RS Vfgh 2018/9/24 E761/2018 ua

JUSLINE Rechtssatz

Veröffentlicht am 24.09.2018
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Index

41/02 Staatsbürgerschaft, Pass- und Melderecht, Fremdenrecht, Asylrecht

Norm

BVG-Rassendiskriminierung ArtI Abs1
AsylG 2005 §3, §8, §10, §57
Flüchtlingskonvention Genfer, BGBl 55/1955 Art1 Abschnitt D, Art5
Statusrichtlinie 2011/95/EU Art12

Leitsatz

Verletzung im Recht auf Gleichbehandlung von Fremden untereinander durch Abweisung der Anträge auf internationalen Schutz und Erlassung von Rückkehrentscheidungen staatenloser palästinensischer Flüchtlinge wegen objektiver Willkür infolge Verkennung des "ipso facto"-Schutzes durch den Wegfall des Beistands der UNRWA bei Zuerkennung des Status des Asylberechtigten; Abweichung von den Beurteilungskriterien des UNHCR für den Gazastreifen ohne hinreichende und nachvollziehbare Auseinandersetzung mit der Vulnerabilität einer alleinstehenden Frau und ihrer minderjährigen Kinder

Rechtssatz

Die Erwägungen des Bundesverwaltungsgerichts (BVwG) stehen in Widerspruch zu dem völker- und unionsrechtlichen System, in dem Personen, die dem Schutz der UNRWA (nicht mehr) unterstehen, einen Sonderstatus einnehmen. Gemäß §6 Abs1 Z1 AsylG 2005 sind diese Personen von der Anerkennung als Flüchtling zunächst ausgeschlossen. Sie genießen aber dann "ipso facto" den Schutz der unmittelbar anzuwendenden Statusrichtlinie bzw der GFK, wenn der Schutz oder Beistand einer solchen Organisation "aus irgendeinem Grund" nicht länger gewährt wird. Dieser "ipso facto"-Schutz bewirkt insofern eine Privilegierung, als für die Zuerkennung des Status von Asylberechtigten keine Verfolgung aus den in Art1 Abschnitt A GFK genannten Gründen glaubhaft zu machen ist, sondern nur, dass sie erstens unter dem Schutz der UNRWA gestanden sind und zweitens, dass dieser Beistand aus "irgendeinem Grund" weggefallen ist. Soweit das BVwG daher in diesem Punkt die Rechtslage verkennt, wirkt sich dies im vorliegenden Fall insofern aus, als das BVwG bei der Prüfung der Anträge hinsichtlich des Status des Asylberechtigten folgende Umstände gänzlich außer Betracht lässt, aber auch im Rahmen der Prüfung der Anträge hinsichtlich des Status des subsidiär Schutzberechtigten nur unzureichend berücksichtigt:

Im Februar 2015 veröffentlichte UNHCR eine mit UNRWA koordinierte Position, in der es die Staaten ersucht, von einer Rückverbringung palästinensischer Flüchtlinge in den Gazastreifen abzusehen, bis sich die Lebensbedingungen und die humanitäre Situation spürbar und erheblich bessern, wobei dies auch bei der Prüfung von Anträgen nach Art1 Abschnitt D GFK gebührend zu berücksichtigen sei. Die militärischen Eskalationen im Gazastreifen im Sommer 2014 hätten enorme Zerstörungen hinterlassen. Der Abschiebestopp diene als Minimumstandard und müsse aufrecht bleiben, "until such time as the situation in Gaza has improved sufficiently". Die vom BVwG herangezogenen Länderberichte enthalten auch eine von UNRWA im Oktober 2016 auf Ersuchen des Bundesministeriums für Inneres erstellte Anfragebeantwortung, die auf diese Position des UNHCR Bezug nimmt.

Den Einschätzungen von UNHCR ist im gegebenen Zusammenhang angesichts der Rolle, die dem Amt des UNHCR durch die Genfer Flüchtlingskonvention übertragen worden ist, maßgebliches Gewicht beizumessen. UNHCR verweist auch aktuell auf sein Ersuchen um eine "non-removal policy" aus dem Jahr 2015 und dürfte somit weiterhin nicht von einer hinreichend verbesserten Lage ausgehen. Demgegenüber sieht das BVwG im vorliegenden Fall - ohne auf die seit 2015 von UNHCR eingenommene Position zu Abschiebungen in den Gazastreifen Bezug zu nehmen - keine, einer aufenthaltsbeendenden Maßnahme entgegenstehenden Hindernisse und stützt sich diesbezüglich darauf, dass die beschwerdeführenden Parteien keiner besonders verwundbaren sozialen Gruppe angehörten und deren Verwandte in Gaza Unterstützungsleistungen der UNRWA erhielten. Weiters stellt das BVwG darauf ab, dass sich aus den herangezogenen Länderberichten "keine aktuelle wesentliche Verschlechterung der allgemeinen Situation und der Sicherheitslage" ergebe. Vielmehr sei notorisch, dass sich die rivalisierenden Palästinenserorganisationen Hamas und Fatah im Oktober 2017 ausgesöhnt hätten, womit eine "schrittweise Verbesserung" der Sicherheitslage in den palästinensischen Gebieten einhergehe.

Damit missachtet das BVwG nicht nur, im Hinblick auf die minderjährigen beschwerdeführenden Parteien, die besondere Vulnerabilität von Kindern, die es bei seiner Beurteilung der Sicherheitslage außer Betracht lässt, sondern weicht auch von den Beurteilungskriterien ab, die UNHCR in Bezug auf Rückkehrmöglichkeiten von palästinensischen Flüchtlingen in den Gazastreifen aufgestellt hat. Welche Überlegungen das BVwG dabei leiten und auf Basis welcher Berichte es im Ergebnis eine - wenn auch nur schrittweise - Verbesserung der Situation im Gazastreifen erkennt, ist für den VfGH nicht nachvollziehbar.

Die Länderinformationen tragen weder die Annahme der von UNHCR geforderten spürbaren Verbesserung der Lebensbedingungen bzw einer erheblich verbesserten humanitären Situation noch deren "schrittweise Verbesserung", wie sie das BVwG für entscheidungserheblich hält.

Entscheidungstexte

  • E761/2018 ua
    Entscheidungstext VfGH Erkenntnis 24.09.2018 E761/2018 ua

Schlagworte

Asylrecht, EU-Recht Richtlinie, Auslegung gemeinschaftsrechtskonforme, Entscheidungsbegründung, Kinder

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:VFGH:2018:E761.2018

Zuletzt aktualisiert am

10.12.2018
Quelle: Verfassungsgerichtshof VfGH, http://www.vfgh.gv.at
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