TE Vfgh Erkenntnis 2013/12/11 U1914/2012 ua

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Veröffentlicht am 11.12.2013
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Index

41/02 Staatsbürgerschaft, Pass- und Melderecht, Fremdenrecht, Asylrecht

Norm

B-VG Art83 Abs2
AsylG 2005 §3, §8, §10, §20 Abs1, Abs2, §34 Abs4
Geschäftsverteilung des AsylGH für das Geschäftsjahr 2012 §2 Abs5 Z1, §19 Abs5

Leitsatz

Entzug des gesetzlichen Richters durch Abweisung der Anträge der tschetschenischen Beschwerdeführer auf internationalen Schutz und Ausweisung in die Russische Föderation wegen unrichtiger Zusammensetzung des Spruchkörpers des Asylgerichtshofes im Hinblick auf den von der Zweitbeschwerdeführerin geltend gemachten Fluchtgrund einer drohenden Vergewaltigung; Durchschlag dieses Mangels auf die Entscheidungen der anderen Beschwerdeführer

Spruch

I.              Die Beschwerdeführer sind durch die angefochtenen Entscheidungen im verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf ein Verfahren vor dem gesetzlichen Richter verletzt worden.              

Die Entscheidungen werden aufgehoben.

II.              Der Bund (Bundeskanzler) ist schuldig, der Zweitbeschwerdeführerin zuhanden ihres Rechtsvertreters die mit € 2.616,– sowie dem Erst- und Drittbeschwerdeführer zuhanden ihres Rechtsvertreters die mit € 2.877,60 bestimmten Prozesskosten binnen 14 Tagen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.

Begründung

Entscheidungsgründe

I. Sachverhalt, Beschwerdevorbringen und Vorverfahren

1. Die Beschwerdeführer sind Staatsangehörige der Russischen Föderation (Tschetschenien). Die Zweitbeschwerdeführerin ist die Mutter der minderjährigen Erst- und Drittbeschwerdeführer. Sie reisten gemeinsam am 30. Jänner 2012 nach Österreich ein und stellten am selben Tag einen Antrag auf internationalen Schutz. Nach ihren Fluchtgründen befragt, gab die Zweitbeschwerdeführerin im Zuge ihrer Erstbefragung an, ihr Mann sei im Jahr 2005 von der tschetschenischen Polizei festgenommen worden und anschließend drei Jahre in Grosny und weitere drei Jahre in Ivdel in Haft genommen worden. Am 23. September 2011 sei ihr Mann aus der Haft entlassen worden. Nach der Entlassung sei er in der Stadt Nazran in Inguschetien verblieben. Danach seien tschetschenische Polizisten zwei Mal zur Zweitbeschwerdeführerin gekommen, hätten sie mitgenommen und sie nach dem Aufenthaltsort ihres Mannes befragt. Die Polizisten hätten der Zweitbeschwerdeführerin ein Ultimatum gesetzt, dass sie sie festnehmen würden, sollte ihr Mann nicht kommen und sich stellen. In ihrer Befragung vor dem Bundesasylamt gab die Zweitbeschwerdeführerin an, nach der Entlassung ihres Mannes zwei Mal von Kadyrow-Leuten einvernommen worden zu sein. Bei der letzten Einvernahme habe man ihr eine Woche Zeit gegeben, damit sich ihr Mann stelle. Dabei habe man ihr gedroht, sie umzubringen, einzusperren oder zu vergewaltigen. Zudem habe man ihr gedroht, dass sie ihre Kinder nicht wieder sehen würde. Für ihre minderjährigen Kinder gab die Zweitbeschwerdeführerin keine eigenen Fluchtgründe an.

2. Am 11. April 2012 erließ das Bundesasylamt drei Bescheide, mit denen die Anträge aller Beschwerdeführer auf Zuerkennung von Asyl bzw. subsidiärem Schutz abgewiesen und die Beschwerdeführer in die Russische Föderation ausgewiesen wurden. Begründet wurden diese Bescheide im Wesentlichen damit, dass das Vorbringen der Beschwerdeführer unglaubwürdig sei.

