TE OGH 2018/10/31 7Ob8/18d

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Veröffentlicht am 31.10.2018
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Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht durch die Senatspräsidentin Dr. Kalivoda als Vorsitzende und die Hofrätinnen und Hofräte Hon.-Prof. Dr. Höllwerth, Dr. E. Solé, Mag. Malesich und MMag. Matzka als weitere Richter in der Rechtssache der klagenden Parteien 1. A*****anstalt, *****, und 2. T*****kasse, *****, beide vertreten durch Hoffmann & Brandstätter Rechtsanwälte KG in Innsbruck, gegen die beklagte Partei U***** AG, *****, vertreten durch Altenweisl Wallnöfer Watschinger Zimmermann Rechtsanwälte GmbH in Innsbruck, wegen Feststellung, über die außerordentliche Revision der klagenden Parteien gegen das Urteil des Oberlandesgerichts Innsbruck als Berufungsgericht vom 5. Juli 2017, GZ 4 R 60/17f-15, mit dem das Urteil des Landesgerichts Innsbruck vom 3. März 2017, GZ 67 Cg 53/16b-10, bestätigt wurde, zu Recht erkannt:

Spruch

Der Revision wird nicht Folge gegeben.

Die klagenden Parteien sind schuldig, der beklagten Partei jeweils 1.165,40 EUR (darin jeweils 194,23 EUR an Umsatzsteuer) an Kosten ihrer Revisionsbeantwortung zu ersetzen.

Text

Entscheidungsgründe:

Die Beklagte hat mit der B***** GmbH (VN) eine Haftpflichtversicherung abgeschlossen, der (ua) die Versicherungsbedingungen H 942 „Betrieb & Planen, Klipp & Klar-Bedingungen für die Haftpflichtversicherung 'Top 2' (AHVQ 2004) – Fassung 4/2007“ zugrunde liegen. Diese lauten auszugsweise:

Was gilt als Versicherungsfall und was ist versichert? – Artikel 1. Versicherungsfall

3. Versichertes Risiko

Versichert sind … Schadenersatzverpflichtungen des Versicherungsnehmers aus der Innehabung und Verwendung der gesamten betrieblichen Einrichtung.

...

3.2 Mitversichert sind Schadenersatzverpflichtungen

-

der gesetzlichen Vertreter des Versicherungsnehmers und solcher Personen, die er mit der Leitung oder Beaufsichtigung des versicherten Betriebes oder eines Teiles desselben beauftragt hat,

-

...

Was ist nicht versichert (Risikoausschlüsse) – Artikel 6

2. Die Versicherung erstreckt sich nicht auf Schadenersatzverpflichtungen der Personen, die den Schaden, für den sie von einem Dritten verantwortlich gemacht werden, rechtswidrig und vorsätzlich herbeigeführt haben. Dem Vorsatz wird gleichgehalten

2.1 eine Handlung oder Unterlassung, bei welcher der Schadeneintritt mit Wahrscheinlichkeit erwartet werden musste, jedoch in Kauf genommen wurde (zB im Hinblick auf die Wahl einer kosten- und/oder zeitsparenden Arbeitsweise);

...

3. Der Versicherer ist von der Verpflichtung zur Leistung auch dann frei, wenn der Versicherungsfall grob fahrlässig herbeigeführt wurde und bewusst – insbesondere im Hinblick auf die Wahl einer kosten- oder zeitsparenden Arbeitsweise – den für den versicherten Betrieb oder Beruf geltenden Gesetzen, Verordnungen oder behördlichen Vorschriften zuwidergehandelt wurde, und zwar durch den Versicherungsnehmer oder dessen gesetzlichen Vertreter oder dessen leitenden Angestellten im Sinne des Arbeitsverfassungsgesetzes (BGBl Nr 22/1974) in der jeweils geltenden Fassung bzw über Veranlassung oder mit Einverständnis einer dieser Personen.

M***** G*****, ein geprüfter Staplerfahrer, war von August 2006 bis Dezember 2009 bei der VN als Lagerleiter beschäftigt und als solcher für die gesamte Lagerverwaltung zuständig, somit für das An- und Ausliefern der Ware und für die Beschickung der Produktion mit Waren aus dem Lager. Als Lagerleiter war M***** G***** gegenüber anderen Lagerarbeitern weisungs- und anordnungsbefugt. Üblicherweise arbeitete er alleine im Lager.

