TE Vfgh Erkenntnis 2017/9/22 V58/2017 ua (V58/2017-15, V64-66/2017-14, V69-78/2017-14, V87-88/2017-5

JUSLINE Entscheidung

Veröffentlicht am 22.09.2017
beobachten
merken

Index

L4000 Anstandsverletzung, Bettelei, Ehrenkränkung, Lärmerregung

Norm

B-VG Art18 Abs2
B-VG Art139 Abs1 / Prüfungsumfang
B-VG Art139 Abs6 zweiter Satz
Vlbg Landes-SicherheitsG §7 Abs3
Bludenzer BettelverbotsV vom 19.11.2015

Leitsatz

Gesetzwidrigkeit der Bludenzer Bettelverbotsverordnung betreffend ein Verbot auch des stillen Bettelns in der Innenstadt von Bludenz mangels eines Nachweises der Erforderlichkeit des flächenmäßig nicht differenzierenden und zeitlich unbeschränkten Verbotes

Spruch

I. Die von der Stadtvertretung Bludenz am 19. November 2015 beschlossene Verordnung (betreffend ein örtliches Bettelverbot), kundgemacht durch Anschlag an der Amtstafel von 20. November 2015 bis 4. Dezember 2015, wird als gesetzwidrig aufgehoben.

Die aufgehobene Verordnung ist nicht mehr anzuwenden.

Die Vorarlberger Landesregierung ist zur unverzüglichen Kundmachung dieser Aussprüche im Vorarlberger Landesgesetzblatt verpflichtet.

II. Die Anträge auf Aufhebung des §1 der Verordnung werden zurückgewiesen.

Begründung

Entscheidungsgründe

I.       Anträge

Mit den vorliegenden, auf Art139 Abs1 Z1 B-VG gestützten Anträgen begehrt das Landesverwaltungsgericht Vorarlberg, §1 der von der Stadtvertretung Bludenz am 19. November 2015 beschlossenen Verordnung (betreffend ein örtliches Bettelverbot), kundgemacht durch Anschlag an der Amtstafel von 20. November 2015 bis 4. Dezember 2015 unter der Zahl 0.1/41-5 Dr.K/ju, (im Folgenden: Bludenzer Bettelverbots-VO), in eventu die Verordnung zur Gänze als gesetzwidrig aufzuheben.

II.      Rechtslage

Die maßgebliche Rechtslage stellt sich wie folgt dar:

1.       Die Bettelei wird im dritten Abschnitt in den §§7, 8 und 9 des Gesetzes über Angelegenheiten der örtlichen Sicherheitspolizei (im Folgenden: Vbg. Landes-Sicherheitsgesetz), LGBl 1/1987 idF LGBl 121/2015, geregelt (jeweils idF LGBl 61/2013 und §7 Abs1 idF LGBl 121/2015). Diese Bestimmungen lauten:

"§7

Bettelverbot

(1) Es ist verboten, an öffentlichen Orten oder im Umherziehen von Haus zu Haus oder von Wohnung zu Wohnung wie folgt zu betteln:

a) in aufdringlicher oder aggressiver Weise, wie durch Anfassen, unaufgefordertes Begleiten, Nachgehen oder Beschimpfen;

b) unter Mitführung einer unmündigen minderjährigen Person;

c) als Beteiligter einer organisierten Gruppe.

(2) Weiters ist es verboten,

a) eine Person zum Betteln in einer organisierten Gruppe zu veranlassen oder sonst das Betteln durch eine Gruppe zu organisieren oder

b) – soweit dies nicht bereits von der lita erfasst ist – eine unmündige minderjährige Person zum Betteln zu veranlassen.

(3) Die Gemeindevertretung kann durch Verordnung auch ein nicht nach Abs1 verbotenes Betteln an bestimmten öffentlichen Orten untersagen, wenn aufgrund der dort zu erwartenden Anzahl an bettelnden Personen und der örtlichen Verhältnisse zu befürchten ist, dass die Benützung des öffentlichen Orts durch andere Personen erschwert wird, oder durch solches Betteln sonst ein das örtliche Gemeinschaftsleben störender Missstand bereits besteht oder unmittelbar zu erwarten ist.

