TE Bvwg Erkenntnis 2018/9/27 L524 2200871-1

JUSLINE Entscheidung

Veröffentlicht am 27.09.2018
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Entscheidungsdatum

27.09.2018

Norm

AsylG 2005 §10 Abs1 Z3
AsylG 2005 §3
AsylG 2005 §3 Abs1
AsylG 2005 §57 Abs1
AsylG 2005 §8 Abs1
BFA-VG §9
B-VG Art.133 Abs4
EMRK Art.3
EMRK Art.8
FPG §46
FPG §52 Abs2 Z2
FPG §52 Abs9
FPG §55

Spruch

L524 2200871-1/6E

IM NAMEN DER REPUBLIK!

Das Bundesverwaltungsgericht hat durch die Richterin Mag. Veronika SANGLHUBER, LL.B. über die Beschwerde von XXXX, geb. XXXX, StA. Irak, vertreten durch RA Mag. Andreas REICHENBACH, Theobaldgasse 15/21, 1060 Wien, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 08.06.2018, Zl. 1105444003/160230278, zu Recht erkannt:

A) Die Beschwerde wird gemäß § 3 Abs. 1, § 8 Abs. 1, § 57, § 10 Abs. 1 Z 3 AsylG iVm § 9 BFA-VG, § 52 Abs. 2 Z 2 und Abs. 9, § 46 und § 55 FPG als unbegründet abgewiesen.

B) Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.

Text

ENTSCHEIDUNGSGRÜNDE:

I. Verfahrensgang:

1. Der Beschwerdeführer, ein irakischer Staatsangehöriger, stellte nach illegaler Einreise in das österreichische Bundesgebiet am 13.02.2016 einen Antrag auf internationalen Schutz. Bei der am 14.02.2016 erfolgten Erstbefragung durch ein Organ des öffentlichen Sicherheitsdienstes brachte er vor, dass er Araber, schiitischer Moslem und ledig sei. Er stamme aus XXXX und habe dort sechs Jahre die Grund- und sechs Jahre die Hauptschule sowie vier Jahre eine Universität besucht. Seine Eltern und eine Schwester befänden sich im Irak. Ein Bruder lebe in den Vereinigten Staaten von Amerika und zwei weitere Schwestern würden in den Niederlanden leben. Er habe sein Land illegal am 23.01.2016 verlassen und sei schlepperunterstützt über die Türkei, Griechenland, Mazedonien, Serbien, Kroatien und Slowenien nach Österreich gereist.

Hinsichtlich seines Fluchtgrundes gab er an (Schreibfehler im Original):

"Mein Bruder war Dolmetscher für die Amerikanische Armee und daher wurde meine ganze Familie von den schiitischen Milizen mit dem Tod bedroht. Das war im Jahr 2007 in XXXX. Ich bin 2007 dann mit meiner Familie nach XXXX zu meinem Onkel umgezogen. Dort musste ich aber immer im Haus bleiben, meine Familie auch. Unser Onkel hat uns finanziell unterstützt. Dort blieb ich bis zu meiner Flucht am 23.01.2016 nach Österreich.

Frage: Wenn Sie das Haus nicht verlassen konnte, wie haben Sie Ihr

Studium absolviert Antwort: Einer meiner Cousins ist Professor an der Universität und durch seine Kontakte musste ich nur zu den Prüfungen zur Universität nach XXXX."

Im Falle einer Rückkehr in den Irak befürchte er, getötet zu werden.

2. Bei der Einvernahme vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (im Folgenden: BFA) am 14.05.2018 gab der Beschwerdeführer an, dass er bei der Erstbefragung alle seine Fluchtgründe habe vorbringen könne. Er legte eine Kopie eines Ausweises seines Bruders, Zeugnisse bzw. Dokumente seines Bruders, Deutschkurs(anmelde)bestätigungen und eine Bestätigung bezüglich der Anmeldung auf einer Warteliste für eine Psychotherapie vom 09.05.2018 sowie einen Laborbefund vom 23.12.2017 vor. Hinsichtlich seines Gesundheitszustandes gab er an, dass er nicht schlafen könne und Depressionen habe, die er selbst diagnostiziert habe. Er habe sich nicht schon früher um eine Psychotherapie bemüht, da er sich nicht ausgekannt habe.

Der Beschwerdeführer brachte im Wesentlichen vor, er sei Araber, ledig, kinderlos und Atheist. Er sei als Moslem registriert, aber glaube nicht daran. Seine Eltern seien Schiiten. Er stamme aus XXXX. Anschließend sei er im Jahr 2007 mit seinen Eltern nach XXXX verzogen, wo er bis zu seiner Ausreise im Haus seines Onkels - zusammen mit dessen Gattin und fünf Kindern sowie seinen Eltern und einer Schwester - gewohnt habe. Seine Eltern und seine Schwester befänden sich immer noch bei diesen Personen im Irak. Sein Bruder habe den Irak im Jahr 2008 und seine beiden Schwestern in den 90er Jahren bzw. noch früher verlassen. Er habe von 1994 bis 2007 die Schule in XXXX besucht und mit Matura abgeschlossen. Er sei sechs Jahre in der Volksschule, drei Jahre in der Mittelschule und vier Jahre im Gymnasium gewesen, wobei er ein Jahr wiederholt habe. Er sei im Jahr 2004 etwa sechs Monate als Taxifahrer und anschließend im Jahr 2005 etwa ein Jahr als Verkäufer für Frauenbekleidung beruflich tätig gewesen. Er stehe mit seinem Onkel und seiner Schwester etwa einmal pro Monat telefonisch in Kontakt. Sein Onkel sei Dattelhändler und Stammesscheich. In Österreich verfüge er lediglich über oberflächliche Bekanntschaften. In seiner Freizeit besuche er Deutschkurse. Er sei weder in einem Verein noch einer anderen Organisation Mitglied. Er werde vom Staat versorgt. Er habe einen Integrationskurs absolviert und wolle demnächst eine Arbeit als Reinigungskraft beginnen.

Zu seinem Fluchtgrund gab der Beschwerdeführer Folgendes an (Schreibfehler im Original):

"[...] LA: Können Sie nochmals schildern, was die ausschlaggebenden Gründe für Ihre jetzige Ausreise waren? Was ist in Ihrer Heimat passiert, dass Sie sich zur Flucht entschlossen haben? Schildern Sie die Ereignisse in chronologischer Reihenfolge und so detailreich, dass sich ein Außenstehender ein Bild Ihrer Situation machen kann.

VP: Mein Bruder XXXX war bei den Amerikanern als Dolmetscher tätig. Wir wurden wegen ihm bedroht.

Das sind meine Fluchtgründe, weitere habe ich nicht.

LA: Wann wurden Sie bedroht?

VP: Ca. im 10ten Monat des Jahres 2007.

LA: Wie wurden Sie bedroht?

VP: Mein Bruder hat für die Amerikaner gedolmetscht und sie wollten sich an uns rächen, da er an bei den Amerikanern gearbeitet hat.

Frage wird wiederholt!

VP: Eine bewaffnete Gruppe ist zu uns nach Hause gekommen und diese Sprachen mit meinem Vater. Sie haben zu meinem Vater gesagt, dass wir Verräter seien und mit den Amerikanern zusammenarbeiten würden. Sie haben gesagt, wenn wir in dieser Stadt bleiben würden, würden sie uns töten. Ich war zum Glück nicht zu Hause. Wenn sie mich erwischt hätten, hätten sie mich getötet.

LA: Warum glauben Sie, dass man Sie umgebracht hätte?

VP: Weil mein Bruder Dolmetscher für die Amerikaner war und sie wollten an uns Rache nehmen.

LA: Warum wurde Ihr Vater dann nicht umgebracht?

VP: Die Gruppe ist wegen meinem Vater und wegen mir gekommen.

Frage wird wiederholt!

VP: Das war eine Warnung.

LA: Warum wären Sie dann gleich umgebracht worden?

VP: Weil mein Bruder als Dolmetscher gearbeitet hat.