Im Lager stand ein Gabelstapler zur Verfügung, dessen maximale Hubhöhe rund 4 m betrug. Die Gabel konnte im Betrieb so weit angehoben werden, dass das obere Ende der Gitterrahmenkonstruktion vor der Hubvorrichtung bis unmittelbar unter das Dach reichte und damit die Oberkante der Gitterrahmenkonstruktion über die Unterkante der Balken hinaus angehoben werden konnte. Auf der rechten und linken Seite der Hebevorrichtung des Staplers waren Piktogramme angebracht, die verdeutlichen, dass ein Hochheben von Personen mit der Gabel und das Stehen von Personen im Fahrbereich der Gabel verboten ist.

M***** G***** (fortan: Lagerleiter) wusste, dass ein Personentransport auf der Gabel eines Staplers verboten ist. Ebenso wusste er, dass es verboten ist, auf der Gabel stehende Personen mit dem Stapler hochzuheben.

Am 21. 5. 2007 (fortan: Unfalltag) sollten Schaumstoffteile ausgeliefert werden, die sich im Lager der VN auf der obersten Stellfläche des Hochregals befanden. Diese leichten und sperrigen Schaumstoffteile wurden nur ein- bis zweimal im Jahr für Schirennen gebraucht. Zum Herunterholen solcher Teile aus dem Regal werden üblicherweise Leitern verwendet. Am Unfalltag standen im Lager der VN eine Alu-Stehleiter mit einer Höhe von rund 2 m und eine Alu-Stehleiter mit einer Höhe von rund 1,5 m sowie eine Alu-Leiter zur Verfügung, die weit über die Höhe der Lagerhalle hinaus ausziehbar war.

Am Unfalltag wies M***** V*****, der seit 1991 bei der VN beschäftigte Produktionsleiter, den Lagerleiter an, die Schaumstoffmatten aus dem Regal zu holen. Als Produktionsleiter war M***** V***** Vorgesetzter des Lagerleiters und auch Vorgesetzter des Lagerarbeiters W***** B*****. M***** V***** erklärte dem Lagerleiter, dass W***** B***** ihm helfen sollte, die Schaumstoffmatten aus dem Regal zu holen. Er gab keine Erklärung oder Anweisung dahin, dass der Lagerleiter dabei den Stapler verwenden solle und auch nicht, dass sich W***** B***** auf die Gabel stellen und ihn der Lagerleiter mit dem Gabelstapler hochheben solle. Der Produktionsleiter ging bei Erteilung des Auftrags davon aus, dass die Schaumstoffteile unter Verwendung von Leitern mit dem Seilzugsystem aus dem Regal herabgezogen würden. Der Produktionsleiter wusste nicht, dass der Lagerleiter den Lagerarbeiter mit dem Gabelstapler hochheben wolle, um an die Schaumstoffteile zu gelangen. Da für das Arbeiten mit Leitern und dem Seilzugsystem insgesamt vier Arbeiter benötigt werden, ging der Produktionsleiter in die Produktionshalle, um zwei weitere Arbeiter zu holen, die dem Lagerleiter und W***** B***** helfen sollten. Der Produktionsleiter sagte bei Erteilung des Arbeitsauftrags an den Lagerleiter nichts davon, dass er ihm noch zwei weitere Arbeiter abstellen werde. Hätte der Produktionsleiter dies dem Lagerleiter gesagt, hätte dieser mit der Arbeitsausführung so lange zugewartet, bis Verstärkung eintrifft.

Nachdem der Produktionsleiter aus dem Lager gegangen war, nahm der Lagerleiter den Gabelstapler in Betrieb und fuhr vor jenes Regal, in dem sich die Schaumstoffteile unmittelbar unter dem Hallendach befanden. Der Lagerleiter hatte schon zuvor wiederholt andere Arbeiter der VN mit der Gabel des Gabelstaplers hochgehoben, um auf diese Weise Waren aus dem Regal zu holen. Mit W***** B***** hatte er vor dem Unfall noch nie zusammengearbeitet. Er gab W***** B***** keine ausdrückliche Anweisung, sich auf die Gabel zu stellen. Vielmehr stellte sich W***** B***** wortlos und ohne weitere Kommunikation auf die Gabel und sagte dem Lagerleiter, dass er hochfahren solle. Daraufhin hob der Lagerleiter W***** B***** mit der Gabel des Gabelstaplers ca 4 bis 5 m in die Höhe.