§8

Bewilligungspflichtiges

Betteln

(1) Ein nicht bereits nach §7 verbotenes Betteln ist nur mit Bewilligung der Behörde gestattet, sofern es im Umherziehen von Haus zu Haus oder von Wohnung zu Wohnung erfolgt.

(2) Die Bewilligung nach Abs1 kann nur an eine Person erteilt werden, die

a) das 18. Lebensjahr vollendet hat,

b) glaubhaft macht, dass sie nicht in einer Art und Weise bettelt, die nach §7 Abs1 verboten ist, und

c) in den letzten fünf Jahren nicht wegen eines Verstoßes gegen eine Bestimmung dieses Abschnittes bestraft worden ist.

(3) Die Bewilligung ist befristet, mit Auflagen und Bedingungen, einschließlich örtlicher und zeitlicher Beschränkungen, zu erteilen, soweit dies zur Vermeidung von unzumutbaren Belästigungen erforderlich ist. In der Bewilligung ist auch festzulegen, dass sich der Bewilligungsinhaber beim Betteln auf Verlangen auszuweisen hat.

(4) Die Behörde hat die Bewilligung mit Bescheid zu widerrufen, wenn eine Voraussetzung für ihre Erteilung nicht oder nicht mehr vorliegt.

(5) Die Bezirkshauptmannschaften sind verpflichtet, der Behörde auf Verlangen die Daten über eine Bestrafung wegen einer Übertretung im Sinne des Abs2 litc zu übermitteln oder ihr eine entsprechende automationsunterstützte Abfrage zu ermöglichen, soweit diese Daten für die Überprüfung, ob die Voraussetzung nach Abs2 litc erfüllt ist, erforderlich sind.

(6) Alle Amtshandlungen und schriftlichen Ausfertigungen in Vollziehung der Abs1 bis 5 sind von den durch landesrechtliche Vorschriften vorgesehenen Verwaltungsabgaben und Gebühren befreit.

§9

Wegweisung

Die Organe des öffentlichen Sicherheitsdienstes haben von der Festnahme gemäß §35 Z3 des Verwaltungsstrafgesetzes 1991 abzusehen, wenn die Fortsetzung oder Wiederholung einer Übertretung nach §7 durch Wegweisung der betreffenden Person vom öffentlichen Ort verhindert werden kann."

2.       Die Strafbestimmung des §15 Vbg. Landes-Sicherheitsgesetz (idF LGBl 121/2015) lautet:

"§15

Strafbestimmungen

(1) Eine Übertretung begeht, wer

a) bis c) […]

d) dem §7 Abs1 oder einer gemäß §7 Abs3 erlassenen Verordnung zuwiderhandelt oder ohne Bewilligung gemäß §8 Abs1 bettelt oder in einer Bewilligung gemäß §8 Abs3 enthaltene Auflagen nicht erfüllt,

e) dem §7 Abs2 zuwiderhandelt,

f) […].

(2) Von der Bezirkshauptmannschaft sind Übertretungen nach

a) Abs1 lita, d und f mit einer Geldstrafe bis 700 Euro,

b) […],

c) Abs1 lite mit einer Geldstrafe bis 10.000 Euro zu bestrafen.

(3) Der Versuch ist strafbar.

(4) Geld- und Sachleistungen, die unter Verstoß gegen §7 oder §8 erworben wurden, können unabhängig von einer Bestrafung nach Abs1 für verfallen erklärt werden."

3.       Die von der Stadtvertretung Bludenz am 19. November 2015 beschlossene Verordnung, kundgemacht durch Anschlag an der Amtstafel von 20. November 2015 bis 4. Dezember 2015 unter der Zahl 0.1/41-5 Dr.K/ju, (hier: Bludenzer Bettelverbots-VO) lautet (die im Hauptantrag angefochtenen Wortfolgen sind hervorgehoben):

"Verordnung

Da aufgrund der dort zu erwartenden Anzahl an bettelnden Personen und der örtlichen Verhältnisse zu befürchten ist, dass die Benützung des öffentlichen Ortes durch andere Personen erschwert wird oder durch solches Betteln sonst ein das örtliche Gemeinschaftsleben störender Missstand bereits besteht oder unmittelbar zu erwarten ist, wird aufgrund §7 Abs3 des Gesetzes über Angelegenheiten der örtlichen Sicherheitspolizei (Landes-Sicherheitsgesetz), LGBl Nr 1/1987 idgF, und des Beschlusses der Stadtvertretung vom 19. November 2015 verordnet:

§1

Ein nicht nach §7 Abs1 Landes-Sicherheitsgesetz verbotenes Betteln ist an folgenden öffentlichen Orten untersagt:

Gemäß Übersichtsplan vom 17. November 2015, welcher einen integrierenden Bestandteil dieser Verordnung bildet.

