TE Vfgh Erkenntnis 2019/2/26 E2425/2018 ua

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Veröffentlicht am 26.02.2019
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Index

41/02 Staatsbürgerschaft, Pass- und Melderecht, Fremdenrecht, Asylrecht

Norm

B-VG Art83 Abs2
AsylG 2005 §3, §20
Geschäftsverteilung des Bundesverwaltungsgerichts für das Geschäftsjahr 2017 §6, §24

Leitsatz

Entzug des gesetzlichen Richters durch Entscheidung eines (männlichen) Richters des BVwG betreffend die Abweisung des Status der Asylberechtigten bei vorgebrachter drohender Zwangsverheiratung einer weiblichen Staatsangehörigen Afghanistans

Spruch

I. Die beschwerdeführenden Parteien sind durch das angefochtene Erkenntnis im verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf ein Verfahren vor dem gesetzlichen Richter verletzt worden.

Das Erkenntnis wird aufgehoben.

II. Der Bund (Bundesminister für Inneres) ist schuldig, den beschwerdeführenden Parteien zuhanden ihres Rechtsvertreters die mit € 3.400,80 bestimmten Prozesskosten binnen 14 Tagen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.

Begründung

Entscheidungsgründe

I.        Sachverhalt, Beschwerde und Vorverfahren

1.        Die erstbeschwerdeführende Partei ist die Mutter der zweit- bis sechstbeschwerdeführenden Parteien. Sie alle sind Staatsangehörige Afghanistans und stellten in Österreich Anträge auf internationalen Schutz. In der Erstbefragung durch Organe des öffentlichen Sicherheitsdienstes gab die zweitbeschwerdeführenden Partei an, dass ein 53-jähriger Mann sie heiraten hätte wollen. Da sie selbst und ihre Mutter damit nicht einverstanden gewesen wären, seien sie geflüchtet. Dieses Vorbringen wurde auch von der erst- und drittbeschwerdeführenden Partei bestätigt und in ihren Einvernahmen vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (im Folgenden: BFA) wiederholt.

2.       Mit Bescheiden vom 26., 29. und 31. Mai 2017 wies das BFA die Anträge der beschwerdeführenden Parteien auf internationalen Schutz bezüglich der Zuerkennung des Status der Asylberechtigten gemäß §3 Abs1 iVm §2 Abs1 Z13 AsylG 2005 ab, erkannte jeweils gemäß §8 Abs1 AsylG 2005 den Status der subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Afghanistan zu und erteilte gemäß §8 Abs4 AsylG 2005 eine befristete Aufenthaltsberechtigung.

3.       Das Bundesverwaltungsgericht wies die dagegen erhobenen Beschwerden – nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung – mit Erkenntnis vom 16. Mai 2018 als unbegründet ab, wobei die Entscheidung durch einen Richter männlichen Geschlechts erfolgte.

4.       Gegen diese Entscheidung richtet sich die vorliegende, auf Art144 B-VG gestützte Beschwerde, in der die Verletzung in näher bezeichneten verfassungsgesetzlich gewährleisteten Rechten behauptet und die kostenpflichtige Aufhebung des angefochtenen Erkenntnisses beantragt wird.

5.       Das Bundesverwaltungsgericht hat die Verwaltungs- und Gerichtsakten vorgelegt, von der Erstattung einer Gegenschrift aber abgesehen.

II.      Rechtslage

1.       §20 des Bundesgesetzes über die Gewährung von Asyl (Asylgesetz 2005 – AsylG 2005), BGBl I 100/2005, idF BGBl I 68/2013 lautet:

"Einvernahmen von Opfern bei Eingriffen in die sexuelle Selbstbestimmung

§20. (1) Gründet ein Asylwerber seine Furcht vor Verfolgung (Art1 Abschnitt A Z2 der Genfer Flüchtlingskonvention) auf Eingriffe in seine sexuelle Selbstbestimmung, ist er von einem Organwalter desselben Geschlechts einzuvernehmen, es sei denn, dass er anderes verlangt. Von dem Bestehen dieser Möglichkeit ist der Asylwerber nachweislich in Kenntnis zu setzen.

(2) Für Verfahren vor dem Bundesverwaltungsgericht gilt Abs1 nur, wenn der Asylwerber den Eingriff in seine sexuelle Selbstbestimmung bereits vor dem Bundesamt oder in der Beschwerde behauptet hat. Diesfalls ist eine Verhandlung von einem Einzelrichter desselben Geschlechts oder einem aus Richtern desselben Geschlechts bestehenden Senat durchzuführen. Ein Verlangen nach Abs1 ist spätestens gleichzeitig mit der Beschwerde zu stellen.