Der Produktionsleiter wusste, dass der Lagerleiter schon früher Personen mit der Gabel des Staplers hochgehoben hatte, um Waren vom Regal zu holen. Der Produktionsleiter hatte ihn wiederholt darauf hingewiesen, dass dies verboten ist.

Beim Hebevorgang ging der Lagerleiter davon aus, dass er mit dem Stapler so lange hochfahren soll, bis W***** B***** ihm ein Stoppen des Hebevorgangs signalisiert. Dies war zuvor jedoch nicht besprochen oder vereinbart worden. Während des Hebevorgangs duckte sich W***** B***** und zog den Kopf ein, um den näher kommenden Dachbalken und dem Dach auszuweichen und er versuchte, bereits während des Hochhebevorgangs mit der linken Hand das erste Schaumstoffteil vom Regal auf die Gabel zu ziehen. Dabei hielt sich W***** B***** mit der rechten Hand weiter an der Rahmenkonstruktion des Staplers fest. Durch das Hinauffahren wurde die rechte Hand von W***** B***** gegen einen Dachbalken gedrückt und stark gequetscht. Bis zum Einklemmen der Hand hatte W***** B***** dem Lagerleiter kein Stoppsignal gegeben.

W***** B***** zog sich bei diesem Unfall eine komplette Quetschverletzung der 2. bis 5. Finger der rechten Hand mit Durchtrennung der Gefäß/Nervenbündel des Zeigefingers, einen Trümmerbruch des Grundglieds des zweiten Fingers und Brüche des 3., 4. und 5. Mittelhandknochens zu.

Das Landesgericht Innsbruck als Arbeits- und Sozialgericht verpflichtete im Verfahren zu AZ 46 Cga 72/10d der dortigen Klägerinnen gegen 1. die VN, 2. den Lagerleiter und 3. den Produktionsleiter den dort zweitbeklagten Lagerleiter mit Urteil vom 23. 1. 2012 (rechtskräftig seit 22. 1. 2013) zur Zahlung von 35.434,85 EUR sA an die Erstklägerin und von 15.465,45 EUR sA an die Zweitklägerin. Es stellte überdies fest, dass der Lagerleiter den Klägerinnen für alle zukünftigen Pflichtleistungen, die diese aus Anlass des Arbeitsunfalls ihres Pflichtversicherten W***** B***** zu erbringen haben, gemäß § 334 ASVG ersatzpflichtig ist. Sämtliche Begehren gegen die dort erst- und drittbeklagte Partei (VN und Produktionsleiter) wurden rechtskräftig abgewiesen.

Die Beklagte lehnte das Zahlungsansinnen der Klägerinnen mit der Begründung ab, dass die VN selbst im arbeitsgerichtlichen Verfahren nicht verpflichtet worden, der Lagerleiter als bloßer Staplerfahrer nicht mitversichert gewesen sei und Risikoausschlüsse vorlägen.