Bettelverbots-VOBludenzPlan

§2

Wer den Bestimmungen des §1 zuwider handelt, begeht eine Verwaltungsübertretung, die von der Bezirkshauptmannschaft gemäß §15 Abs2 Landes-Sicherheitsgesetz geahndet wird.

§3

Diese Verordnung tritt mit Beginn des auf die Kundmachung folgenden Tages in Kraft.

Der Bürgermeister:

Josef Katzenmayer"

(Zitat ohne die im Original enthaltenen Hervorhebungen)

III.    Anlassverfahren, Antragsvorbringen und Vorverfahren

1.       Das Landesverwaltungsgericht Vorarlberg hat aus Anlass von 16 bei ihm anhängigen Verwaltungsstrafverfahren die unter Pkt. I. genannten Anträge auf Aufhebung (des §1) der Bludenzer Bettelverbots-VO gestellt. Den Strafverfahren liegt jeweils "stilles" Betteln in näher bezeichneten Straßen oder Plätzen der Stadt Bludenz zugrunde, die innerhalb des im Übersichtsplan der Bludenzer Bettelverbots-VO rot ausgewiesenen Gebiets liegen. Über die "still" bettelnden Personen wurde wegen Verstoßes gegen §1 der Bludenzer Bettelverbots-VO jeweils eine Geldstrafe gemäß §15 Abs2 iVm Abs1 Vbg. Landes-Sicherheitsgesetz verhängt.

2.       Das Landesverwaltungsgericht Vorarlberg legt die Bedenken, die es zur Antragstellung beim Verfassungsgerichtshof bestimmt haben, nach Wiedergabe des jeweiligen Sachverhalts, der Rechtslage und des Amtsberichts der Stadtvertretung Bludenz zur Bettelverbots-VO, wie folgt dar:

"Der Nachweis des Vorliegens eines Missstandes wurde von der verordnungserlassenden Stadtvertretung nur teilweise erbracht. Die besondere Erschwernis der Benützung des von der Bludenzer Verordnung erfassten öffentlichen Gebietes durch bettelnde Personen wurde nur hinsichtlich einzelner bestimmter Orte (zB Fußgängerzone, Parkscheinautomat) dargelegt und belegt. Dem Amtsbericht der Stadt Bludenz ist zwar zu entnehmen, dass aufgrund der spezifischen örtlichen Gegebenheiten die Benützung bestimmter öffentlicher Orte in der Bludenzer Innenstadt (Fußgängerzone, einzelne Parkscheinautomaten) durch andere Personen erschwert wird bzw der bestimmungsgemäße Gebrauch nicht mehr gegeben ist, die Stadtvertretung der Stadt Bludenz vermag es jedoch nicht hinsichtlich des gesamten in der Verordnung rot markierten Gebietes nachzuweisen, dass ein spezifischer Missstand im Sinne des §7 Abs3 Landes-Sicherheitsgesetzes besteht. Die dem Landesverwaltungsgericht vorgelegten Verordnungsakten können nicht belegen, dass der bestimmungsgemäße Gebrauch bestimmter in der Verordnung rot markierter Bereiche aufgrund still bettelnder Personen nicht möglich wäre. Weder im Amtsbericht, noch im Verordnungsakt sind Nachweise hinsichtlich des Gebietes rund um das Franziskanerkloster (Adresse: Kapuzinerstraße 2), die Heilig-Kreuzkirche oder der Wichnerstraße enthalten, weshalb die Verordnung hinsichtlich einzelner Örtlichkeiten in Ermangelung eines konkret nachgewiesenen und belegten Missstandes sachlich nicht gerechtfertigt erscheint.

