesetzt gewesen. Er sei weder von seinem Bruder noch von der Polizei in Benin verfolgt worden. Bei einer Rückkehr nach Benin drohe ihm keine Gefahr einer Verfolgung oder einer wie immer gearteten existenziellen Bedrohung. Dies ergebe sich aus einer Gesamtbetrachtung seiner Aussagen im Verfahren vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl und den Organen des öffentlichen Sicherheitsdienstes sowie insbesondere aus dem von dem Beschwerdeführer vorgelegten Beweismittel. Es sei nicht von einer Verfolgung des Beschwerdeführers in Benin auszugehen.

3.3. Der Beschwerdeführer habe keine konkrete, gezielt gegen seine Person gerichtete aktuelle Verfolgung maßgeblicher Intensität, die ihre Ursache in einem der in der Genfer Flüchtlingskonvention genannten Gründe hätte, glaubhaft zu machen vermocht. Selbst wenn das Vorbringen des Beschwerdeführers wahr wäre, müsse er sich auf eine innerstaatliche Fluchtalternative verweisen lassen. Er sei jung, gesund und arbeitsfähig; es sei ihm zumutbar, sich an einem anderen Ort in Benin niederzulassen und so der behaupteten Verfolgung durch seinen Bruder zu entkommen.

3.4.    Es gebe auch keinen Anhaltspunkt, dass ihm im Falle einer Rückkehr die notdürftigste Lebensgrundlage entzogen würde und die Schwelle des Art3 EMRK überschritten wäre; er sei jung, gesund, arbeitsfähig und verfüge über familiäre Kontakte in Benin. Es sei anzunehmen, dass die Grundbedürfnisse des Beschwerdeführers gedeckt werden könnten. Es herrsche auch allgemein keine solche Gefährdungslage, dass gleichsam jeder, der dorthin zurückkehre, einer Gefährdung im Sinne der Art2 und 3 EMRK oder des 6. oder 13. ZPEMRK ausgesetzt wäre.

3.5.    Der Beschwerdeführer führe nach eigenen Angaben – so das Bundesverwaltungsgericht in Bezug auf die Beschwerde gegen die erlassene Rückkehrentscheidung – keine Lebensgemeinschaft oder eine "familienähnliche" Beziehung in Österreich. Es fehlten alle Sachverhaltselemente, aus denen sich die Existenz gewisser in einem Zeitraum eines ca. drei Jahre dauernden Aufenthaltes entstandener – unter dem Gesichtspunkt des Privatlebens relevanter – Bindungen allenfalls hätte ergeben können. Gleichzeitig habe der Beschwerdeführer in seinem Herkunftsstaat, in dem er aufgewachsen sei und den Großteil seines bisherigen Lebens verbracht habe, sprachliche und kulturelle Verbindungen und auch soziale Anknüpfungspunkte. Bei einer Abwägung der widerstreitenden Interessen wögen die öffentlichen Interessen gegenüber den privaten Interessen des Beschwerdeführers schwerer. Es gebe zwar Hinweise, die für die zu beachtende Schutzwürdigkeit des Privatlebens des Beschwerdeführers ins Treffen geführt werden könnten, insbesondere könne den von ihm vorgelegten Unterstützungserklärungen entnommen werden, dass der Beschwerdeführer ein "kontaktfreudiger, freundlicher, hilfsbereiter, charaktervoller Mensch" sei und er bemüht sei, seine Kenntnisse der deutschen Sprache zu verbessern; jedoch stünden sie, auch in Anbetracht des erst dreijährigen, auf dem Status als Asylberechtigter beruhenden Aufenthaltes, dem öffentlichen Interesse an der Ausweisung nicht entgegen. Er habe sein Leben bis zu seiner Ausreise in Benin geführt, habe dort Schulen besucht und gearbeitet und spreche die Landessprache; seine Deutschkenntnisse reichten nicht aus, um die Rückkehrentscheidung für unzulässig zu erklären. In Anbetracht dieser Umstände sei die Rückkehrentscheidung nicht unzulässig. Die Abschiebung sei zulässig, und es sei eine Frist von 14 Tagen zur freiwilligen Ausreise festzusetzen.