LA: Haben diese Leute Ihrem Vater gesagt, dass Sie getötet worden wären, wenn Sie daheim gewesen wäre?

VP: Ja, sie hätten jeden getötet der zu Hause gewesen wäre. Ich weiß nicht wie sich diese Leute meinem Vater gegenüber verhalten haben, aber sie sind gekommen und haben ihn gewarnt.

LA: Welche Gruppe war das?

VP: Jaish Al Mahdi. Zirka am selben Tag haben sie ein Kuvert, mit einer Patrone, vor unser Haus gelegt. Das war nachdem sie mit meinem Vater gesprochen war. Die Drohung erfolgte in der Nacht und am nächsten Morgen lag das Kuvert vor der Türe.

LA: Gab es nach dieser Drohung noch irgendwelche Vorfälle bis zur Ausreise?

VP: Wir sind dann gleich nach XXXX umgezogen.

LA: Gab es dann in XXXX noch irgendwelche Vorfälle?

VP: Die Gruppe ist immer wieder nach XXXX gekommen.

Frage wird wiederholt!

VP: Wir wurden in XXXX bedroht und danach sind wir nach XXXX gegangen.

LA: Gab es in XXXX noch irgendwelche Drohungen?

VP: Sie befanden sich überall. Ich konnte weder von zu Hause weggehen noch einer Beschäftigung nachgehen. Ich habe dadurch Depressionen bekommen.

Frage wird wiederholt!

VP: Sie waren überall präsent.

Frage wird wiederholt!

VP: Nein. Sie waren dort nur präsent.

A: Warum sind Sie dann nicht wo anders in den Irak gegangen?

VP: Sie sind in jeder Provinz präsent.

LA: Werden Sie auch in jeder Provinz von dieser Gruppe gesucht?

VP: Ja.

LA: Woher wissen Sie das?

VP: Sie haben eine Liste der Gesuchten von denjenigen die mit den Amerikanern zusammenarbeiten.

LA: Sie haben allerdings nie mit den Amerikanern zusammengearbeitet?

VP: Ich wurde bedroht, weil mein Bruder mit den Amerikanern gearbeitet hat.

LA: Aber Sie stehen nicht auf der Liste, nachdem nur diejenigen auf der Liste stehen, welche mit den Amerikanern zusammengearbeitet haben!

VP: Aber mein Bruder steht auf der Liste, und ich wurde wegen meinem Bruder bedroht.

LA: Wie sollten diese Leute Sie finden, wenn Sie nicht auf dieser Liste stehen?

VP: Sie haben mich gesehen. Sie kennen mich.

LA: Wo wurden Sie von dieser Gruppe gesehen?

VP: Ein Sohn von unserem Nachbarn, bevor dieser sich an diese Gruppe angeschlossen hat, kennt mich, weil wir als Kinder gemeinsam großgeworden sind. Die Leute dieser Gruppe sind aus derselben Stadt und sie kennen einander.

LA: Also weiß einer dieser Gruppe wie Sie aussehen?

VP: Nein.

LA: Wissen die Leute die Ihre Nachbarn waren, oder die dies Sie kennen nicht wo Ihr Onkel lebt?

VP: Nein, wenn sie das gewusst hätten, dann wären sie gekommen. Sie haben überall Anhänger.

LA: Wie hätte diese Gruppe Sie in Bagdad finden sollen?

VP: Die haben den Namen meines Bruders und mein Name.

LA: Stehen Sie auch auf der List der Gesuchten, welche mit den Amerikanern gearbeitet haben?

VP: Die haben Listen aller gesuchten Personen.

LA: Wie groß ist die Stadt XXXX?

VP: Ich weiß nicht wie groß die Fläche von XXXX ist. Es ist eine kleine Stadt.

LA: Wie viele Einwohner hat XXXX?

VP: ich weiß es nicht.

LA: Was haben Sie 9 Jahre lang bei Ihrem Onkel getan?

VP: Ich war zu Hause wie eingesperrt. Ich konnte das Haus nicht verlassen. Ich konnte keiner Beschäftigung nachgehen, weil sie auch dort ihre Leute gehabt haben.

LA: Was für ein konkretes Interesse besteht nun noch an Ihrer Person nach fast 11 Jahren?

VP: Ich würde weiterhin verfolgt werden. Wenn ich vom Haus meines Onkel arbeiten gegangen wäre, hätten sie mich vielleicht gesehen und hätten gewusst wo ich wohne.

LA: Warum sind Ihre Eltern und Ihre Schwester nicht mit Ihnen aus dem Irak ausgereist?

VP: Meine Eltern sind ältere Menschen. Meine Schwester wollte sich um meine Eltern kümmern. Wenn eine Frau dort von zu Hause weggeht, dann muss sie eine Burka tragen und sie wird nicht erkannt, aber wenn ich das Haus verlassen hätte, dann hätten sie mich gleich erkannt.

LA: Wurden Sie jemals persönlich bedroht?

VP: Nein.

LA: Möchten Sie etwas zu Ihrem Vorbringen ergänzen?

VP: Sie kommen immer wieder ins Gebiet und sagen, dass XXXXund XXXX gesucht werden.

LA: Woher wissen Sie das?

VP: Die Freunde unserer Nachbarn kontaktieren mit meinen Eltern auf.

LA: Warum wird nur nach Ihnen und Ihrem Bruder gesucht und nicht nach Ihren Eltern?

VP: Vielleicht weil sie ältere Menschen sind, sympathisieren sie mit ihnen.

LA: Waren Sie im Heimatland oder anderswo in Strafhaft? Wenn ja, weshalb?

VP: Nein.

LA: Besteht gegen Sie ein offizieller Haftbefehl im Heimatland?

VP: Nein.

LA: Was würde bei aktueller (fiktiver) Heimkehr ins Heimatland passieren? Was würde Sie dort erwarten?

VP: Ich kann weder Arbeiten noch das Haus verlassen und bin dort der Verfolgung und Ermordung ausgesetzt. Sie sind jetzt bei den Wahlen sehr stark geworden. Sie haben für mich Anschuldigungen erfunden. Wenn ich zurückkehren würde, würden sie mich sofort verhaften.

LA: Was müsste passieren, damit Sie wieder in Ihr Heimatland zurückkehren können?

VP: Wenn ich Deutsch gelernt habe und ich einen Aufenthaltstitel bekommen habe, kehre ich nicht mehr zurück.

Frage wird wiederholt!

VP: Nichts, ich möchte auf keinen Fall in den Irak zurückkehren.

[...]

LA: Ich beende jetzt die Befragung. Hatten Sie Gelegenheit all Ihre persönlichen Gründe vorzubringen oder wollen Sie noch etwas hinzufügen?

VP: Diese Gruppe kommt immer wieder zu diesen Gebieten und sie sagen, dass sie Anschuldigungen gegen uns erfunden haben. Sie haben jetzt die große Macht. Der Innenminister ist von ihnen. Sie haben fast die Wahlen gewonnen. Sie nennen sich Kutlat Al Ahrar.

[...]"

Dem Beschwerdeführer wurde des Weiteren angeboten, in die länderkundlichen Feststellungen zur Lage im Irak Einsicht zu nehmen und hierzu gegebenenfalls eine schriftliche Stellungnahme abzugeben. Der Beschwerdeführer verzichtete auf diese Möglichkeit.

3. Mit Bescheid des BFA vom 08.06.2018, Zl. 1105444003/160230278, wurde der Antrag auf internationalen Schutz hinsichtlich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten gemäß § 3 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG 2005 abgewiesen (Spruchpunkt I.). Gemäß § 8 Abs. 1 AsylG wurde der Status des subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Irak nicht zuerkannt (Spruchpunkt II.). Ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen gemäß § 57 AsylG wurde nicht erteilt (Spruchpunkt III.). Gemäß § 10 Abs. 1 Z 3 AsylG iVm § 9 BFA-VG wurde gegen den Beschwerdeführer eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs. 2 Z 2 FPG erlassen (Spruchpunkt IV.) und gemäß § 52 Abs. 9 FPG festgestellt, dass eine Abschiebung in den Irak gemäß § 46 FPG zulässig sei (Spruchpunkt V.). Gemäß § 55 Abs. 1 bis 3 FPG betrage die Frist für die freiwillige Ausreise zwei Wochen ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung (Spruchpunkt VI.).

