RS Vfgh 2018/6/27 G415/2017 (G 415/2017-12)

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Veröffentlicht am 27.06.2018
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Index

L9200 Sozialhilfe, Grundsicherung, Mindestsicherung

Norm

B-VG Art7 Abs1 / Gesetz
B-VG Art140 Abs1 Z1 litb
Wr MindestsicherungsG §1, §5, §7, §8
NAG §8, §39, §47

Leitsatz

Aufhebung einer Bestimmung des Wr MindestsicherungsG betreffend den Ausschluss einer - in Bedarfsgemeinschaft mit ihrer nigerianischen Mutter mit Aufenthaltstitel "Familienangehöriger" lebenden - minderjährigen österreichischen Staatsbürgerin von Leistungen der Bedarfsorientierten Mindestsicherung

Rechtssatz

Feststellung der Verfassungswidrigkeit bestimmter Wortfolgen in §5 Abs2 Z3 Wiener Mindestsicherungsgesetz, LGBl für Wien 38/2010 (im Folgenden WMG). Keine Verfassungswidrigkeit des Wortes "anspruchberechtigten" in §7 Abs1 letzter Satz WMG, LGBl für Wien 38/2010 idF 6/2011, sowie der übrigen Wortfolgen des §5 WMG, LGBl für Wien 38/2010.

Grundsätzlich stehen allen österreichischen Staatsbürgern Leistungen der Bedarfsorientierten Mindestsicherung zu. §7 Abs1 WMG schränkt den Kreis der unmittelbar Anspruchsberechtigten auf volljährige Staatsbürger ein. Minderjährigen Staatsbürgern kommt nur ein durch eine Bedarfsgemeinschaft vermittelter Anspruch zu. Bedarfsgemeinschaften nach dem WMG werden grundsätzlich entlang unterhaltsrechtlicher Beziehungen oder sonstiger Abhängigkeitsverhältnisse gebildet: So bilden etwa Eheleute oder Personen in einer Lebensgemeinschaft eine Bedarfsgemeinschaft. Volljährige Personen, die bloß in einer Wohngemeinschaft leben, bilden hingegen keine gemeinsame Bedarfsgemeinschaft. Der Anspruch auf Mindestsicherung wird anhand der für die einzelnen Personen dieser Bedarfsgemeinschaft gemäß §8 Abs2 WMG bzw der Verordnung der Wiener Landesregierung zum WMG festgesetzten Mindeststandards berechnet und der Bedarfsgemeinschaft zugesprochen. Anders als volljährige Personen können Minderjährige keine eigene Bedarfsgemeinschaft bilden, sie bilden immer eine Bedarfsgemeinschaft mit der obsorgeberechtigten Person, mit der sie im Haushalt leben. Der Bedarf der Minderjährigen wird gedeckt, indem der obsorgeberechtigten Person, mit der sie eine Bedarfsgemeinschaft bilden, auch der Mindeststandard für den Minderjährigen zugesprochen wird. Dies setzt aber voraus, dass auch die obsorgeberechtigte Person einen Anspruch auf Bedarfsorientierte Mindestsicherung nach dem WMG hat. Sofern dem Obsorgeberechtigten keine Leistungen aus der Bedarfsorientierten Mindestsicherung zustehen, erhält sohin ein minderjähriger österreichischer Staatsbürger keine Leistungen im Rahmen der Bedarfsgemeinschaft.

Gemäß §1 WMG hat die Bedarfsorientierte Mindestsicherung zum Ziel, Armut und soziale Ausschließung zu bekämpfen; sie dient der Beseitigung einer bestehenden Notlage. Bilden ein minderjähriger österreichischer Staatsbürger und sein Obsorgeberechtigter eine Bedarfsgemeinschaft und ist der Obsorgeberechtigte nicht in der Lage, den Lebensunterhalt durch Einsatz der eigenen Arbeitskraft, mit eigenen Mitteln oder durch Leistungen Dritter abzudecken, befinden sie sich aber in einer Notlage, unabhängig von der Frage, ob der Obsorgeberechtigte zum Kreis der Anspruchsberechtigten nach dem WMG gehört. Indem der Wiener Landesgesetzgeber einerseits Personen mit dem Aufenthaltstitel "Familienangehöriger" gemäß §47 Abs2 NAG vom Kreis der Anspruchsberechtigten nach dem WMG ausschließt und andererseits vorsieht, dass minderjährige österreichische Staatsbürger nur mittelbar über ihre nach dem WMG anspruchsberechtigten Obsorgeberechtigten versorgt werden können, hat er eine unsachliche Regelung geschaffen, die insofern ihren eigentlichen Zweck, nämlich die Beseitigung bestehender Notlagen, verfehlt. Die Möglichkeit, Leistungen im Rahmen der Privatwirtschaftsverwaltung zuzusprechen, ist nicht geeignet, diese Unsachlichkeit auszugleichen.

(Anlassfall E 2239/2016, E v 27.06.2018, Aufhebung des angefochtenen Erkenntnisses).

Entscheidungstexte

Schlagworte

Sozialhilfe, Mindestsicherung, Grundversorgung, Rechtspolitik, VfGH / Bedenken

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:VFGH:2018:G415.2017

Zuletzt aktualisiert am

27.05.2021
Quelle: Verfassungsgerichtshof VfGH, http://www.vfgh.gv.at
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