Die von der Stadt Bludenz erlassene Verordnung betreffend das Verbot des stillen Bettelns ist zeitlich unbeschränkt und undifferenziert von '0 bis 24 Uhr' sowie 365 Tage im Jahr für das im Plan rot markierte Gebiet in Geltung. Der Nachweis, dass der von der Stadt Bludenz ermittelte und nachgewiesene Missstand ohne Unterbrechung 24 Stunden, 365 Tage im Jahr andauert, kann nicht erbracht werden. Im Hinblick auf die Judikatur des Verfassungsgerichtshofes vom 14.03.2017, V23/2016-13, ist ein zeitlich völlig undifferenziertes Verbot des stillen Bettelns an öffentlichen Orten, das über die Erschwernis ihrer spezifischen Nutzung hinausgeht, nicht erlaubt und somit verfassungswidrig." (Zitat ohne die im Original enthaltenen Hervorhebungen)

3.       Die verordnungserlassende Behörde hat die Akten betreffend das Zustandekommen der angefochtenen Verordnung vorgelegt und eine Äußerung erstattet, in der sie vor allem hervorhebt, dass Besucher und Kundschaften die Bludenzer Innenstadt wegen aggressiv bettelnder Personen meiden würden und darauf hinweist, dass sich die Situation durch Erlassung der Bludenzer Bettelverbots-VO gebessert habe.

4.       Die Vorarlberger Landesregierung hat dem Verfassungsgerichtshof Akten der Bezirkshauptmannschaft Bludenz betreffend die angefochtene Verordnung übermittelt, ohne eine Äußerung zu erstatten.

5.       Einige der im Verwaltungsstrafverfahren vor dem antragstellenden Landesverwaltungsgericht Vorarlberg beschwerdeführenden Parteien haben eine Äußerung erstattet.

IV.      Erwägungen

Der Verfassungsgerichtshof hat über die in sinngemäßer Anwendung der §§187 und 404 ZPO iVm §35 Abs1 VfGG zur gemeinsamen Beratung und Entscheidung verbundenen Anträge erwogen:

1.        Zur Zulässigkeit der Anträge

1.1.    Der Verfassungsgerichtshof ist nicht berechtigt, durch seine Präjudizialitätsentscheidung das antragstellende Gericht an eine bestimmte Rechtsauslegung zu binden, weil er damit indirekt der Entscheidung dieses Gerichtes in der Hauptsache vorgreifen würde. Gemäß der ständigen Rechtsprechung des Verfassungsgerichtshofes darf daher ein Antrag iSd Art139 Abs1 Z1 B-VG bzw. des Art140 Abs1 Z1 lita B-VG nur dann wegen mangelnder Präjudizialität zurückgewiesen werden, wenn es offenkundig unrichtig (denkunmöglich) ist, dass die – angefochtene – generelle Norm eine Voraussetzung der Entscheidung des antragstellenden Gerichtes im Anlassfall bildet (vgl. etwa VfSlg 10.640/1985, 12.189/1989, 15.237/1998, 16.245/2001 und 16.927/2003).

Es ist nichts hervorgekommen, was an der Präjudizialität der angefochtenen Bestimmung zweifeln ließe.

1.2.    Die Grenzen der Aufhebung einer auf ihre Gesetzmäßigkeit hin zu prüfenden Verordnungsbestimmung sind, wie der Verfassungsgerichtshof sowohl für von Amts wegen als auch für auf Antrag eingeleitete Normprüfungsverfahren schon wiederholt dargelegt hat (VfSlg 13.965/1994 mwN, 16.542/2002, 16.911/2003), notwendig so zu ziehen, dass einerseits der verbleibende Verordnungsteil nicht einen völlig veränderten Inhalt bekommt und dass andererseits die mit der aufzuhebenden Verordnungsstelle in untrennbarem Zusammenhang stehenden Bestimmungen auch erfasst werden.