3.6.    Eine mündliche Verhandlung habe unterbleiben können, weil der Sachverhalt durch das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl vollständig erhoben gewesen sei und die gebotene Aktualität aufgewiesen habe. Aus dem Beschwerdevorbringen hätten sich keine Anhaltspunkte ergeben, die einer weiteren Klärung bedurft hätten. Es lägen keine strittigen Sachverhalts- oder Rechtsfragen vor und es seien auch keine Beweise aufzunehmen gewesen. Das Bundesverwaltungsgericht habe sich auch keinen persönlichen Eindruck verschaffen müssen, da selbst unter Berücksichtigung aller zugunsten des Beschwerdeführers sprechenden Fakten auch dann für den Beschwerdeführer kein günstigeres Ergebnis zu erwarten sei, wenn sich das Bundesverwaltungsgericht von ihm einen persönlichen Eindruck verschafft hätte.

4.       Gegen diese Entscheidung richtet sich die vorliegende, auf Art144 B-VG gestützte Beschwerde, in der die Verletzung in näher bezeichneten verfassungsgesetzlich gewährleisteten Rechten behauptet und die kostenpflichtige Aufhebung des angefochtenen Erkenntnisses, in eventu die Abtretung der Beschwerde an den Verwaltungsgerichtshof, beantragt wird. Begründend wird dazu im Wesentlichen Folgendes ausgeführt:

4.1.    Das angefochtene Erkenntnis sei willkürlich und verletze den Beschwerdeführer in seinem Recht auf Gleichbehandlung von Fremden untereinander. Zudem liege eine Verletzung der Rechte des Beschwerdeführers aus Art47 GRC vor, weil das Bundesverwaltungsgericht die Durchführung einer mündlichen Verhandlung unterlassen habe. Der Beschwerdeführer werde außerdem in seinen verfassungsgesetzlich gewährleisteten Rechten gemäß Art2 und 3 EMRK sowie gemäß Art8 EMRK verletzt.

4.2.    Das Bundesverwaltungsgericht gehe im Rahmen seiner Feststellungen davon aus, der Beschwerdeführer sei kinderlos und verfüge in Österreich über keine maßgeblichen familiären Beziehungen. Das Bundesverwaltungsgericht ignoriere dabei, dass der Beschwerdeführer seit 28. Mai 2016 verheiratet sei und am 30. März 2018 ein Sohn zur Welt gekommen sei. Eine Kopie der Heiratsurkunde befinde sich im Akt des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl. Der Beschwerdeführer habe zum Zeitpunkt der Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichtes auch im gemeinsamen Haushalt mit seiner Ehefrau und dem Sohn gelebt. Selbst dann, wenn die Ehe nicht anerkannt werden sollte, würde immer noch eine schützenswerte Lebensgemeinschaft vorliegen. Sowohl die Ehefrau des Beschwerdeführers als auch deren gemeinsamer Sohn hätten in Österreich ebenfalls einen Antrag auf internationalen Schutz gestellt.

4.3. Dem angefochtenen Erkenntnis könne entnommen werden, dass das Bundesverwaltungsgericht sowohl in den Akt der belangten Behörde als auch in das Betreuungsinformationssystem der Grundversorgung Einsicht genommen habe. Sowohl die im Akt des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl befindliche Heiratsurkunde als auch der aus dem Betreuungsinformationssystem der Grundversorgung klar ersichtliche Umstand, dass der Beschwerdeführer zusammen mit seiner Ehefrau und seinem Sohn an einer gemeinsamen Adresse lebe, seien vom Bundesverwaltungsgericht bei der Erlassung seiner Entscheidung ignoriert worden. Sowohl dieses leichtfertige Abgehen vom Inhalt der Akten als auch das Außerachtlassen des konkreten Sachverhaltes stellten ein willkürliches Verhalten des Bundesverwaltungsgerichtes dar, das in die Verfassungssphäre des Beschwerdeführers eingreife und ihn in seinem Recht auf Gleichbehandlung von Fremden untereinander verletze, weshalb das angefochtene Erkenntnis bereits aus diesem Grund aufzuheben sei.