Die Klägerinnen begehrten die Feststellung, dass die Beklagte ihrer VN aufgrund und im Umfang des zwischen diesen abgeschlossenen oder eines anderen für diesen Zeitraum geltenden Betriebshaftpflichtversicherungsvertrags für den Schadensfall vom 21. 5. 2007, insbesondere für das im Regressprozess des Landesgerichts Innsbruck zu AZ 46 Cga 72/10d festgestellte schuldhafte Fehlverhalten des als Aufseher im Betrieb qualifizierten Lagerleiters nach Maßgabe der zugrunde liegenden Versicherungsbedingungen vollen Deckungs- und Versicherungsschutz zu gewähren habe. Sie brachten vor, dass die Beklagte ihrer VN für den Arbeitsunfall des W***** B***** aus dem Fehlverhalten des mitversicherten Lagerleiters Deckungsschutz zu gewähren habe. Die Klägerinnen seien als gesetzliche Sozialversicherungsträger des geschädigten Dritten zur Direktklage berechtigt. Es liege kein Fall des § 67 VersVG, sondern ein originärer Aufwandersatzanspruch vor. Das rechtliche Interesse an der alsbaldigen Feststellung liege in der drohenden Verjährung bzw darin, dass die Beklagte den Anspruch und die Regulierung ablehne und die VN nichts unternehme, damit die Beklagte als deren Haftpflichtversicherer in den Schadensfall eintrete. Die VN habe es abgelehnt, ihre Deckungsansprüche gegenüber der Beklagten an die Klägerinnen abzutreten. Das Feststellungsinteresse ergebe sich auch daraus, dass klärungsbedürftig sei, ob für grob fahrlässiges Verhalten von Aufsehern im Betrieb, die nicht leitende Angestellte im Sinn des ArbVG seien, der Risikoausschluss nach Art 6.3 der AHVQ 2004 gelte oder nicht. Durch dessen Bejahung seitens der Beklagten seien die Rechte der Klägerinnen empfindlich beeinträchtigt. Die Klägerinnen hätten ihre rechtskräftigen Forderungen gegen den Lagerleiter, der mittlerweile nach Deutschland verzogen sei, trotz intensiver Bemühungen nicht einbringlich machen können. Der Lagerleiter selbst könne die Beklagte gar nicht auf Deckung klagen, weil er nicht im Besitz eines Versicherungsscheins sei.

Die Beklagte beantrage Abweisung des Klagebegehrens und wandte ein, dass den Klägerinnen kein direktes Klagerecht gegen den Haftpflichtversicherer zustehe und diesen auch das Feststellungsinteresse fehle. Die Beklagte sei noch gar nicht mit einer qualifizierten Ablehnung gemäß § 12 Abs 3 VersVG vorgegangen, der Lagerleiter habe nie versucht, Deckung zu erlangen, sodass keine Verjährungsproblematik bestehe. Der Lagerleiter sei nicht im Sinn von Art 1.3.2 AHVQ 2004 mitversichert gewesen. Im Übrigen greife der Risikoausschluss nach Art 6.3 AHVQ 2004, weil M***** G***** den Schadensfall grob fahrlässig herbeigeführt und dabei bewusst den für den versicherten Betrieb geltenden Gesetzen, Verordnungen oder behördlichen Vorschriften zuwidergehandelt habe.

Das Erstgericht wies ausgehend vom eingangs zusammengefassten Sachverhalt das Klagebegehren ab. Es führte in rechtlicher Hinsicht aus, dass der Lagerleiter zwar zum Kreis der mitversicherten Personen gehörte, den Versicherungsfall aber grob fahrlässig herbeigeführt und bewusst – insbesondere im Hinblick auf die Wahl einer kosten- und/oder zeitsparenden Arbeitsweise – den für den versicherten Betrieb geltenden Gesetzen, Verordnungen oder behördlichen Vorschriften zuwidergehandelt habe. Damit sei der Haftungsausschluss nach Art 6.3 AHVQ 2004 erfüllt und das Klagebegehren daher abzuweisen.

Das Berufungsgericht gab der Berufung der Klägerinnen nicht Folge. Die Klägerinnen machten einen originären Anspruch nach § 334 Abs 1 ASVG geltend. Für eine Schutzwürdigkeit als „Opfer“ im Sinn der §§ 156 Abs 1, 157 ASVG verbleibe in einem solchen Fall kein Raum, weshalb kein Feststellungsanspruch bestehe. Im Übrigen drohe auch gegebenenfalls nicht unmittelbar ein Verlust des Deckungsanspruchs, sondern es bestehe „nur“ eine Pattstellung. Die Klägerinnen haben bereits im Haftpflichtprozess einen Exekutionstitel gegenüber dem Lagerleiter erlangen können und daher die Möglichkeit, im Exekutionswege die Pfändung seiner Ansprüche gegenüber der VN zu erlangen und auf diesem Weg zu klären, ob Deckung bestehe, was ein eigenes Feststellungsinteresse ebenfalls ausschließe.