Dieser Grundposition folgend hat der Verfassungsgerichtshof die Rechtsauffassung entwickelt, dass im Normprüfungsverfahren der Anfechtungsumfang der in Prüfung gezogenen Norm bei sonstiger Unzulässigkeit des Prüfungsantrages nicht zu eng gewählt werden darf (vgl. zB VfSlg 16.212/2001, 16.365/2001, 18.142/2007, 19.496/2011; VfGH 14.3.2017, G311/2016). Das antragstellende Gericht hat all jene Normen anzufechten, die für das anfechtende Gericht präjudiziell sind und vor dem Hintergrund der Bedenken für die Beurteilung der allfälligen Verfassungswidrigkeit der Rechtslage eine untrennbare Einheit bilden. Es ist dann Sache des Verfassungsgerichtshofes, darüber zu befinden, auf welche Weise eine solche Verfassungswidrigkeit – sollte der Verfassungsgerichtshof die Auffassung des antragstellenden Gerichtes teilen – beseitigt werden kann (VfSlg 16.756/2002, 19.496/2011, 19.684/2012, 19.903/2014; VfGH 10.3.2015, G201/2014).

Unzulässig ist der Antrag etwa dann, wenn der im Falle der Aufhebung im begehrten Umfang verbleibende Rest einer Verordnungsstelle als sprachlich unverständlicher Torso inhaltsleer und unanwendbar wäre (VfSlg 16.279/2001, 19.413/2011; VfGH 19.6.2015, G211/2014; 7.10.2015, G444/2015; 10.10.2016, G662/2015), der Umfang der zur Aufhebung beantragten Bestimmungen so abgesteckt ist, dass die angenommene Verfassungswidrigkeit durch die Aufhebung gar nicht beseitigt würde (vgl. zB VfSlg 18.891/2009, 19.933/2014), oder durch die Aufhebung bloßer Teile einer Gesetzesvorschrift dieser ein völlig veränderter, dem Verordnungsgeber überhaupt nicht mehr zusinnbarer Inhalt gegeben würde (VfSlg 18.839/2009, 19.841/2014, 19.972/2015; VfGH 15.10.2016, G339/2015).

Unter dem Aspekt einer nicht trennbaren Einheit in Prüfung zu ziehender Vorschriften ergibt sich ferner, dass ein Prozesshindernis auch dann vorliegt, wenn es auf Grund der Bindung an den gestellten Antrag zu einer in der Weise isolierten Aufhebung einer Bestimmung käme, dass Schwierigkeiten bezüglich der Anwendbarkeit der im Rechtsbestand verbleibenden Vorschriften entstünden, und zwar in der Weise, dass der Wegfall der angefochtenen (Teile einer) Bestimmung den verbleibenden Rest unverständlich oder auch unanwendbar werden ließe. Letzteres liegt dann vor, wenn nicht mehr mit Bestimmtheit beurteilt werden könnte, ob ein der verbliebenen Vorschrift zu unterstellender Fall vorliegt (VfSlg 16.869/2003 mwN).

In diesem Sinne erweisen sich zwar die (Haupt-)Anträge des Landesverwaltungsgerichts Vorarlberg als zu eng gefasst, weil §2 (Verweis auf die landesgesetzliche Strafbestimmung) und §3 (Inkrafttreten der VO) mit dem in §1 der Bludenzer Bettelverbots-VO enthaltenen Verbot in untrennbarem Zusammenhang stehen (vgl. VfSlg 18.305/2007 und 14.068/1995), hingegen – da sonst keine Prozesshindernisse hervorgekommen sind – erweisen sich die Eventualanträge auf Aufhebung der Bludenzer Bettelverbots-VO zur Gänze als zulässig.

2.       In der Sache

2.1.    Der Verfassungsgerichtshof ist in einem auf Antrag eingeleiteten Verfahren zur Prüfung der Gesetzmäßigkeit einer Verordnung gemäß Art139 B-VG auf die Erörterung der geltend gemachten Bedenken beschränkt (vgl. VfSlg 11.580/1987, 14.044/1995, 16.674/2002). Er hat sohin ausschließlich zu beurteilen, ob die angefochtene Verordnung aus den in der Begründung des Antrages dargelegten Gründen gesetzwidrig ist (VfSlg 15.644/1999, 17.222/2004).

