RS Vfgh 2018/3/2 G260/2017 (G260/2017-10)

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Veröffentlicht am 02.03.2018
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Index

60/01 Arbeitsvertragsrecht

Norm

B-VG Art136 Abs2
B-VG Art140 Abs1 Z1 litb
B-VG Art140 Abs4
Arbeitsvertragsrechts-AnpassungsG §7m Abs7
VwGVG §13, §22, §41
VStG §37

Leitsatz

Feststellung der Verfassungswidrigkeit einer Bestimmung des Arbeitsvertragsrechts-AnpassungsG betr den generellen Ausschluss der aufschiebenden Wirkung von Beschwerden gegen die Verpflichtung zum Erlag einer Sicherheitsleistung zur Einbringlichmachung von Strafen im Zusammenhang mit Lohn- und Sozialdumping mangels Erforderlichkeit einer vom VwGVG abweichenden Regelung

Rechtssatz

Feststellung der Verfassungswidrigkeit des §7m Abs7 Arbeitsvertragsrechts-AnpassungsG, BGBl 459/1993 idF BGBl I 94/2014 (im Folgenden: AVRAG).

In seiner bisherigen Rspr hob der VfGH mehrfach Regelungen auf, die einen Ausschluss der aufschiebenden Wirkung vorsahen. Der Gesetzgeber hat zur Wahrung des Rechtsstaatsprinzips die Position des Rechtsschutzsuchenden, Zweck und Inhalt der Regelung, Interessen Dritter sowie das öffentliche Interesse zu berücksichtigen und unter diesen Gegebenheiten einen Ausgleich zu schaffen, wobei dem Grundsatz der faktischen Effizienz eines Rechtsbehelfs der Vorrang zukommt und dessen Einschränkung nur aus sachlich gebotenen, triftigen Gründen zulässig ist.

Nach Auffassung der Bundesregierung bewirkt der in §7m Abs7 AVRAG normierte Ausschluss der aufschiebenden Wirkung beim Auftrag zum Erlag einer Sicherheitsleistung an den Auftraggeber, dass die in §13 Abs2 VwGVG der Behörde vorbehaltene, im Einzelfall durchzuführende Abwägung vom Gesetzgeber hier vorweggenommen werde.

Die Einzelfallprüfung beim Auftrag zum Erlag der Sicherheitsleistung nach §7m AVRAG berücksichtigt ausschließlich Gründe, die in der Person des Beschuldigten liegen: Es bedarf eines begründeten Verdachts einer Verwaltungsübertretung und bestimmter Tatsachen, die die Annahme rechtfertigen, dass die Strafverfolgung oder der Strafvollzug aus Gründen, die in der Person des Arbeitgebers/Auftragnehmers/Überlassers liegen, unmöglich oder wesentlich erschwert sein werde (§7m Abs3 AVRAG). Eine Prüfung, die die Interessen des Auftraggebers berücksichtigt, wird jedoch weder vom Gesetzgeber noch vom Verwaltungsgericht vorgenommen. Der Auftraggeber wird daher bei rechtswidriger Festsetzung der Höhe der Sicherheitsleistung, ohne Abwägung seiner Interessen, einseitig mit dem Rechtsschutzrisiko belastet.

Dem Gesetzgeber ist es nicht gelungen, den zur Wahrung des Rechtsstaatsprinzips erforderlichen Ausgleich zwischen den in §7m AVRAG berührten Interessen zu gewährleisten: Der Gesetzgeber hat zwar im ersten Verfahrensschritt den Interessen des Auftraggebers im behördlichen Verfahren zum Erlag einer Sicherheitsleistung Rechnung getragen, indem etwa der Zahlungsstopp außer Kraft tritt, sofern die Behörde nicht binnen zehn Tagen den Erlag einer Sicherheitsleistung aufträgt (vgl §7m Abs2 AVRAG). Im weiteren Verfahren nach dem Auftrag zum Erlag einer Sicherheitsleistung hat der Gesetzgeber eine vergleichbare Interessenabwägung aber weder selbst vorgenommen noch hat er das Verwaltungsgericht zu einer solchen ermächtigt, sodass die Interessen des - sich rechtmäßig verhaltenden - Auftraggebers gegen eine (allenfalls auch grob) unrichtige Festsetzung der Sicherheitsleistung gänzlich unberücksichtigt bleiben. Der generelle Ausschluss der aufschiebenden Wirkung verhindert eine einzelfallbezogene Abwägung der betroffenen Interessen durch das Verwaltungsgericht. Das Rechtsstaatsprinzip und der daraus abgeleitete Grundsatz der Effektivität des Rechtsschutzes verbieten jedoch, dass der Rechtsschutzsuchende generell einseitig mit allen Folgen einer potentiell rechtswidrigen behördlichen Entscheidung bis zur endgültigen Erledigung seines Rechtsschutzgesuchs belastet wird. Eine von den allgemeinen Bestimmungen der Verfahrensgesetze abweichende Regelung ist aber nur dann zulässig (Art136 Abs2 B-VG), wenn sie nicht anderen Verfassungsbestimmungen, etwa dem Rechtsstaatsprinzip und dem daraus abgeleiteten Grundsatz der Effektivität des Rechtsschutzes widerspricht.

§7m Abs7 AVRAG geht jedoch über eine unerlässliche Abweichung von §13 VwGVG hinaus, weil die Bestimmung nicht bloß eine Umkehrung des in §13 VwGVG geschaffenen Systems der aufschiebenden Wirkung vorsieht (wie etwa §16 Abs2 BFA-Verfahrensgesetz), sondern den Rechtsschutzsuchenden generell und ohne Überprüfungsmöglichkeit im Rechtsmittelweg einseitig mit allen Folgen einer potentiell rechtswidrigen Entscheidung so lange belastet, bis sein Rechtsschutzgesuch endgültig erledigt ist.

Die konkrete Ausgestaltung eines Systems, das sowohl den verfassungsrechtlichen Vorgaben als auch den faktischen Gegebenheiten beim Vollzug des AVRAG entspricht, insbesondere im Hinblick auf den in §7m Abs3 letzter Satz AVRAG vorgesehenen Wegfall des Zahlungsstopps, liegt im gesetzgeberischen Gestaltungsspielraum.

(Anlassfall E693/2017, E v 06.03.2018, Aufhebung des angefochtenen Beschlusses).

Entscheidungstexte

Schlagworte

Verwaltungsgerichtsverfahren, Wirkung aufschiebende, Rechtsschutz, Rechtsstaatsprinzip, Arbeitsrecht, Arbeitsvertrag, Sicherheitsleistung, Verwaltungsstrafrecht, Verwaltungsstrafverfahren

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:VFGH:2018:G260.2017

Zuletzt aktualisiert am

30.07.2019
Quelle: Verfassungsgerichtshof VfGH, http://www.vfgh.gv.at
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