In der Begründung wurden zunächst die Angaben des Beschwerdeführers zu seinem Fluchtgrund in der Erstbefragung sowie die Niederschrift der Einvernahme vor dem BFA wörtlich wiedergegeben. Weiters wurden die vom Beschwerdeführer vorgelegten Dokumente angeführt. Das BFA stellte fest, dass die Identität des Beschwerdeführers feststehe, er irakischer Staatsangehöriger, Araber, schiitischer Moslem, ledig und kinderlos sei. Seine Eltern, eine Schwester und sein Onkel würden nach wie vor in XXXX leben. Er habe zehn Jahre eine Schule in XXXX besucht. Es habe nicht festgestellt werden können, ob er einer Arbeit nachgegangen sei. Er leide an keiner lebensbedrohenden Erkrankung, sei gesund, stehe nicht in ärztlicher Behandlung und nehme keine Medikamente ein. Er sei illegal nach Österreich eingereist und strafrechtlich unbescholten.

Es könne nicht festgestellt werden, dass er im Irak verfolgt oder bedroht worden sei. Insgesamt sei das Vorbringen, vor einer Miliz-Gruppe geflüchtet zu sein, nicht glaubhaft gewesen und habe er in Bezug auf seine behaupteten Fluchtgründe und hinsichtlich der Rückkehrsituation (insbesondere bezüglich der Stadt Bagdad) keinen glaubwürdigen Eindruck hinterlassen. Es könne nicht festgestellt werden, dass er im Irak vor der Ausreise einer individuellen Gefährdung oder Verfolgung im Herkunftsstaat durch staatliche Organe oder durch Dritte ausgesetzt gewesen sei oder im Falle einer Rückkehr in den Herkunftsstaat mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit ausgesetzt wäre. Eine Rückkehr nach Bagdad oder Bagdad Umgebung werde ihm zugemutet. Er könne von Österreich aus Bagdad erreichen ohne einer besonderen Gefährdung ausgesetzt zu sein. Im Entscheidungszeitpunkt bedeute seine Zurückweisung, Zurück- oder Abschiebung in den Irak keine reale Gefahr einer Verletzung von Art. 2 EMRK, Art. 3 EMRK oder der Protokolle Nr. 6 oder Nr. 13 zur Konvention oder dass diese für ihn als Zivilperson eine ernsthafte Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen Konfliktes mit sich bringen könnte.

Es habe nicht festgestellt werden können, dass eine besondere Integrationsverfestigung in Österreich bestünde. Er gehe in Österreich keiner Arbeit nach und beziehe Unterstützung durch die öffentliche Hand. Der Beschwerdeführer habe in Österreich keine Angehörigen oder sonstigen Verwandten, zu denen ein finanzielles Abhängigkeitsverhältnis bzw. eine besonders enge Beziehung bestehe. Er habe im Heimatland familiäre Anknüpfungspunkte und regle seinen Aufenthalt auf asylrechtlicher Basis. Er besuche einen Deutschkurs und sei in keinem Verein engagiert. Danach traf das BFA Feststellungen zur Lage im Irak.

Beweiswürdigend führte das BFA zu den Gründen für das Verlassen des Herkunftsstaats aus (Schreibfehler im Original):

"[...]

Sie waren keineswegs in der Lage, die Behörde davon zu überzeugen, dass Sie in Ihrem Heimatland einer Gefahr oder Verfolgung ausgesetzt waren/sind.

Sie gaben bei Ihrer Einvernahme vor dem Bundesamt konkret an, dass im Jahr 2007 eine bewaffnete Gruppe zu Ihnen nach Hause gekommen wäre und diese Ihrem Vater gesagt hätten, wenn Ihre Familie in der Stadt bleiben würde, sie sie töten würden. Sie gaben weiters an, dass Sie zum Glück nicht zu Hause gewesen wären, da man Sie sonst sofort getötet hätte. Auf die Frage, warum Sie glauben, dass Sie sofort getötet hätten werde sollen, gaben Sie an, dass Ihr Bruder Dolmetscher für die Amerikaner gewesen wäre und diese Gruppe an Ihnen Rache ausüben hätten wollen. Auf die Frage, warum dann Ihr Vater nicht umgebracht worden wäre, gaben Sie an, dass diese Gruppe wengen Ihnen und Ihrem Vater gekommen wäre und erst auf Wiederholung der Frage gaben Sie an, dass dieser Besuch nur eine Drohung gewesen wäre, womit es in keinster Weise nachvollziehbar ist, warum diese Gruppe Sie sofort hätten töten wollen. Auf die Frage warum Sie dann gleich umgebracht worden wären, und Ihr Vater nur gewarnt worden wäre, gaben Sie an, weil Ihr Bruder Dolmetscher gewesen wäre und diese Gruppe jeden getötet hätte, der im Haus gewesen wäre, womit es wiederum in keinster Weise nachvollziehbar ist, warum diese Gruppe Ihren Vater nicht gleich getötete hätte, sondern nur verwarnt hätte. Am nächsten Tag hätte diese Gruppe ein Kuvert mit einer Patrone vor Ihr Haus gelegt, was Ihren Angaben zufolge eine Todesdrohung gleichstellt. Es ist demnach in keinster Weise glaubhaft und auch nicht nachvollziehbar, warum diese Gruppe Ihren Vater warnen hätten sollen, obwohl diese die Absicht gehabt hätten Ihre Familie zu töten. Hätte diese Gruppe tatsächlich den Tod Ihrer Familie gewollt, hätte diese Gruppe Ihren Vater einfach getötet und nicht zuvor gewarnt.

Aber auch Ihr Vorbringen wonach Sie in keiner anderen Region des Iraks leben könnten, da diese Gruppe überall im Irak wäre und Sie in jeder Provinz gesucht wären, war in keinster Weise glaubhaft. Auf die Frage Woher Sie wissen würden, dass Sie in jeder Provinz gesucht werden, gaben Sie an, dass diese eine Lister der Gesuchten von denjenigen die mit den Amerikanern zusammengearbeitet hätten, hätten, wonach jedoch nicht festgestellt werden konnte, dass Sie konkret gesucht werden würden, da Sie nie für die Amerikaner gearbeitet hätten, sondern nur Ihr Bruder. Auf Vorhalt, dass Sie nicht auch der Liste stehen würden, da nur diejenigen auf der Liste stehen, welche mit den Amerikanern zusammengearbeitet haben, gaben Sie lapidar an, dass aber Ihr Bruder auf der Liste stehen würde und Sie wegen Ihrem Bruder bedroht wären. Erst als Sie konkret gefragt worden wären, wie diese Gruppe Sie in Bagdad gefunden hätte, gaben Sie an, dass diese Gruppe Ihren Namen hätte und Sie auf der Liste der Gesuchten stehen würden. Allein der Umstand, dass Sie dies erst so spät angegeben haben bezeugt doch, dass Sie keine wahrheitsgemäßen Angaben getätigt haben, sondern nur ein Konstrukt vorgebracht haben, welches Ihre Chancen auf Asylgewährung erhöhen soll.

Aber der Umstand, dass Sie bei Ihrem Onkel in XXXX mehr als acht Jahre verbracht hätten ohne das Haus zu verlassen war in keinster Weise glaubhaft, da Sie auch konkret angegeben haben, dass Sie im Jahre 2010 versucht hätten aus dem Irak zu flüchten, Ihnen dies allerdings nicht gelungen wäre. Sie gaben weiters an, dass Sie aufgrund dessen Depressionen bekommen hätten.