4.4. Auch wenn sich sowohl die Heirat als auch die Geburt des Sohnes bereits aus den Akten ergäben, solle an dieser Stelle klarstellend angemerkt werden, dass angesichts der bereits in der Beschwerde gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl dargelegten gravierenden Verfahrensmängel auch der vom Bundesverwaltungsgericht angeführte Verstoß gegen das Neuerungsverbot gemäß §20 Abs1 BFA-VG jedenfalls unbeachtlich sei.

4.5. Der Beschwerdeführer sei den Feststellungen des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl in seiner Beschwerde substantiiert entgegengetreten, und da das Bundesverwaltungsgericht seine Begründung ganz wesentlich auf die Unglaubwürdigkeit des Beschwerdeführers stütze, hätte es sich selbst ein Bild machen müssen. Die Einvernahme des Beschwerdeführers vor der Behörde habe vor der Heirat und vor der Geburt des Sohnes stattgefunden; der Beschwerdeführer hätte auf diese – dem Bundesverwaltungsgericht aus den Akten grundsätzlich ersichtlichen – Umstände im Rahmen einer mündlichen Verhandlung noch einmal hinweisen können bzw hätten weitere Ermittlungen in diesem Rahmen stattfinden müssen, weil sich der entscheidungswesentliche Sachverhalt gerade hinsichtlich der Frage der Zulässigkeit einer Rückkehrentscheidung beinahe täglich ändern könne. Die Durchführung einer mündlichen Verhandlung wäre aus diesen Gründen zwingend notwendig gewesen.

4.6. Der Beschwerdeführer habe die wohlbegründete Furcht vor Verfolgung im Herkunftsstaat objektiv nachvollziehbar dargelegt. Wie den Länderfeststellungen entnommen werden könne, sei der Herkunftsstaat nicht in der Lage, den Beschwerdeführer hinreichend vor der Verfolgung durch seinen Bruder und seine Familie zu schützen. Auch die Verhängung der Todesstrafe könne in Benin nicht ausgeschlossen werden. Der Beschwerdeführer könne – entgegen der Annahme des Bundesverwaltungsgerichtes – nicht auf die Unterstützung seiner Familie im Herkunftsstaat zurückgreifen, weil die Verfolgung gerade von dieser ausgehe.

4.7. Das Bundesverwaltungsgericht habe zudem unberücksichtigt gelassen, dass der Beschwerdeführer am Erwerbsleben teilnehme und ohne Grundlage davon ausgehe, dass er keine hinreichenden Deutschkenntnisse besitze. Das Bundesverwaltungsgericht berücksichtige bei der Erlassung seiner Entscheidung auch die Auswirkungen der Entscheidung auf das Wohl des Kindes des Beschwerdeführers nicht. Maßgeblich sei, dass das Kind ein Kontaktrecht zu beiden Elternteilen habe. Die Ausübung dieses Kontaktrechtes sei im Falle einer Abschiebung des Beschwerdeführers für sein Kind nicht möglich; ein Ersatz über Wege der Telekommunikation komme bei dem Sohn des Beschwerdeführers, der noch ein Kleinkind sei, nicht in Betracht.

5. Das Bundesverwaltungsgericht hat die Verwaltungs- und Gerichtsakten vorgelegt, von der Erstattung einer Gegenschrift aber abgesehen.

II.      Erwägungen

1.       Die – zulässige – Beschwerde ist, soweit sie sich gegen die erlassene Rückkehrentscheidung, gegen den Ausspruch der Zulässigkeit der Abschiebung nach Benin und gegen die Feststellung einer 14-tägigen Frist zur freiwilligen Ausreise richtet, begründet.