Das Berufungsgericht sprach aus, dass der Wert des Entscheidungsgegenstands hinsichtlich beider Klägerinnen jeweils 5.000 EUR, nicht aber 30.000 EUR übersteigt und die ordentliche Revision zulässig sei. Zur Frage, ob ein Sozialversicherungsträger, der Regressansprüche nach § 334 Abs 1 ASVG geltend macht, als geschädigter Dritter im Sinn der §§ 156 Abs 1, 157 VersVG eine Direktklage gegen den Haftpflichtversicherer erheben könne, fehle höchstgerichtliche Judikatur.

Gegen diese Entscheidung richtet sich die Revision der Klägerinnen wegen unrichtiger rechtlicher Beurteilung mit dem Antrag auf Abänderung im Sinn der Klagsstattgebung. Hilfsweise werden auch Aufhebungsanträge gestellt.

Die Beklagte erstattete eine Revisionsbeantwortung mit dem Antrag, die Revision der Klägerinnen zurückzuweisen, hilfsweise die Entscheidungen der Vorinstanzen zu bestätigen.

Rechtliche Beurteilung

Die Revision ist zur Klarstellung der Rechtslage zulässig; sie ist aber im Ergebnis nicht berechtigt.

A. Zum Klagerecht der Sozialversicherungsträger auf Feststellung:

1. In der (freiwilligen) Haftpflichtversicherung hat der am Versicherungsvertrag nicht beteiligte geschädigte Dritte grundsätzlich keine rechtliche Handhabe, den Versicherer direkt in Anspruch zu nehmen. Dennoch kann er eine Klage auf Feststellung der Deckungspflicht des Versicherers – bezogen auf den Versicherungsnehmer – erheben (RIS-Justiz RS0120609). Das dafür erforderliche Feststellungsinteresse besteht vor allem dann, wenn dem geschädigten Dritten der Deckungsanspruch als Befriedigungsobjekt entzogen zu werden droht; etwa durch Verjährung oder durch Ablauf der Frist des § 12 Abs 3 VersVG, die auch durch die Klage des Dritten gewahrt werden kann, oder wenn der Versicherer seine Eintrittspflicht verneint und der Versicherungsnehmer nichts weiter unternimmt (7 Ob 164/14i mwN; 7 Ob 105/18v).

2. Die Klägerinnen behaupten die Aktivlegitimation zur Erhebung einer Feststellungsklage gegen den Haftpflichtversicherer des Arbeitgebers des Schädigers mit der Begründung, dass ihnen aufgrund des Unfalls nicht einbringliche Regressansprüche nach § 334 ASVG gegenüber dem vermeintlich mitversicherten Lagerleiter zustünden, für welche die Beklagte gegenüber ihrer VN Deckung gewähren müsse:

2.1. Hat der Dienstgeber oder ein ihm gemäß § 333 Abs 4 ASVG Gleichgestellter den Arbeitsunfall oder die Berufskrankheit vorsätzlich oder durch grobe Fahrlässigkeit verursacht, so hat er dem Träger der Sozialversicherung
– außer in den Fällen des § 213a – alle nach diesem Bundesgesetz zu gewährenden Leistungen zu ersetzen (§ 334 Abs 1 VersVG). Der Rückgriffsanspruch des Sozialversicherungsträgers nach § 334 ASVG ist originärer Natur. Er steht dem Sozialversicherungsträger kraft eigenen Rechts zu und geht nicht wie der Anspruch nach § 332 ASVG erst im Wege der Legalzession auf ihn über. Er ist unabhängig davon, ob dem Versicherten ein privatrechtlicher Schadenersatzanspruch gegen den Schädiger zusteht oder nicht (RIS-Justiz RS0085367; 7 Ob 105/18v mwN).