In diesem Zusammenhang haben Sie bei der Einvernahme vor dem Bundesamt eine Bestätigung der Anmeldung auf der Warteliste für eine Psychotherapie vorgelegt, welche am 09.05.2018 (eine Woche vor der Einvernahme) ausgestellt wurde. Somit verbrachten Sie mehr als zwei Jahre in Österreich ohne in psychologische Betreuung, womit nur davon ausgegangen werden kann, dass Sie sich bei dieser Warteliste angemeldet haben um glaubhafter darzustellen, dass Sie Probleme im Irak hätten da Sie sonst nicht mehr als zwei Jahre gewartet hätten um sich für eine Psychotherapie anzumelden.

Ein weiterer Widerspruch ergab sich, bezüglich Ihrer Schulzeit. Sie gaben konkret auf die Frage, wie lange Sie in der Schule gewesen wären an, dass Sie im Jahr 2007 die Schule abgeschlossen hätten und für 10 Jahre in die Schule gegangen wären. Auf die Frage von wann bis wann Sie konkret in der Schule gewesen wären, gaben Sie dann völlig widersprüchlich an, dass Sie von 1994 bis 2007 in der Schule gewesen wären. Auf Vorhalt wie es dann sein kann, dass Sie nur 10 Jahre in der Schule gewesen wären, gaben Sie lapidar an, dass Sie 6 Jahre in der Volksschule, 3 Jahre in der Mittelschule und 4 Jahre in einem Gymnasium gewesen wären wobei Sie ein Jahr wiederholen mussten, was allerdings auch mehr als 10 Jahre darstellen. Auf Wiederholung des Vorhaltes, gaben Sie dann völlig ausweichend an, dass Sie Dolmetscherin bei der Erstbefragung gesagt hätte, dass Sie eine Universität besucht hätten. Auf Vorhalt woher Sie wissen würden, dass die Dolmetscherin angegeben hat, dass Sie eine Universität besucht hätten geben Sie an, dass Sie es gelesen hätten, da Sie eine Kopie der Erstbefragung bekommen hätten und das Wort Universität gelesen hätten, jedoch erklärt dies noch lange nicht, wie es sein kann, dass Sie 10 Jahre in der Schule gewesen wären und dies von 1994 bis 2007 gewesen wäre.

In diesem Zusammenhang wird auf die Erstbefragung verwiesen bei der protokolliert wurde, dass Sie 6 Jahre in der Grundschule, 6 Jahre in der Hauptschule und 4 Jahre an einer Universität gewesen wären. Auf Vorhalt bei der Erstbefragung, wie es sein konnte, dass Sie einen Universitätsabschluss gemacht haben, wenn Sie das Haus nicht verlassen hätten können, gaben Sie damals an, dass Einer Ihrer Cousins Professor an einer Universität gewesen wäre und aufgrund dieser Kontakt hätten Sie nur zu den Prüfungen kommen müssen. Da bei Ihrer Erstbefragung zusätzliche Fragen und solche konkreten Antworten von Ihnen protokolliert wurden, kann nur davon ausgegangen werden, dass Sie dies auch so angegeben haben. Weiters handelt es sich bei der Erstbefragung um eine Standartprozedur, wonach auch davon auszugehen ist, dass diese Rückübersetzt und richtig protokolliert worden wäre. Da Sie dies jedoch mit keinem einzigen Wort bei der Einvernahme vor dem Bundesamt angegeben haben, kann nur davon ausgegangen werden, dass Sie dies nicht ins Treffen führen wollten, da es bereits bei der Erstbefragung zu einem Widerspruch gekommen ist und Sie auch deswegen angegeben haben, dass Ihre Erstbefragung nicht rückübersetzt worden wäre und Sie deswegen nicht wissen würden, ob diese Richtig protokolliert worden wäre. Die Behörde geht in Ihrem Fall jedoch nur davon aus, dass Sie in Ihrem Verfahren keine wahrheitsgemäßen Angaben getätigt haben, sondern lediglich ein Konstrukt, welches Ihre Chancen auf Asyl Gewährung erhöhen soll, da Sie ansonsten gleichlautende Angaben tätigen hätten können.

Ihrem Vorbringen wonach Sie Atheist wären kann kein Glaube geschenkt werden, da Sie dies erst bei der Einvernahme vor dem Bundesamt vorgebracht haben. Auf Vorhalt warum Sie nicht bereits bei der Erstbefragung angegeben haben, dass Sie Atheist sind, gaben Sie lapidar an, dass in Ihrem Personalausweis Ihre Religion als Moslem angegeben ist. Aber selbst im Falle der Glaubhaftigkeit dieses Vorbringen lässt sich feststellen, dass der Abfall des Glaubens vom Islam nicht unter Strafe steht.

Zuletzt wird noch angeführt, dass Sie angegeben haben, dass Ihre Eltern und Ihre Schwester nach wie vor bei Ihrem Onkel in XXXX leben würden und dort auch keine Probleme hätten. Auf Vorhalt warum Ihre Eltern und Ihre Schwestern nicht aus dem Irak ausgereist wären, obwohl diese mit dem Umbringen bedroht worden wären, gaben Sie an, dass Ihre Eltern ältere Menschen sind und Ihre Schwester sich um Ihre Eltern kümmern muss. Wären Sie und Ihre Familie nun tatsächlich mit dem Umbringen bedroht worden, so wäre diese genauso wie Sie aus dem Irak ausgereist.

Schlussendlich ist es Ihnen in keinster Weise gelungen, glaubhaft dazulegen, dass Sie aufgrund einer Verfolgung bzw. Furcht vor einer solchen nach Österreich kamen, sondern ist viel mehr davon auszugehen, dass Sie aufgrund des Wunsches nach Emigration, das österreichische Bundesgebiet aufsuchten. Die Gründe für Ihre Ausreise mögen im rein privaten Bereich, nämlich der Verbesserung der Lebenssituation gelegen haben, eine Verfolgung Ihrer Person konnte jedenfalls aus obengenannten Gründen nicht glaubhaft dargelegt werden.

[...]"

In rechtlicher Hinsicht wurde ausgeführt, dass der Beschwerdeführer eine konkrete, individuell gegen ihn selbst gerichtete Verfolgung nicht glaubhaft dargetan habe, sondern sein Land wegen der dort herrschenden schlechten Lage verlassen habe und es sei nicht feststellbar, dass er im Falle der Abschiebung in eine aussichtslose Situation geraten würde. Nach Abwägung aller Interessen ergebe sich, dass der Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung, insbesondere des Fremdenwesens, mehr Gewicht einzuräumen sei und ein möglicher Eingriff in seine durch Art. 8 EMRK geschützten Rechte sei nicht als unverhältnismäßig anzusehen.

4. Gegen diesen Bescheid erhob der Beschwerdeführer fristgerecht Beschwerde wegen inhaltlicher Rechtswidrigkeit und Rechtswidrigkeit infolge der Verletzung von Verfahrensvorschriften. Im Wesentlichen wird der Verfahrensgang dargestellt und das Fluchtvorbringen des Beschwerdeführers wiederholt. Weiters wird ausgeführt, dass die belangte Behörde kein ordentliches Ermittlungsverfahren geführt habe.

II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:

1. Feststellungen:

Der Beschwerdeführer ist irakischer Staatsangehöriger, Araber und schiitischer Moslem. Er stammt aus XXXX in der irakischen Provinz al-Qadisiyya und lebte ab dem Jahr 2007 mit seinen Eltern und einer Schwester bis zu seiner Ausreise - etwa 100 km südlich von Bagdad - in XXXX in der Provinz Babil im Haus seines Onkels und dessen Familie. Seine Eltern und seine Schwester sind nach wie vor in XXXX in diesem Haus bei seinem Onkel und dessen Familie wohnhaft. Ein Bruder lebt in den Vereinigten Staaten und zwei Schwestern sind in den Niederlanden aufhältig. Beim Onkel des Beschwerdeführers handelt es sich um einen Dattelhändler und Stammesscheich. Der Beschwerdeführer hat mehrere Jahre die Schule besucht.

Der Beschwerdeführer verließ ca. Ende Jänner 2016 den Irak und reiste illegal in das österreichische Bundesgebiet ein, wo er am 13.02.2016 den gegenständlichen Antrag auf internationalen Schutz stellte.