2.       Ein Eingriff in das durch Art8 EMRK verfassungsgesetzlich garantierte – unter Gesetzesvorbehalt stehende – Recht ist dann verfassungswidrig, wenn die ihn verfügende verwaltungsgerichtliche Entscheidung ohne jede Rechtsgrundlage ergangen ist, auf einer dem Art8 EMRK widersprechenden Rechtsvorschrift beruht oder wenn das Verwaltungsgericht bei Erlassung der Entscheidung eine verfassungsrechtlich unbedenkliche Rechtsgrundlage in denkunmöglicher Weise angewendet hat; ein solcher Fall liegt nur vor, wenn das Verwaltungsgericht einen so schweren Fehler begangen hat, dass dieser mit Gesetzlosigkeit auf eine Stufe zu stellen wäre, oder wenn es der angewendeten Rechtsvorschrift fälschlicherweise einen verfassungswidrigen, insbesondere einen dem Art8 Abs1 EMRK widersprechenden und durch Art8 Abs2 EMRK nicht gedeckten Inhalt unterstellt hat (vgl VfSlg 11.638/1988, 15.051/1997, 15.400/1999, 16.657/2002).

3.       Dem Bundesverwaltungsgericht ist bei der gemäß Art8 Abs2 EMRK gebotenen Abwägung ein solcher in die Verfassungssphäre reichender Fehler unterlaufen:

3.1.    Wie der Verfassungsgerichtshof in seinem Erkenntnis VfSlg 17.340/2004 ausgeführt hat, darf eine Aufenthaltsbeendigung nicht verfügt werden, wenn dadurch das Recht auf Schutz des Privat- und Familienlebens des Betroffenen verletzt würde. Bei der Beurteilung nach Art8 EMRK ist eine Interessenabwägung vorzunehmen (vgl die in VfSlg 18.223/2007 und 18.224/2007 wiedergegebene Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte). Im Rahmen dieser Interessenabwägung sind die Auswirkungen der Entscheidung und die Konsequenzen einer Außerlandesbringung des Beschwerdeführers auf das Familienleben und auf das Kindeswohl etwaiger Kinder des Betroffenen zu erörtern (vgl hiezu VfGH 24.9.2018, E1416/2018; zur Bedeutung der mit einer Trennung des Beschwerdeführers von seinem Kind verbundenen Auswirkungen VfSlg 19.362/2011). Einer mit der Ausweisung verbundenen Trennung von Familienmitgliedern kommt eine entscheidungswesentliche Bedeutung zu (vgl VfSlg 18.388/2008, 18.389/2008, 18.392/2008). Die Intensität der privaten und familiären Bindungen im Inland ist dabei zu berücksichtigen (VfSlg 18.748/2009).

3.2.    Zum einen sind die Auswirkungen einer Ausweisung auf das gemeinsame Familienleben von Ehegatten im Rahmen der Interessenabwägung zu berücksichtigen (vgl VfSlg 16.702/2002, 19.180/2010). Einer durch eine aufenthaltsbeendende Maßnahme drohenden Trennung von Ehegatten muss im Rahmen der Abwägung Rechnung getragen werden (vgl VfSlg 18.392/2008, 18.748/2009). Einer mit der Ausweisung verbundenen Trennung des Beschwerdeführers von einer Lebensgefährtin ist ebenfalls entscheidungswesentliche Bedeutung beizumessen (VfSlg 18.393/2008). Der Umstand, dass eine Ehe in zeitlicher Nähe zur Asylentscheidung geschlossen wird, vermag die gebotene Abwägung der Auswirkungen einer Ausweisungsentscheidung auf ein existierendes Familienleben nicht zu ersetzen (vgl VfSlg 19.180/2010).