2.2.    Die Anträge sind begründet:

2.2.1.  Die Bludenzer Bettelverbots-VO untersagt ein nicht nach §7 Abs1 Vbg. Landes-Sicherheitsgesetz verbotenes Betteln an öffentlichen Orten, die in einem Übersichtsplan, der Teil der Verordnung ist, flächenmäßig rot ausgewiesen sind. Die Verbotszone erfasst iW die Bludenzer Altstadt, die Innenstadt und erstreckt sich südöstlich bis zur Kirche Heiliges Kreuz in der St. Peter-Straße und südwestlich bis zum Bludenzer Bahnhof; sie gilt zeitlich unbeschränkt.

Die Gemeindevertretung darf gemäß §7 Abs3 Vbg. Landes-Sicherheitsgesetz Betteln – auch "stilles" Betteln (vgl. dazu VfSlg 19.662/2012) – an öffentlichen Orten durch Verordnung verbieten, wenn "aufgrund der dort zu erwartenden Anzahl an bettelnden Personen und der örtlichen Verhältnisse zu befürchten ist, dass die Benützung des öffentlichen Orts durch andere Personen erschwert wird, oder durch solches Betteln sonst ein das örtliche Gemeinschaftsleben störender Missstand bereits besteht oder unmittelbar zu erwarten ist". Demgemäß muss für ein durch Verordnung erlassenes Bettelverbot eine erhebliche Erschwernis der Benützung des öffentlichen Raumes oder ein sonstiger Missstand vorliegen (vgl. VfGH 14.10.2016, E552/2016 ua.), der von der Gemeinde jeweils ermittelt und auch nachgewiesen werden muss (vgl. VfGH 14.10.2016, E552/2016 ua. mwN).

2.2.2.  Dieser Nachweis sei – so die Bedenken des antragstellenden Verwaltungsgerichts – von der Stadtvertretung Bludenz nicht erbracht worden. Es sei der Stadtvertretung nicht gelungen, nachzuweisen, dass "der von der Stadt Bludenz ermittelte und nachgewiesene Missstand [in der in der Verordnung rot ausgewiesenen Verbotszone] ohne Unterbrechung 24 Stunden, 365 Tage im Jahr andauert".

2.2.3.  Dieses Bedenken trifft zu:

Die dem Verfassungsgerichtshof vorgelegten Verordnungsakten können nicht belegen, dass es zur Abwehr eines zumindest unmittelbar zu erwartenden Missstandes (vgl. VfGH 14.3.2017, V23/2016) erforderlich ist, auch "stilles" Betteln in dem in der Bludenzer Bettelverbots-VO ausgewiesenen Gebiet zu verbieten.

Im Amtsbericht der Stadtvertretung Bludenz zur Bettelverbots-VO heißt es:

"

Die Bettlerproblematik in der Bludenzer Innenstadt, das ist vorwiegend die Altstadt (zwischen Herrengasse, Untersteinstraße, Wichnerstraße, Pulverturmstraße, Bahnhofstraße und Mutterstraße) hat sich seit Anfang des Jahres 2015 deutlich verschärft. […]

Von Seiten der Bevölkerung der Stadt Bludenz sowie von vielen Geschäftsleuten in der Innenstadt langen täglich Beschwerden über die unzumutbaren Zustände im Zusammenhang mit den Bettlern bei der Polizeiinspektion und der ho. Dienststelle ein. Kundschaften berichten, dass sie bei solchen Zuständen nicht mehr gewillt sind in Bludenz einzukaufen. […]

Durch diese für die Innenstadt hohe Anzahl von Bettlern wird die Benützung des öffentlichen Orts durch andere Personen erschwert. So gibt es immer wieder Probleme in Eingangsbereichen von Geschäften und beim Durchgang unter den Lauben. Das Lösen von Parkscheinen an den Automaten in der Innenstadt und beim Rathaus wird für die Nutzer seit ca. einem Monat durch davor sitzende Bettler erschwert."

Weiters wird im Amtsbericht ein Petitionsschreiben der Bludenzer Wirtschaftsgemeinschaft wie folgt wiedergegeben:

"Aktuell häufen sich die Beschwerden von Kundinnen u. Kunden in den Betrieben der Innenstadt über das ausufernde Bettelwesen. Was zunächst nur als störend empfunden wurde, wirkt sich mittlerweile als spürbar geschäftsschädigend aus. Kundinnen und Kunden fühlen sich belästigt und vermeiden somit die Innenstadt gänzlich. Immer wieder kommt es zudem zu unangenehmen Situationen zwischen Geschäftstreibenden und Bettlern; aufgrund der Gesetzeslage treten Geschäftstreibende den Bettlern meist machtlos gegenüber.