Es kann nicht festgestellt werden, dass der Beschwerdeführer Drohungen und/oder Übergriffen seitens schiitischer Milizen beziehungsweise der Mahdi-Armee wegen der für die Armee der Vereinigten Staaten erfolgten Dolmetschertätigkeiten seines Bruders ausgesetzt war.

Es kann ferner nicht festgestellt werden, dass der Beschwerdeführer vor seiner Ausreise aus seinem Herkunftsstaat einer individuellen Gefährdung oder Verfolgung in seinem Herkunftsstaat durch staatliche Organe oder durch Dritte ausgesetzt war oder er im Falle einer Rückkehr dorthin einer solchen mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit ausgesetzt wäre.

Der Beschwerdeführer führt keine Lebensgemeinschaft und hat keine Kinder. Des Weiteren hat er keine Familienangehörigen in Österreich. Der Beschwerdeführer pflegt soziale Kontakte im Bundesgebiet. Der Beschwerdeführer bezieht Leistungen aus der staatlichen Grundversorgung für Asylwerber und geht keiner Erwerbstätigkeit im Bundesgebiet nach. Er ist als voll erwerbsfähig anzusehen, etwaige gesundheitliche Einschränkungen des Beschwerdeführers sind nicht aktenkundig. Der Beschwerdeführer besucht(e) einen Integrations- und Deutschkurse. Er beherrscht die deutsche Sprache in geringem Ausmaß. Die Ablegung einer Deutschprüfung hat er bislang nicht belegt. Der Beschwerdeführer ist gesund und strafrechtlich unbescholten.

Zur Lage im Irak werden folgende Feststellungen getroffen:

KI vom 23.11.2017: Weitere Entwicklungen im Anschluss an das Kurdenreferendum, weitere Rückeroberungen von IS-Gebiet und Update Sicherheitslage mit Fokus auf Bagdad.

Am 29.10.2017 erklärte Mas'ud Barzani seinen Rücktritt als Präsident der kurdischen Region. Er lehnte in einem Brief an das kurdische Parlament eine Verlängerung seines Mandats über den 1.11.17 hinaus ab (IFK 6.11.2017). Barzani bleibt Vorsitzender der KDP (Kurdistan Democratic Party) und somit weiterhin ein wichtiger politischer Akteur. Die weiter andauernde Lähmung des kurdischen Regionalparlamentes versetzt die beiden Parteien KDP und PUK (Patriotische Union Kurdistans) weiterhin in die Lage, politische Entscheidungen ohne die Einbeziehung der Partei Goran oder anderer Parteien zu treffen (CR 14.11.2017).

Nach der Offensive der irakischen Armee und der PMF (Popular Mobilization Forces) in die von den Kurden kontrollierten Gebiete, besteht derzeit ein Waffenstillstand, es herrscht jedoch weiterhin Unsicherheit, nicht nur bezüglich der weiteren Vorgehensweise der irakischen Regierung, sondern auch die wirtschaftliche Situation Kurdistans betreffend. Unterdessen gibt es neue Beweise dafür, dass im Zuge der Offensive in den vorwiegend kurdischen Gebieten Plünderungen, Brandstiftungen, Häuserzerstörungen und willkürliche Angriffe offenbar insbesondere von Seiten der PMF (auch von Seiten turkmenischer PMF-Milizen) stattfanden. Tausende haben dabei ihre Häuser, ihre Geschäfte und ihre sonstigen Besitztümer verloren. (AI 24.10.2017; Bas 14.11.2017; HRW 20.10.2017).

Laut den Vereinten Nationen (VN) kam es im Zuge der Offensive der irakischen Regierung zur Vertreibung von zehntausenden Menschen aus den sogenannten "umstrittenen Gebieten". 180.000 Menschen sind (mit Stand 18.11.2017) nach wie vor vertrieben, 172.000 sind zurückgekehrt. Die meisten dieser Vertriebenen sind Kurden, aber auch Mitglieder anderer Minderheiten, einschließlich sunnitischer Araber und Turkmenen. Die meisten Vertriebenen lebten in den Städten Kirkuk, Daquq (Provinz Kirkuk), sowie Tuz Khurmatu (Rudaw 18.11.2017). Aus Furcht vor Repressalien kehren sie derzeit nicht in ihre Heimatgebiete zurück (Reuters 9.11.2017).

Am Abend des 12.11.2017 fand in der Grenzregion zwischen Iran und Irak ein Erdbeben der Stärke 7,3 statt. Im Irak war dabei die an der Grenze zum Iran befindliche Stadt Halabja (im Autonomen Kurdengebiet) am stärksten betroffen. Acht Menschen starben im Irak, mehr als 500 wurden verletzt und hunderte Familien wurden obdachlos. Zumindest drei Gesundheitszentren wurden beschädigt. Verglichen mit dem Iran war der Irak deutlich geringer von dem Erdbeben betroffen (UNFPA 19.11.2017).

Im Zuge der Rückeroberungen von IS-Gebieten (IS: sogenannter Islamischer Staat) werden weiterhin Massengräber gefunden. Zuletzt wurde in der Nähe der Militärbasis al-Bakara etwa drei Kilometer vor der Stadt Hawija ein Grab mit mindestens 400 Toten (mutmaßlichen IS-Opfern) entdeckt (MOI 3.11.2017; Standard 11.11.2017). Umgekehrt treten weitere Berichte von Racheakten von Seiten der Befreier zutage, laut Nahostexpertin Gudrun Harrer scheint der Zyklus der Gewalt mit dem Sieg über den IS nicht unterbrochen (Harrer 24.11.2017). Mehr als 3,1 Millionen Iraker (die überwältigende Mehrheit Sunniten) sind weiterhin Vertriebene. Weitere 2,3 Millionen sind in ihre Heimatgebiete zurückgekehrt. Für den Wiederaufbau ihrer Städte erhielten die Sunniten nicht viel Hilfe von der Zentralregierung, die sich mehr auf die Bekämpfung/Zurückdrängung des IS und zuletzt der Kurden konzentrieren (NYTimes 26.10.2017).

Ab dem 3.11.2017 mit Stand 17.11.2017 wurden die drei letzten irakischen Städte, die sich noch unter der Kontrolle des IS befanden, Al-Qaim, Ana und Rawa (alle drei im Westen des Landes) von den irakischen Streitkräften zurückerobert. Laut der US-geführten Koalition zur Bekämpfung des IS hat dieser nun 95 Prozent jener irakischen und syrischen Territorien verloren, welches er im Jahr 2014 als Kalifat ausgerufen hatte (Telegraph 17.11.2017; IFK 6.11.2017). Das Wüstengebiet nördlich der drei Städte bleibt vorerst weiterhin IS-Terrain. Die Gebiete rund um Kirkuk und Hawija gehören zu jenen Gebieten, bei denen das Halten des Terrains eine große Herausforderung darstellt. (MEE 16.11.2017; Reuters 5.11.2017; BI 13.11.2017). Es stellt sich auch die Frage, wo sich jene IS-Kämpfer aufhalten, die, nicht getötet wurden oder die nicht in Gefängnissen sitzen (Alleine in Mossul gab es vor der Rückeroberung 40.000 IS-Kämpfer). Viele sind in die Wüste geflohen oder in der Zivilbevölkerung untergetaucht. Es gab es auch umstrittene Arrangements, die den Abzug von IS-Kämpfern und ihren Familien erlaubten. Der IS ist somit nicht verschwunden, nur sein Territorium [mit Einschränkungen s.u.] (Harrer 24.11.2017).

Die folgende Grafik zeigt die massiven Gebietsverluste des IS seit Jänner 2015 (Stand 30.10.2017). Der Wüstenbereich nördlich von Al-Qaim wird je nach Quelle als Wüstengebiet oder als IS-Gebiet eingezeichnet (s. untere Karte) eingezeichnet.