3.3.    Zum anderen sind die Auswirkungen einer aufenthaltsbeendenden Maßnahme auf das Familienleben zwischen Eltern und Kindern in der Abwägung zu berücksichtigen. Nach ständiger Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte entsteht ein von Art8 Abs1 EMRK geschütztes Familienleben zwischen Eltern und Kind mit dem Zeitpunkt der Geburt (vgl EGMR 21.6.1988, Fall Berrehab, Appl 10.730/84 [Z21]; 26.5.1994, Fall Keegan, Appl 16.969/90 [Z44]). Diese besonders geschützte Verbindung kann in der Folge nur unter außergewöhnlichen Umständen als aufgelöst betrachtet werden (EGMR 19.2.1996, Fall Gül, Appl 23.218/94 [Z32]). Ferner ist es nach Auffassung des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte ein grundlegender Bestandteil des Familienlebens, dass sich Eltern und Kinder der Gesellschaft des jeweiligen anderen Teiles erfreuen können; die Familienbeziehung wird insbesondere nicht dadurch beendet, dass das Kind in staatliche Pflege genommen wird (vgl VfSlg 16.777/2003 mit Hinweis auf EGMR 25.2.1992, Fall Margareta und Roger Andersson, Appl 12963/87 [Z72] mwN; zu den Voraussetzungen für ein [potentielles] Familienleben zwischen einem Kind und dessen Vater siehe auch EGMR 15.9.2011, Fall Schneider, Appl 17.080/07 [Z81] mwN). Davon ausgehend kann eine unzureichende Berücksichtigung des Kindeswohles zur Fehlerhaftigkeit der Interessenabwägung und somit zu einer Verletzung des Art8 EMRK führen (vgl VfGH 28.2.2012, B1644/2000 mit Hinweis auf EGMR 31.1.2006, Fall Rodrigues da Silva und Hoogkamer, Appl 50.435/99 sowie insbesondere EGMR 28.6.2011, Fall Nunez, Appl 55.597/09; VfGH 12.10.2016, E1349/2016).

3.4.    Nach der Rechtsprechung des Verfassungsgerichtshofes sind die konkreten Auswirkungen einer Aufenthaltsbeendigung für ein Elternteil auf das Wohl eines Kindes zu ermitteln und bei der Interessenabwägung nach Art8 Abs2 EMRK zu berücksichtigen (vgl VfSlg 19.362/2011; VfGH 25.2.2013, U2241/2012; 19.6.2015, E426/2015; 9.6.2016, E2617/2015; 12.10.2016, E1349/2016; 14.3.2018, E3964/2017; 11.6.2018, E343/2018, E345/2018; 11.6.2018, E435/2018). Der Verfassungsgerichtshof nimmt an, es sei lebensfremd anzunehmen, dass der Kontakt zwischen einem Kleinkind und einem Elternteil über Telekommunikation und elektronische Medien aufrechterhalten werden könne (vgl dazu VfGH 25.2.2013, U2241/2012; 19.6.2015, E426/2015; 12.10.2016, E1349/2016; 11.6.2018, E343/2018, E345/2018).

3.5.    Nach der Rechtsprechung des Verfassungsgerichtshofes ist auch zu berücksichtigen, wenn die Lebensgefährtin eines Beschwerdeführers schwanger ist (vgl VfSlg 18.223/2007, 18.393/2008, 19.776/2013; VfGH 27.2.2018, E3775/2017). Führt der Beschwerdeführer eine Beziehung und hat er ein gemeinsames Kind, muss dem im Rahmen der Prüfung der Rechtmäßigkeit der Erlassung einer Rückkehrentscheidung Bedeutung zugemessen werden (VfSlg 18.748/2009; VfGH 27.2.2018, E3775/2017).

3.6.    Vor diesem Hintergrund erweist sich die Interessenabwägung nach Art8 Abs2 EMRK, die das Bundesverwaltungsgericht vornimmt, als unzureichend:

3.7.    Das Bundesverwaltungsgericht führt in seinen Feststellungen aus, der Beschwerdeführer sei kinderlos und er habe in Österreich keine Verwandten und keine maßgeblichen privaten und familiären Beziehungen. Im Rahmen der Beweiswürdigung stellt das Bundesverwaltungsgericht erneut fest, der Beschwerdeführer verfüge in Österreich über keine maßgeblichen persönlichen und familiären Beziehungen; dies ergebe sich aus seinen Angaben anlässlich seiner Einvernahme durch die belangte Behörde. In der rechtlichen Beurteilung zur Rückkehrentscheidung argumentiert das Bundesverwaltungsgericht, der Beschwerdeführer führe nach eigenen Angaben keine Lebensgemeinschaft oder eine "familienähnliche" Beziehung in Österreich.