2.2. Der Fachsenat hat jüngst zu 7 Ob 105/18v ausgesprochen und näher begründet, dass (auch) der Sozialversicherungsträger, der den Schädiger nach § 334 ASVG in Anspruch nehmen und damit einen eigenständigen Rückgriffsanspruch geltend machen will, in Bezug auf die Haftpflichtversicherung geschädigter Dritter im Sinn der §§ 156, 157 VersVG ist. Sein Feststellungsinteresse besteht in diesem, auch hier vorliegenden Fall – wie zuvor beschrieben – vor allem dann, wenn dem geschädigten Dritten der Deckungsanspruch als Befriedigungsobjekt entzogen zu werden droht; etwa durch Verjährung oder durch Ablauf der Frist des § 12 Abs 3 VersVG, die auch durch die Klage des Dritten gewahrt werden kann, oder wenn der Versicherer seine Eintrittspflicht verneint und der Versicherungsnehmer nichts weiter unternimmt.

3. Fest steht, dass die Klägerinnen gegen den Lagerleiter bereits Klage erhoben, gegen diesen ein rechtskräftiges Urteil erlangt haben und die Beklagte die Deckung zwar nicht qualifiziert abgelehnt, aber ihre Deckungspflicht immer wieder aus den auch in diesem Verfahren ins Treffen geführten Gründen abgelehnt hat. Dass die VN gegenüber der Beklagten – offenbar deren Rechtsstandpunkt folgend und inzwischen bereits seit Jahren    – nichts zur Wahrung des Deckungsanspruchs unternommen und auch die Abtretung ihres Deckungsanspruchs abgelehnt hat, blieb ebenfalls unbestritten. Dies reicht für die Annahme eines Feststellungsinteresses der Klägerinnen aus; insoweit sind die Klägerinnen aktivlegitimiert.

B. Versichertes Risiko (Art 1.3.2 AHVQ 2004):

1. Nach Art 1.3.2 AHVQ 2004 sind (ua) Schadenersatzverpflichtungen solcher Personen mitversichert, die der Versicherungsnehmer mit der Leitung oder Beaufsichtigung des versicherten Betriebs oder eines Teils desselben beauftragt hat.

2. Maßgeblich ist insoweit, dass die fragliche Person, nicht etwa nur im Einzelfall, sondern ständig mit Vertretungs-, Leitungs- bzw Organisationsaufgaben zumindest für einen Teil des versicherten Betriebs „beauftragt“ war (vgl 7 Ob 78/99t), nicht aber – was schon aus dem Regelungswortlaut folgt (RIS-Justiz RS0008901) – notwendigerweise dazu (im arbeitsrechtlichen Sinn) „angestellt“ gewesen sein musste. Dies trifft hier auf den Lagerleiter deshalb zu, weil er als solcher beschäftigt, dabei für die gesamte Lagerverwaltung, für das An- und Ausliefern der Ware sowie für die Beschickung der Produktion mit Waren aus dem Lager zuständig und gegenüber anderen im Lager gegebenenfalls eingesetzten Arbeitern weisungs- und anordnungsbefugt war. Die den Lagerleiter treffenden Schadenersatzverpflichtungen sind daher nach Art 1.3.2 AHVQ 2004 mitversichert.

C. Risikoausschluss nach Art 6.2 AHVQ 2004:

1. Das Vorliegen eines Risikoausschlusses hat der Versicherer zu behaupten und zu beweisen (7 Ob 204/04g mwN). Das Tatsachenvorbringen der Beklagten zum bewusst vorschriftswidrigen Verhalten des unmittelbaren Schädigers reicht für eine Prüfung des bezeichneten Risikoausschlusses aus, auch wenn die Beklagte diesen nicht ausdrücklich angesprochen hat.

2. Nach Art 6.2 AHVQ 2004 erstreckt sich die Versicherung nicht auf Schadenersatzverpflichtungen der Personen, die den Schaden, für den sie von einem Dritten verantwortlich gemacht werden, rechtswidrig und vorsätzlich herbeigeführt haben.

3. Nach der Rechtsprechung reicht für die Leistungsfreiheit des Versicherers aus, dass ein Versicherungsnehmer den Eintritt des Schadens zwar nicht billigt, sondern im Gegenteil hofft, dass er nicht eintreten werde, jedoch trotzdem bewusst Handlungs- bzw Unterlassungspflichten zuwiderhandelt, und ihm dieses Zuwiderhandeln als Vorsatz anzulasten ist (7 Ob 204/04g; RIS-Justiz RS0081721).