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(BBC 3.11.2017)

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(Liveuamap 17.11.2017, Stand 17.11.2017)

Seit der IS Offensive im Jahr 2014 ist die Zahl der Opfer im Irak nach wie vor nicht auf den Wert der Zeit zwischen 2008 - 2014 zurückgegangen, in der im Anschluss an den konfessionellen Bürgerkrieg 2006-2007 eine Phase relativer Stabilität einsetzte (MRG 10.2017; vgl. IBC 23.11.2017). Von dem Höchstwert von 4.000 zivilen Todesopfern im Juni 2014 ist die Zahl 2016 [nach den Zahlen von Iraq Body Count] auf 1.500 Opfer pro Monat gesunken; dieser sinkende Trend setzt sich im Jahr 2017 fort (MRG 10.2017). Nach den von Joel Wing dokumentierten Vorfällen, wurden in den Monaten August, September und Oktober 2017 im Irak 2.988 Zivilisten getötet (MOI 9.-11.2017). Zu diesen Zahlen gelten die im Länderinformationsblatt Irak in Abschnitt 3.1 erwähnten Einschränkungen und Anmerkungen - kriminelle Gewalt wurde in dieser Statistik nur zum Teil berücksichtigt, Stammesgewalt gar nicht.

Beispielhaft wird im Folgenden eine Grafik angeführt, in der die von einer Sicherheitsfirma dokumentierten Vorfälle, die in Kalenderwoche 45 des Jahres 2017 stattgefunden haben, eingezeichnet sind. Die Grafik stellt jedoch nach Angaben der Quelle nicht das gesamte Ausmaß der Gewalt und der Vorfälle dar. Mehrere Vorfälle, bzw. umfangreiche und länger andauernde Gefechte werden jeweils als ein Vorfall zusammengefasst dargestellt. Darüber hinaus bleiben viele Vorfälle auf Grund von Einschränkungen durch die Regierung und Einschränkungen der Kommunikation undokumentiert:

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(CR 14.11.2017)

Im Folgenden findet sich ein von derselben Quelle erstellter Überblick über die Entwicklung der Zahl der Vorfälle von Kalenderwoche 26 - 44 des Jahres 2017:

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(CR 14.11.2017)

Im kürzlich veröffentlichten Global Peace Index (GPI)-Bericht wurde der Irak als das "dritt-unfriedlichste" Land der Welt eingestuft. Laut GPI-Bericht bleibt trotz der Zurückdrängung des IS die Stabilität und Sicherheit der Staaten Syrien und Irak weiterhin bedroht (K24 8.8.2017; vgl. Iraqinews 15.11.2017).

Bagdad:

Obwohl der IS Bagdad [kontrollgebietsmäßig] nie erreicht hat, verzeichnete die Hauptstadt laut Angaben der UN jeweils entweder die höchste oder die zweithöchste - nach der Provinz Ninewa - Anzahl an zivilen Todesopfern. Um ein Beispiel zu nennen: UNAMI berichtet, dass im Februar 2017 120 Zivilisten getötet und 300 verletzt wurden. In demselben Monat im Jahr 2016 war Bagdad der am stärksten betroffene Bezirk, UNAMI berichtete von 277 Todesopfern und 838 Verletzten. (Update: Für den Monat Oktober 2017 berichtet UNAMI 177 zivile Opfer (38 Tote, 139 Verletzte). Wichtig ist, anzumerken, dass diese Zahlen ausschließlich verifizierte Opfer inkludieren und als das absolute Minimum gesehen werden müssen [Anm.: Es gelten die in Abschnitt 3.1 des LIB Irak getätigten Aussagen und Anmerkungen]. Zum Beispiel beinhalten sie auch nicht jene Opfer, die in manchen Teilen der Stadt regelmäßig tot aufgefunden und geborgen werden (MRG 10.2017; UNAMI 1.11.2017). Nach wie vor kommt es in Bagdad täglich zu sicherheitsrelevanten Vorfällen mit zivilen Opfern (Wing 9.-11.2017; vgl. IBC 28.2.2017). Laut Reisewarnungen des Auswärtigen Amtes ist in Bagdad weiterhin mit schweren Anschlägen insbesondere auf irakische Sicherheitsinstitutionen und deren Angehörige, auf Ministerien, Hotels, öffentliche Plätze und religiöse Einrichtungen zu rechnen (AA 23.11.2017). Für die fragile Sicherheitssituation in der Hauptstadt gibt es zahlreiche Gründe. Abgesehen davon, dass es ein attraktives Ziel für Anschläge ist, beherbergten und beherbergen die Gebiete rund um Bagdad historisch entstandene Terrorzellen, u.a. von Al-Qaeda und dem IS. Dies ist insbesondere in der Nachbarprovinz Anbar im Westen, sowie im Bezirk Jurf al-Sakhar in der Provinz Babil der Fall. Dazu kommen die äußeren Bezirke Bagdads, dem sogenannten "Bagdad-Belt", der aus spärlich besiedelten ländlichen Gegenden besteht, in denen sich bewaffnete Gruppen leicht verstecken können.

Die Acht-Millionenmetropole Bagdad hat eine höhere Kriminalitätsrate als jede andere Stadt des Landes. Hauptverantwortlich dafür ist der schwache staatliche Sicherheitsapparat sowie die schwache Exekutive. Seit dem Krieg gegen den IS verblieb in Bagdad aufgrund von Militäreinsätzen in anderen Teilen des Landes phasenweise nur eine geringe Zahl an Sicherheitspersonal. Da große Teile der Armee im Sommer 2014 abtrünnig wurden, sind zum Wiederaufbau der Armee mehrere Jahre nötig. Gleichzeitig erschienen bewaffnete Gruppen, vor allem Milizen mit Verbindungen zu den 'Popular Mobilization Forces' (PMF), auf der Bildfläche, mit divergierenden Einflüssen auf die Stabilität der Stadt. Der Zusammenbruch der Armee führte zusätzlich zu einem verstärkten Zugang und zu einer größeren Verfügbarkeit von Waffen und Munition. Dazu kommt die Korruption, die in allen Einrichtungen des Sicherheitsapparates und der Exekutive herrscht. Trotz dieser Probleme gibt es aktuell eine Verbesserung der Situation, die sich auch auf die Meinung der Bewohner über den irakischen Gesetzesvollstreckungsapparat auswirkt. Obwohl konfessionell bedingte Gewalt in Bagdad existiert, ist die Stadt nicht in gleichem Ausmaß in die Spirale der konfessionellen Gewalt des Bürgerkriegs der Jahre 2006-2007 geraten. Stattdessen kommt es zu einem Anstieg der Banden-bedingten Gewalt (Bandenkriege), die meist finanziell motiviert sind, in Kombination mit Rivalitäten zwischen Sicherheitskräften/-akteuren (MRG 10.2017).

Terrorattacken:

Terrorattacken werden meist mit verschiedenen Arten von IEDs (Improvised Explosive Devices) ausgeführt, inklusive am Körper getragene ('body-born' oder BBIEDs, in Fahrzeugen transportierte ('vehicle-borne' oder S/VBIEDs) und unter Fahrzeugen befestigte Sprengfallen ('under-vehicle-borne' oder UVBTs). Dabei handelt es sich um typische Taktiken des IS. Sie zielen dabei auf große Menschenansammlungen wie z.B. auf Märkten, in Einkaufszentren und Moscheen ab, wo der Kollateralschaden maximiert werden kann. Auch wenn diese Attacken alle Teile der Stadt treffen können, sind [ethno-religiös] gemischte Gebiete besonders gefährdet. Auch werden Kontrollpunkte regelmäßig angegriffen mit dem Ziel Sicherheitskräfte zu schwächen. Wegen des hohen Verkehrsaufkommens werden an den Kontrollpunkten selten sorgfältige Fahrzeugdurchsuchungen durchgeführt, weshalb das Problem schwer einzudämmen ist (MRG 10.2017).

Es sollte auch erwähnt werden, dass UVBTs besonders häufig verwendet werden, um Individuen zu attackieren. Diese Attentate können durch persönliche oder stammesbezogene Auseinandersetzungen motiviert sein, in spezifischen Fällen sind sie politisch motiviert.