3.8.    Aus den Verwaltungsakten ergibt sich, dass am 28. August 2017 bei der zuständigen Referentin in der Regionaldirektion Vorarlberg des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl die Kopie einer Heiratsurkunde eingegangen ist, die von einem Referenten der Erstaufnahmestelle West des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl übersendet wurde. Die Heiratsurkunde hatte, so die Angaben des im Akt befindlichen E-Mails, die behauptete Ehefrau des Beschwerdeführers in deren Verfahren vorgelegt. In dem E-Mail wird auch darauf hingewiesen, die behauptete Ehefrau sei "angeblich vom [Beschwerdeführer] schwanger". Angeschlossen ist ein Schriftstück, das die Überschrift "Acte de Mariage […] de l'année 2016" trägt und das mit einem Stempel versehen ist, der den Schriftzug "République du Bénin" zeigt. Auf diesem Schriftstück finden sich in der Kategorie "Ehemann" der Name und das Geburtsdatum des Beschwerdeführers. Im Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl wird die Kopie der Heiratsurkunde als vom Beschwerdeführer vorgelegtes Beweismittel angeführt; im Rahmen der Beweiswürdigung wird das Dokument auch erwähnt, und es wird ausgeführt, es stehe nicht fest, dass der Beschwerdeführer verheiratet sei. Er habe lediglich eine Kopie seiner "angeblichen Heiratsurkunde" vorgelegt, in der Einvernahme vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl im April 2016 habe er jedoch angegeben, ledig zu sein.

3.9.    Den Gerichtsakten des Bundesverwaltungsgerichtes lässt sich entnehmen, dass mit einer außerordentlichen Revision am 22. Oktober 2018 eine Geburtsurkunde beim Bundesverwaltungsgericht eingebracht wurde, die den Beschwerdeführer als Vater eines am 30. März 2018 in Bludenz geborenen Kindes ausweist und am 25. April 2018 vom Standesamts- und Staatsbürgerschaftsverband Bludenz ausgestellt wurde.

3.10.   Aus diesen Umständen ergibt sich, dass das Bundesverwaltungsgericht zum entscheidungswesentlichen Zeitpunkt aus den Verwaltungsakten zwar nicht die Geburt des Kindes, aber einen Hinweis auf eine sich in Österreich befindende Frau, die angibt, mit dem Beschwerdeführer verheiratet zu sein und von ihm ein Kind zu erwarten, entnehmen konnte. Die Kopie der Heiratsurkunde lag dem Akt des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl bei und wurde im Bescheid genannt. Die sich daraus ergebenden Hinweise auf ein in Österreich bestehendes Familienleben, sowohl zu einer Ehefrau als auch zu einem Kind, hätten das Bundesverwaltungsgericht veranlassen müssen, sich im Rahmen der Abwägung nach Art8 Abs2 EMRK zur Beurteilung der Rechtmäßigkeit der Rückkehrentscheidung mit dem Umstand auseinanderzusetzen, ob der Beschwerdeführer mittlerweile eine Familie gegründet hat (vgl VfGH 25.3.2013, U2241/12).

3.11.   Das Bundesverwaltungsgericht unterlässt jedoch jede Auseinandersetzung mit dem Hinweis auf ein bestehendes Familienleben und geht davon aus, der Beschwerdeführer sei kinderlos. Weder im Rahmen der Feststellungen oder der Beweiswürdigung noch im Rahmen der rechtlichen Beurteilung zur Rückkehrentscheidung erörtert das Bundesverwaltungsgericht die Möglichkeit, dass der Beschwerdeführer ein gemeinsames Kind mit einer sich in Österreich befindenden Frau haben könnte. Damit hat das Bundesverwaltungsgericht einen wesentlichen Gesichtspunkt des konkreten Sachverhaltes außer Acht gelassen (vgl VfSlg 19.776/2013; VfGH 27.2.2018, E3775/2017) und die Auswirkungen der Aufenthaltsbeendigung auf die Lebenssituation des Beschwerdeführers insoweit – trotz entgegenstehender Hinweise in den Verwaltungsakten – vollständig außer Acht gelassen.