4. Der Vorsatz des Versicherungsnehmers im zuvor dargestellten Sinn braucht sich also nur auf das Zuwiderhandeln, nicht aber auch auf die damit möglicherweise verbundenen Schadensfolgen zu erstrecken; selbst wenn der Versicherungsnehmer den Eintritt des Schadens also nicht billigt, sondern im Gegenteil hofft, dass er nicht eintreten werde, reicht der bewusste Verstoß für sich allein schon aus, um die Leistungsfreiheit des Versicherers zu bewirken. „Bewusst“ zuwiderhandeln kann man allerdings nur gegen Vorschriften, die man kennt. Voraussetzung für die Anwendbarkeit dieser Bestimmung ist also grundsätzlich, dass der Versicherungsnehmer die konkrete übertretene Norm kennt und dass ihm bewusst ist, dass er gegen sie verstößt; ein bloßes Kennenmüssen genügt dagegen nicht. Für das „Kennen“ ist es allerdings nicht erforderlich, dass dem Versicherungsnehmer die Verbotsvorschrift in ihrem Wortlaut und ihrem gesamten Umfang bekannt ist, vielmehr genügt es, dass er sich bei seiner Vorgangsweise nur dessen bewusst ist, dass er damit gegen eine Vorschrift verstößt (7 Ob 23/93).

5. Auf der rechten und linken Seite der Hebevorrichtung des Staplers waren Piktogramme angebracht, die verdeutlichen, dass ein Hochheben von Personen mit der Gabel und das Stehen von Personen im Fahrbereich der Gabel verboten ist. Der Lagerleiter wusste, dass ein Personentransport auf der Gabel eines Staplers verboten ist. Ebenso wusste er, dass es verboten ist, auf der Gabel stehende Personen mit dem Stapler hochzuheben. Der Produktionsleiter wusste, dass der Lagerleiter schon früher Personen mit der Gabel des Staplers hochgehoben hatte, um Waren vom Regal zu holen. Der Produktionsleiter hatte ihn deshalb wiederholt darauf hingewiesen, dass dies verboten ist. Bei dieser Sachlage besteht kein Zweifel, dass sich der Lagerleiter ganz bewusst über Betriebsvorschriften betreffend den Gabelstapler hinwegsetzte, sodass der Riskioausschluss nach Art 6.2 AHVQ 2004 erfüllt und das Klagebegehren aus diesem Grund erfolglos bleiben muss.

D. Ergebnis:

1. Der Sozialversicherungsträger, der den Schädiger nach § 334 ASVG in Anspruch nehmen und damit einen eigenständigen Rückgriffsanspruch geltend machen will, ist in Bezug auf die Haftpflichtversicherung geschädigter Dritter im Sinn der §§ 156, 157 VersVG. Sein Feststellungsinteresse ist (ua) dann zu bejahen, wenn der Versicherer seine Eintrittspflicht verneint und der Versicherungsnehmer nichts weiter unternimmt. Diese Voraussetzungen sind im vorliegenden Fall erfüllt.

2. Der Lagerleiter, der für die gesamte Lagerverwaltung zuständig und gegenüber anderen im Lager eingesetzten Arbeitern weisungs- und anordnungsbefugt ist, ist eine Person, deren Schadenersatzverpflichtungen nach Art 1.3.2 AHVQ 2004 mitversichert sind.

3. Der Lagerleiter, der sich entgegen mehrfachen Verhaltenshinweisen bewusst über Betriebsvorschriften betreffend die Verwendung eines Gabelstaplers hinwegsetzt und damit eine Person zum Zweck einer Warenmanipulation anhebt, handelt vorsätzlich im Sinn des Risikoausschlusses nach Art 6.2 AHVQ 2004, weshalb die Deckungspflicht des Haftpflichtversicherers entfällt.

4. Die klageabweisenden Entscheidungen der Vorinstanzen sind daher im Ergebnis zu bestätigen.

5. Die Kostenentscheidung beruht auf §§ 50, 41 ZPO.

Textnummer

E123422

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:OGH0002:2018:0070OB00008.18D.1031.000

Im RIS seit

10.12.2018

Zuletzt aktualisiert am

24.02.2020
Quelle: Oberster Gerichtshof (und OLG, LG, BG) OGH, http://www.ogh.gv.at
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