Kidnappings und Entführungen:

Kidnappings und Entführungen kommen überall in Bagdad vor, unterscheiden sich aber in Häufigkeit und Art der Opfer. Man kann generell zwischen finanziell motivierten Entführungen und denen, die politisch oder persönlich motiviert sind, unterscheiden. Während erstere von kriminellen Gangs begangen werden, werden die politisch oder persönlich motivierten von bewaffneten Gruppen oder Individuen ausgeführt. Geschätzte 65-75 Prozent können als kriminelle Akte kategorisiert werden, während zwischen einem Viertel und einem Drittel als politisch oder als Folge von persönlichen Auseinandersetzungen gesehen werden können. Die zentralen und relativ wohlhabenden Bezirke Karkh und Rusafa zeigen die höchsten Zahlen an Kidnappings und sind für etwa die Hälfte der dokumentierten Fälle des gesamten Gouvernements verantwortlich (MRG 10.2017).

Obwohl die offiziellen Daten nicht veröffentlicht wurden zeigt eine Aufzeichnung des Innenministeriums, dass in den ersten neun Monaten des Jahres 2016 in Bagdad zumindest 700 Kidnappings stattgefunden haben (MRG 10.2017).

Allerdings können sich diese in vielen Fällen überschneiden. Es wurde zum Beispiel berichtet, dass schiitische Milizen Kidnappings und Erpressungen als einkommensgenerierende Aktivitäten einsetzen. Während es sich dabei um einen kriminellen Akt handelt, kann zusätzlich auch ein politisches oder religiöses Motiv dahinter stehen. Milizen haben z.B. Mitglieder anderer Gruppen entführt und verschleppt. Opfer der von den Gruppen durchgeführten Kidnappings sind tendentiell eher Sunniten als Schiiten. Es ist auch häufig, dass Milizen Kidnappings in Gegenden, die nicht unter ihrer eigenen Kontrolle stehen, ausführen, etwa um ihre Reputation in den von ihnen kontrollierten Gebieten nicht aufs Spiel zu setzen (MRG 10.2017).

Da es zu Protesten in der Bevölkerung kam, und zu Forderungen an den Staat, Maßnahmen zu ergreifen, wurde in den letzten zwei Jahren das Thema Kidnappings in der Öffentlichkeit diskutiert. Immer wieder kam es zu Wellen von Entführungen, die gegen bestimmte Professionen und Gruppen der Gesellschaft gerichtet waren. Anfang 2017 tauchten Berichte auf, dass Sicherheitskräfte eine kriminelle Gruppe zu identifizieren suchten, die auf die Entführung von Kindern in der Gegend um Bagdad al-Jadida spezialisiert war. Im August 2017 veröffentlichte Niqash einen Artikel über eine vor Kurzem vorgefallene Serie an Kidnappings, die gegen Ärzte und medizinisches Personal gerichtet waren. Diese wurden von kriminellen Banden durchgeführt, aber auch von Stämmen, die Wiedergutmachung für Verwandte forderten, die nicht behandelt werden konnten oder die im Spital verstorben waren. Im Mai 2017 wurde eine Gruppe von Studenten und Anti-Korruptions-Aktivisten gekidnappt, angeblich von einer Miliz. Dennoch war einer der meist diskutierten Fällen die Entführung von Afrah Shawqi, einem Journalisten, der nur wenige Tage davor einen Artikel im Al-Sharq al-Awsat über die Straffreiheit von schiitischen Milizen im Irak veröffentlicht hatte. In beiden Fällen wurden die Opfer freigelassen, nachdem großer öffentlicher Druck auf den Premierminister selbst, sowie auf das Innenministerium ausgeübt worden war. Regierungsbeamte und andere politische Führungskräfte wurden ebenso ins Visier genommen wie z.B. bei jenem Fall eines hohen Beamten des Justizministeriums, der im September 2015 gekidnappt wurde, oder jenem Fall eines sunnitischen Stammesführers, dessen Entführung und Ermordung Anlass zu einer Kampagne von Amnesty International wurde (MRG 10.2017).

All diese Fälle haben Regierung und Sicherheitsdienste gezwungen, sich aktiver diesem Problem zu widmen. In vergangenen Jahren, sowie auch in den Jahren 2006-2007, war die Exekutive beinahe gänzlich außerstande, mit dieser Art der Gewalt umzugehen. Heute spricht Premierminister Abadi, der sich manchmal persönlich in Fälle involviert, lautstark über die Bedenken der Bevölkerung, und unternimmt Schritte, um die Kapazitäten der Gesetzesvollstreckung auszuweiten. Dennoch werden Milizen in erfolgreichen Fällen - wenn es Sicherheitskräften gelingt, Banden zur Anklage bringen - selten erwähnt. Es ist praktisch unmöglich einzuschätzen, wie oft die von den Sicherheitskräften Verhaftungen Mitglieder von Milizen einschließen, da Fälle von Kidnappings mit Lösegeldforderungen einfach als kriminelle Akte kategorisiert werden. Dies kann nur durch anekdotische Hinweise und durch Zeugenaussagen belegt werden. Allerdings besteht das Problem, dass die Opfer oft selber nicht wissen woher die Bedrohung kommt oder wer der Empfänger des geforderten Lösegeldes ist (MRG 10.2017).

Schießereien mit Handfeuerwaffen:

Was die Verwendung von Handfeuerwaffen betrifft, können generelle Muster zwischen dem zentralen Gebiet und der Peripherie der Provinz Bagdad unterschieden werden. Morde und Anschläge auf Zivilisten sind innerhalb der Stadt Bagdad weiter verbreitet, die Bezirke Karkh, Rusafa und Adhamiya sind diesbezüglich überrepräsentiert. Diese Anschläge richten sich z.B. gegen Geschäftsbesitzer, Anwälte sowie Angestellte der Regierung. Schießereien kommen auch in Verbindung mit Raubüberfällen vor. Zusätzlich stehen viele Tötungen in Verbindung mit Kidnappings, bei denen das Lösegeld nicht gezahlt wurde.

Im Gegensatz dazu sind Vorfälle mit Handfeuerwaffen im 'Bagdad Belt' üblicherweise gegen Sicherheitsdienste wie die Iraqi Security Forces (ISF) und Mitglieder von sunnitischen und schiitischen Milizen gerichtet, und finden meistens bei Kontrollpunkten statt. Dies kann man in Abu Ghraib, Mahmudiya und Tarmiya beobachten. Diese Gebiete verzeichnen auch eine große Anzahl an Schießereien in Verbindung mit stammesbezogenen Auseinandersetzungen (MRG 10.2017).

Konfessionalismus und Diskriminierung:

Konfessionalismus und Diskriminierung sind weiterhin ein weit verbreitetes Phänomen in Bagdad, wenn sie auch nicht dasselbe Ausmaß an Gewalt erreicht haben, der während des konfessionellen Krieges in den Jahren 2006-2007 dokumentiert wurde. Dies anzumerken, ist von wichtig, weil von vielen angenommen wurde, dass durch das Ausbreiten des IS ab 2014 frühere Muster an Gewalt nach Bagdad zurückkehren würde. Das hat er auch, allerdings in einem geringeren Ausmaß. Wie diverse Menschenrechtsberichte gezeigt haben, fachen Terrorattacken des IS in Bagdad viele Arten an Vergeltungsmaßnahmen gegen sunnitische Zivilisten an, die vorwiegend von schiitischen Milizen begangen werden. Diese beinhalten Kidnappings, Ermordungen sowie ungesetzlichen Freiheitsentzug. Dennoch ist der offensichtlichere Konfessionalismus - bei dem sunnitische Bewohner Kontrollpunkte nicht passieren konnten ohne namentlich aufgerufen zu werden und manchmal schikaniert oder festgenommen wurden - heute relativ selten. Dies trifft allerdings nicht auf sunnitische Internvertriebene (IDPs) zu, die in der Provinz Bagdad regelmäßig diskriminiert werden. Nachdem der IS in großen Teilen von Anbar und Salah al-Din die Macht ergriffen hatte, flohen Tausende nach Bagdad. In vielen Fällen war es ihnen von vorne herein nie gestattet, in die Provinz einzureisen. Die, die es dennoch geschafft haben, berichten von extrem eingeschränkter Reisefreiheit (da Personalausweise aufzeigen in welchem Gouvernement sie ausgestellt wurden), von Schwierigkeiten, als Gebietsfremde des Gouvernements an wesentliche Dokumente zu gelangen, sowie von Schikanen aufgrund des Pauschalverdachts der IS-Zugehörigkeit. Für Internvertriebene besteht, aufgrund fehlender Netzwerke für persönliche Unterstützung, auch ein größeres Risiko, entführt zu werden.