Die Bludenzer Geschäftstreibenden sind bemüht, das Einkaufserlebnis in der Bludenzer Innenstadt attraktiv zu gestalten und dadurch Kunden- und Besucherfrequenz zu generieren. Um jedoch den geschilderten Zustand in Zukunft einzudämmen, sind wir auf die Unterstützung der Stadt Bludenz angewiesen […]".

Es mag zwar zutreffen, dass auf Grund der örtlichen Verhältnisse an manchen Orten und zu manchen Zeiten in der Stadt Bludenz die Benützung des öffentlichen Raumes im Sinne des §7 Abs3 Vbg. Landes-Sicherheitsgesetz auch durch "stille" Bettler erschwert wird. Die Bludenzer Bettelverbots-VO verbietet "stilles" Betteln jedoch nicht nur an bestimmten Orten oder zu bestimmten Zeiten, sondern flächenmäßig ohne jegliche Differenzierung und zeitlich unbeschränkt. Wie das Landesverwaltungsgericht Vorarlberg zutreffend ausführt, vermögen die von der Stadtvertretung Bludenz vorgebrachten Argumente ein derart umfassendes Bettelverbot nicht zu begründen (vgl. VfGH 28.6.2017, V27/2017, und VfGH 14.3.2017, V23/2016).

Mangels Nachweises der Erforderlichkeit gemäß §7 Abs3 Vbg. Landes-Sicherheitsgesetz erweist sich die Bludenzer Bettelverbots-VO daher als gesetzwidrig.

V.       Ergebnis

1.       Die Bludenzer Bettelverbots-VO ist daher wegen Verstoßes gegen §7 Abs3 Vbg. Landes-Sicherheitsgesetz aufzuheben.

2.       Der Verfassungsgerichtshof sieht sich veranlasst, von der ihm durch Art139 Abs6 zweiter Satz B-VG eingeräumten Ermächtigung Gebrauch zu machen und auszusprechen, dass die aufgehobene Verordnung nicht mehr anzuwenden ist.

3.       Die Verpflichtung der Vorarlberger Landesregierung zur unverzüglichen Kundmachung der Aufhebung und der damit im Zusammenhang stehenden sonstigen Aussprüche erfließt aus Art139 Abs5 erster Satz B-VG und §59 Abs2 VfGG iVm §2 Abs1 litf des Vorarlberger Gesetzes über die Kundmachung von Rechtsvorschriften der Organe des Landes (Vbg. Kundmachungsgesetz).

4.       Da die zu V87/2017 und V88/2017 protokollierten Anträge des Landesverwaltungsgerichts Vorarlberg den zu V58/2017, V64/2017, V65/2017, V66/2017, V69/2017, V70/2017, V71/2017, V72/2017, V73/2017, V74/2017, V75/2017, V76/2017, V77/2017 und zu V78/2017 protokollierten Anträgen gleichen, hat der Verfassungsgerichtshof gemäß §19 Abs3 Z4 VfGG davon abgesehen, ein weiteres Verfahren in diesen Rechtssachen durchzuführen. Dies erfolgt im Hinblick darauf, dass die in den Verfahren über die Anträge zu V87/2017 und zu V88/2017 aufgeworfenen Rechtsfragen durch die Entscheidung über die sonstigen Anträge des Landesverwaltungsgerichts Vorarlberg bereits geklärt sind.

5.       Diese Entscheidung konnte gemäß §19 Abs4 VfGG ohne mündliche Verhandlung in nichtöffentlicher Sitzung getroffen werden.

Schlagworte

Bettelverbot, Sicherheitspolizei örtliche, Gemeinderecht, Wirkungsbereich eigener, VfGH / Prüfungsumfang, VfGH / Aufhebung Wirkung

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:VFGH:2017:V58.2017

Zuletzt aktualisiert am

06.12.2017
Quelle: Verfassungsgerichtshof VfGH, http://www.vfgh.gv.at
Zurück Haftungsausschluss Vernetzungsmöglichkeiten

Sofortabfrage ohne Anmeldung!

Jetzt Abfrage starten