3.12.   Indem das Bundesverwaltungsgericht diese Umstände bei seiner Interessenabwägung nicht berücksichtigt hat, hat es – ungeachtet des Umstandes, dass das Privat- und Familienleben in einem Zeitpunkt entstanden ist, in dem sich der Beschwerdeführer seines unsicheren Aufenthaltsstatus bewusst war (vgl zur Rechtsprechung des Verfassungsgerichtshofes, wonach dieser Umstand zwar zu berücksichtigen ist, einen Eingriff in das Recht aus Art8 EMRK aber nicht ausschließt etwa VfSlg 18.223/2007; VfGH 3.10.2012, U119/12; 25.3.2013, U2241/12) – diese mit einem in die Verfassungssphäre reichenden Mangel belastet.

4.       Im Übrigen – soweit sich die Beschwerde gegen die durch das Bundesverwaltungsgericht bestätigte Nichtzuerkennung des Status des Asylberechtigten und gegen die Nichtzuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf seinen Herkunftsstaat Benin richtet – wird die Behandlung der Beschwerde abgelehnt:

Der Verfassungsgerichtshof kann die Behandlung einer Beschwerde ablehnen, wenn von der Entscheidung die Klärung einer verfassungsrechtlichen Frage nicht zu erwarten ist (Art144 Abs2 B-VG). Eine solche Klärung ist dann nicht zu erwarten, wenn zur Beantwortung der maßgebenden Fragen spezifisch verfassungsrechtliche Überlegungen nicht erforderlich sind.

Die vorliegende Beschwerde rügt die Verletzung in näher bezeichneten verfassungsgesetzlich gewährleisteten Rechten. Nach den Beschwerdebehauptungen wären diese Rechtsverletzungen aber zum erheblichen Teil nur die Folge einer – allenfalls grob – unrichtigen Anwendung des einfachen Gesetzes. Spezifisch verfassungsrechtliche Überlegungen sind zur Beurteilung der aufgeworfenen Fragen, insbesondere der Fragen, ob das Vorbringen rechtmäßig als unglaubwürdig bewertet wurde und ob das Bundesverwaltungsgericht in jeder Hinsicht hinreichend ermittelt und daraus nachvollziehbare Schlussfolgerungen gezogen hat, insoweit nicht anzustellen.

Zur behaupteten Verletzung des Art47 GRC durch die Unterlassung einer mündlichen Verhandlung wird auf das Erkenntnis des Verfassungsgerichtshofes VfSlg 19.632/2012 verwiesen.

Demgemäß wurde beschlossen, von einer Behandlung der Beschwerde, soweit sie sich gegen die Abweisung des Antrages auf Zuerkennung des Status des Asylberechtigten und gegen die Abweisung des Antrages auf Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten richtet, abzusehen und sie gemäß Art144 Abs3 B-VG dem Verwaltungsgerichtshof abzutreten (§19 Abs3 Z1 iVm §31 letzter Satz VfGG).

III. Ergebnis

1. Der Beschwerdeführer ist somit durch das angefochtene Erkenntnis, soweit damit seine Beschwerde gegen die erlassene Rückkehrentscheidung, gegen den Ausspruch der Zulässigkeit der Abschiebung nach Benin und gegen die Feststellung einer 14-tägigen Frist zur freiwilligen Ausreise abgewiesen wird, im verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens (Art8 EMRK) verletzt worden.

2. Das Erkenntnis ist daher in diesem Umfang aufzuheben, ohne dass auf das weitere Beschwerdevorbringen einzugehen ist.

3. Im Übrigen wird von der Behandlung der Beschwerde abgesehen und diese gemäß Art144 Abs3 B-VG dem Verwaltungsgerichtshof abgetreten.

4. Diese Entscheidung konnte gemäß §19 Abs4 bzw §19 Abs3 Z1 iVm §31 letzter Satz VfGG ohne mündliche Verhandlung in nichtöffentlicher Sitzung getroffen werden.

5. Die Kostenentscheidung beruht auf §88 VfGG. In den zugesprochenen Kosten ist Umsatzsteuer in Höhe von € 436,– enthalten.

Schlagworte

Asylrecht, Rückkehrentscheidung, Privat- und Familienleben, Entscheidungsbegründung, Kinder

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:VFGH:2019:E3079.2018

Zuletzt aktualisiert am

03.05.2019
Quelle: Verfassungsgerichtshof VfGH, http://www.vfgh.gv.at
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