Eine weitere Seite des Konfessionalismus sind Verhaftungen, oft willkürlich, welche meist in Verbindung mit einer Anklage wegen Terrorismus nach Artikel 4 vollzogen werden und beinahe ohne Ausnahme Sunniten betreffen. Diese Festnahmen sind nach Terroranschlägen häufig, wenn Sicherheitsdienste Durchsuchungsaktionen durchführen, um Mitglieder oder Unterstützer des IS ausfindig zu machen (MRG 10.2017).

Kleinere Gemeinschaften, inklusive Minderheiten und solche, die sich in einer Minderheitssituation wiederfinden, stehen unter signifikantem Risiko. Die Anzahl an Christen in Bagdad nimmt unter dieser Bedrohungssituation weiterhin ab, wenn auch kleine christliche Gemeinden in gemischten Bezirken bestehen bleiben; so auch in Karkh und in Karrada und Palästina. Faili-Kurden (schiitische Kurden), einschließlich jener, die in Sadirya und im südlichen Teil Bagdads leben, haben unter Bombenangriffen gelitten und berichten von erhöhten Spannungen, die in Zusammenhang mit dem kurdischen Unabhängigkeitsreferendum stehen. Palästinenser, die vorwiegend in al-Baladiyat leben, sind diesen gezielten Attacken ebenso ausgesetzt und bleiben weiterhin besonders gefährdet (MRG 10.2017).

Sicherheitskräfte in der Provinz Bagdad:

Irakische Sicherheitskräfte (ISF):

Die ISF werden in Bagdad vom 'Baghdad Operations Command' (BOC) repräsentiert, Geheimdienste und irakische Polizeieinheiten, die im Bagdad Gouvernement agieren, sind dem Verteidigungsministerium unterstellt. Der BOC besteht aus mehreren Brigaden, die der 6., 11. und 17. Abteilung der irakischen Armee angehören, sowie aus spezialisierten Militär- und Polizei-Einheiten, inklusive Bereitschaftspolizei und Schutzeinheiten für Diplomaten. Die irakische Armee ist gemeinsam mit staatlichen und lokalen Polizeieinheiten für die Sicherheit verantwortlich. Zusätzlich zu regulären Sicherheitsfunktionen, sind die ISF gemeinsam mit Einheiten, die in Verbindung zum Innenministerium stehen, für die Überprüfung von Internvertriebenen und Rückkehrern und damit in Zusammenhang stehende Regulierungen zuständig (MRG 10.2017).

Polizeikräfte werden oft als Erweiterung der Badr-Partei gesehen. Darüber hinaus wird das Polizeikorps, abgesehen von Teilen der Staatspolizei, als schwer korrupt erachtet. In wenigen Ausnahmen sind Offiziere der Staatspolizei ehemalige Offiziere der Armee und werden als weniger korrupt und konfessionalistisch gesehen. Die meisten sind allerdings durch politische Einflussnahme und Vereinbarungen verschiedener Parteien an ihre Position gelangt (MRG 10.2017).

Im Allgemeinen vertraut die Bevölkerung eher der Armee als der Polizei. Die Mehrheit der Bewohner Bagdads, die in einer Umfrage einer NGO befragt wurden, ob sie in einer Notsituation die Polizei kontaktieren würden, sagten sie würden erst versuchen, das Problem selbst zu beheben. Knapp unter 50 Prozent meinten, sie würden der Polizei unter keinen Umständen Bericht erstatten. Im Vergleich dazu:

über 70 Prozent derer, die in Gebieten leben, in denen die Armee für die Sicherheit verantwortlich ist, gaben an, sie würden, wenn nötig, ihre lokalen Sicherheitskräfte kontaktieren. In derselben Umfrage wurden Bewohner gefragt, ob sie jemals Bestechungsgeld gezahlt hätten, um Unterstützung von offiziellen Sicherheitskräften zu erhalten, was 30 Prozent der Befragten bejahten. Zuletzt wurden Bewohner gefragt ob sich die Sicherheits-Situation in Bagdad verbessern oder verschlechtern würde, worauf beinahe 70 Prozent antworteten, das sie sich verbessere (MRG 10.2017).

Islamischer Staat (IS):

Der IS konnte Mitte 2014 Gebiete im Provinz Bagdad nicht unter seine Kontrolle bringen. Allerdings hat sich IS-Aktivität mehrmals vom angrenzenden Provinz Anbar in den westlichen Bezirk Abu Ghraib ausgeweitet. Teile des 'Bagdad-Belt' sind historisch gesehen Unterstützungsgebiete des IS, welche IS-Attacken in zentraler gelegenen Gebieten Bagdads ermöglichen (MRG 10.2017).

In der Provinz Bagdad beschränken sich die Aktivitäten des IS vor allem auf "unkonventionelle Attacken" gegen Zivilisten und hochrangige Opfer - in erster Linie durch die Verwendung von IEDs (MRG 10.2017).

Popular Mobilization Forces (PMF):

[Erläuterungen zu den PMF siehe auch Länderinformationsblatt Irak Abschnitt 3.2.2]

Während die PMF generell auf Schlachtfeldern quer durch das Land eingesetzt wurden, bewahren einige eine signifikante Präsenz in Bagdad. Die älteren und größeren [überwiegend schiitischen] Milizen sind jene, die vorwiegend als aktive Gruppen einen Teil der Sicherheitskräfte der Stadt repräsentieren. [...] Sunnitische Milizen kommen in der Stadt Bagdad nicht vor, aber sehr wohl in manchen Teilen des 'Bagdad-Belt', besonders in den Bezirken, die an Anbar und das Gouvernement Salah al-Din grenzen, inklusive Taji, Tarmiya und Abu Ghraib. Auf lokaler Ebene agieren PMF-Einheiten parallel und oft im Konflikt mit den ISF. Bewaffnete Konflikte zwischen ISF und PMUs, wenn auch selten, wurden im Gouvernement Bagdad beobachtet. Während die PMF weitläufig von der schiitischen Bevölkerung unterstützt werden, wurden sie beschuldigt, Menschenrechtsverletzungen gegen sunnitische Zivilisten in Gebieten begangen zu haben, die vom IS zurückerobert wurden, - wie von diversen Organisationen wie z.B. Human Rights Watch, Amnesty International und Minority Rights Group dokumentiert wurde. Berichterstattung dieser Art tendiert dazu, sich auf die Gouvernements zu konzentrieren, in denen in den letzten zwei Jahren Militäreinsätze stattgefunden haben - wie in etwa in Anbar, Ninewa und Salah al-Din - sowie auf Gebiete, in denen außer Frage steht, dass Milizen ungestraft agierten. Aufgrund dessen werden Menschenrechtsverletzungen innerhalb des Gouvernements Bagdad nicht so eingehend verfolgt (MRG 10.2017).

Im Folgenden werden einige Beispiele der wichtigsten PMF-Milizen aufgezählt, die in Bagdad operieren: Badr-Organisation, Asaib Ahl al-Haq, Saraya al-Salam, Saraya al-Khorasani, Kataib Hizbullah (MRG 10.2017). Anm.: Die Milizen sind in Abschnitt 3.2.2 des LIB näher beschrieben.

Quelle: Bundesverwaltungsgericht BVwg, https://www.bvwg.gv.at
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