(4) Wenn der betroffene Asylwerber dies wünscht, ist die Öffentlichkeit von der Verhandlung eines Senates oder Kammersenates auszuschließen. Von dieser Möglichkeit ist er nachweislich in Kenntnis zu setzen. Im Übrigen gilt §25 Bundesgesetz über das Verfahren der Verwaltungsgerichte (Verwaltungsgerichtsverfahrensgesetz – VwGVG), BGBl I Nr 33/2013."

2.       Die maßgeblichen Bestimmungen der Geschäftsverteilung des Bundesverwaltungsgerichtes für das Geschäftsverteilungsjahr vom 1. Februar 2017 bis 31. Jänner 2018 (im Folgenden: GV 2017) lauten auszugsweise:

"1. TEIL:

ALLGEMEINE BESTIMMUNGEN

[…]

2. Abschnitt:

Richterinnen und Richter des Bundesverwaltungsgerichtes

[…]

§6. Unzuständigkeit

(1) Eine Richterin oder ein Richter ist im Sinne dieser Geschäftsverteilung unzuständig, wenn

1. der zugehörigen Gerichtsabteilung die Rechtssache auf Grund gesetzlicher Bestimmungen nicht zugewiesen hätte werden dürfen;

[…]

4. sie oder er wegen eines behaupteten Eingriffs in die sexuelle Selbstbestimmung gemäß §20 AsylG 2005 für die betreffende Rechtssache nicht zuständig ist;

5. der zugehörigen Gerichtsabteilung die Rechtssache nach den Bestimmungen der jeweils bei der Zuweisung geltenden Geschäftsverteilung nicht zugewiesen hätte werden dürfen (z.B. wegen Annexität).

(2) Setzt die Richterin oder der Richter, deren/dessen Gerichtsabteilung die Rechtssache zugewiesen worden ist, einen außenwirksamen Akt oder erhebt sie oder er nicht rechtzeitig eine Unzuständigkeitsanzeige, so wird diese Richterin oder dieser Richter für die betreffende Rechtssache zuständig, sofern keine Unzuständigkeit iSd. Abs1 Z1, 2 oder 4 vorliegt. Besteht eine Zuweisungssperre, so wird sie oder er erst mit ihrem Wegfall zuständig. Die Übermittlung einer Mitteilung an das BFA hinsichtlich des Einlangens einer Beschwerde nach §16 Abs4 und §22 BFA-VG stellt keinen außenwirksamen Akt im Sinne dieser Geschäftsverteilung dar. Innerhalb der Zuweisungsgruppe SUB stellen Ermittlungstätigkeiten bis zur Dauer von acht Wochen keinen außenwirksamen Akt im Sinne dieser Geschäftsverteilung dar.

(3) Ist eine Richterin oder ein Richter als Einzelrichter/-in oder als Vorsitzende/Vorsitzender eines Senates in einer Rechtssache wegen eines behaupteten Eingriffs in die sexuelle Selbstbestimmung gemäß §20 AsylG 2005 unzuständig und wird aus diesem Grund diese Rechtssache erneut zugewiesen, so verliert sie oder er damit gleichzeitig auch die Zuständigkeit für alle Rechtssachen, die zu dieser Rechtssache annex sind oder zu denen diese Rechtssache annex ist.

(4) […]

[…]

3. TEIL:

ZUWEISUNG UND ABNAHME VON RECHTSSACHEN

1. Abschnitt:

Zuweisung von Rechtssachen

[…]

§24. Zuweisung von Annexsachen

(1) Annexsachen werden ohne Bedachtnahme auf die allgemeine Zuweisung einzeln den dafür jeweils zuständigen Gerichtsabteilungen zugewiesen.

(2) Annexsachen sind Rechtssachen derselben Zuweisungsgruppe, die nach Maßgabe der Bestimmungen der folgenden Absätze zu einer oder mehreren anderen, früher zugewiesenen Rechtssachen im Verhältnis der Annexität stehen. (3) Annexität liegt in folgenden Fällen vor:

1. […]

2. wenn sich eine Rechtssache nach dem AsylG 2005, dem BFA-VG, dem FPG oder dem GVG-B 2005 (Zuweisungsgruppen AFR, VIS, DUB oder SCH) auf ein Familienmitglied einer Person bezieht, auf die sich ein anderes anhängiges Verfahren nach dem AsylG 2005, dem BFA-VG (in diesen Fällen einschließlich §22a BFA-VG), dem FPG oder dem GVG-B 2005 (Zuweisungsgruppen AFR, VIS, DUB oder SCH bzw ASY oder FRE idF GV 2014) bezieht (Bezugsperson); Familienmitglieder in diesem Sinne sind:

a) der Ehegatte oder der eingetragene Partner der Bezugsperson oder eine Person, die mit der Bezugsperson im Sinne des Art8 EMRK ein Familienleben in Form einer Lebensgemeinschaft führt, sowie die Geschwister, Eltern und Kinder des Ehegatten oder des eingetragenen Partners oder des Lebensgefährten;

b) – c) […]

[…]."

III.    Erwägungen

1.       Die – zulässige – Beschwerde ist begründet.

2.       Das Recht auf ein Verfahren vor dem gesetzlichen Richter wird durch die Entscheidung eines Verwaltungsgerichtes unter anderem dann verletzt, wenn das Verwaltungsgericht eine ihm gesetzlich nicht zukommende Zuständigkeit in Anspruch nimmt (zB VfSlg 15.372/1998, 15.738/2000, 16.066/2001, 16.298/2001 und 16.717/2002).

Ein solcher Fehler ist dem Bundesverwaltungsgericht unterlaufen:

2.1.    Gründet ein Asylwerber seine Furcht vor Verfolgung auf Eingriffe in seine sexuelle Selbstbestimmung, normiert §20 AsylG 2005 in Abs1 das Gebot der Einvernahme durch Organwalter desselben Geschlechts vor der Verwaltungsbehörde und in Abs2 das Gebot der Verhandlung (und demzufolge auch Entscheidung) vor dem Bundesverwaltungsgericht durch Richter desselben Geschlechts. Davon kann nach dem insoweit klaren Gesetzeswortlaut nur abgegangen wer-den, wenn die Partei ausdrücklich anderes verlangt, und zwar vor der Verwaltungsbehörde die Einvernahme durch Organwalter des anderen Geschlechts und vor dem Bundesverwaltungsgericht die Führung der Verhandlung durch Richter des anderen Geschlechts (vgl VfGH 20.6.2018, E1273/2018 ua und bereits VfGH 25.11.2013, U1121/2012 ua).

2.2.    Die beschwerdeführenden Parteien haben in ihrer Einvernahme vor dem BFA sowie in ihrer Beschwerde an das Bundesverwaltungsgericht als Fluchtgrund vorgebracht, dass der Zweitbeschwerdeführerin in ihrem Herkunftsland Afghanistan eine Zwangsverheiratung drohe. Sie haben damit einen drohenden Eingriff in das Recht der Zweitbeschwerdeführerin auf sexuelle Selbstbestimmung im Sinne des §20 Abs2 AsylG 2005 behauptet (vgl zB VfGH 18.9.2015, E1003/2014).

2.3.    Indem das Bundesverwaltungsgericht die vorliegende Rechtssache durch einen Richter männlichen Geschlechts sowohl verhandelt als auch entschieden hat, obgleich §20 Abs2 AsylG 2005 im vorliegenden Fall anzuwenden war, hat es die Zweitbeschwerdeführerin in ihrem Recht auf ein Verfahren vor dem gesetzlichen Richter verletzt (vgl VfGH 20.6.2018, E1273/2018 ua; VfSlg 19.671/2012).

2.4.    Da die Entscheidung betreffend die Zweitbeschwerdeführerin durch einen unrichtig zusammengesetzten Spruchkörper getroffen wurde, schlägt dieser Mangel gemäß §6 Abs1 Z4 und 5 sowie Abs3 GV 2017 iVm §24 Abs1, 2 und Abs3 Z2 lita GV 2017 auf die Entscheidung betreffend die erst- und dritt- bis sechstbeschwerdeführenden Parteien durch (vgl zB VfGH 20.6.2018, E1273/2018 ua). Auch hinsichtlich dieser liegt daher insoweit jeweils eine Verletzung im Recht auf ein Verfahren vor dem gesetzlichen Richter vor.

IV.      Ergebnis

1.       Die beschwerdeführenden Parteien sind somit durch das angefochtene Erkenntnis im verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf ein Verfahren vor dem gesetzlichen Richter verletzt worden.

Das Erkenntnis ist daher aufzuheben, ohne dass auf das weitere Beschwerdevorbringen einzugehen ist.

2.       Diese Entscheidung konnte gemäß §19 Abs4 VfGG ohne mündliche Verhandlung in nichtöffentlicher Sitzung getroffen werden.

3.       Die Kostenentscheidung beruht auf §88 VfGG. In den zugesprochenen Kosten ist ein Streitgenossenzuschlag in der Höhe von € 654,– und Umsatzsteuer in der Höhe von € 566,80 enthalten. Da die beschwerdeführenden Parteien gemeinsam durch einen Rechtsanwalt vertreten sind, ist der einfache Pauschalsatz, erhöht um einen entsprechenden Streitgenossenzuschlag, zuzusprechen. Ein Ersatz der Eingabengebühr ist nicht zuzusprechen, weil die beschwerdeführenden Parteien Verfahrenshilfe (auch) im Umfang des §64 Abs1 Z1 lita ZPO genießen.

Schlagworte

Asylrecht, Gericht Zusammensetzung, Bundesverwaltungsgericht

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:VFGH:2019:E2425.2018

Zuletzt aktualisiert am

10.05.2019
Quelle: Verfassungsgerichtshof VfGH, http://www.vfgh.gv.at
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