3. Gegen diese Bescheide erhoben die Beschwerdeführer fristgerecht Beschwerden an den Asylgerichtshof. Dort wurde die Rechtssache der Gerichtsabteilung D/9, bestehend aus zwei männlichen Richtern, zugeteilt.

4. Der Asylgerichtshof wies mit Entscheidungen vom 3. September 2012 die Beschwerden ab und ordnete die Ausweisung der Beschwerdeführer aus dem Bundesgebiet an. Der Asylgerichtshof ordnete weiters an, dass die Ausweisung bis Ende Dezember 2012 aufzuschieben sei, da die Zweitbeschwerdeführerin im achten Monat schwanger sei und die Durchführung einer Ausweisung in den Wochen nach der Geburt angesichts des Schonungsbedarfs (vgl. §§3 und 5 Mutterschutzgesetz) mit einem nicht unerheblichen Gesundheitsrisiko verbunden wäre.

5. Der Asylgerichtshof begründete die Abweisung der Anträge auf internationalen Schutz damit, dass es den Beschwerdeführern nicht gelungen sei, eine maßgebliche Gefahr asylrelevanter Verfolgung in ihrem Herkunftsstaat glaubhaft zu machen. Die Abweisung der Anträge auf subsidiären Schutz begründete der Asylgerichtshof damit, dass der Lebensunterhalt der Beschwerdeführer vor deren Ausreise aus ihrem Herkunftsstaat gesichert gewesen sei und im Verfahren keine überzeugenden Hinweise hervorgekommen seien, dass die Familie in eine ihre wirtschaftliche Existenz gefährdende Notlage geraten würde. Im Hinblick auf den Gesundheitszustand der Beschwerdeführer seien vor dem Hintergrund der im Zusammenhang mit Ausweisungen von Fremden ergangenen Judikatur des Europäischen Gerichtshofes, keine derart außergewöhnlichen Umstände erkennbar, dass eine unmenschliche Behandlung im Sinne des Art3 EMRK anzunehmen wäre.

6. Gegen diese Entscheidungen des Asylgerichtshofes richten sich die vorliegenden, auf Art144a B-VG gestützten Beschwerden, in der die Beschwerdeführer die Verletzung in verfassungsgesetzlich gewährleisteten Rechten geltend machen. Der Asylgerichtshof legte die Verwaltungsakten vor, verzichtete auf die Erstattung eine Gegenschrift, verwies auf die Begründung in den angefochtenen Entscheidungen und beantragte, die Beschwerden abzuweisen.

II. Rechtslage

1. §20 Asylgesetz 2005 – AsylG 2005, BGBl I 100/2005 idF BGBl I 4/2008 und §34 AsylG 2005 idF BGBl I 135/2009 lauten wie folgt:

"Einvernahmen von Opfern bei Eingriffen in die sexuelle Selbstbestimmung

§20. (1) Gründet ein Asylwerber seine Furcht vor Verfolgung (Art1 Abschnitt A Z2 der Genfer Flüchtlingskonvention) auf Eingriffe in seine sexuelle Selbstbestimmung, ist er von einem Organwalter desselben Geschlechts einzuvernehmen, es sei denn, dass er anderes verlangt. Von dem Bestehen dieser Möglichkeit ist der Asylwerber nachweislich in Kenntnis zu setzen.

(2) Für Verfahren vor dem Asylgerichtshof gilt Abs1 nur, wenn der Asylwerber den Eingriff in seine sexuelle Selbstbestimmung bereits vor dem Bundesasylamt oder in der Beschwerde behauptet hat. Diesfalls ist eine Verhandlung von einem Einzelrichter desselben Geschlechts oder einem aus Richtern desselben Geschlechts bestehenden Senat durchzuführen. Ein Verlangen nach Abs1 ist spätestens gleichzeitig mit der Beschwerde zu stellen.

(3) Abs1 gilt nicht für Verfahren vor dem Kammersenat.

(4) Wenn der betroffene Asylwerber dies wünscht, ist die Öffentlichkeit von der Verhandlung eines Senates oder Kammersenates auszuschließen. Von dieser Möglichkeit ist er nachweislich in Kenntnis zu setzen. Im Übrigen gilt §67e AVG."

"Familienverfahren im Inland

§34. (1) Stellt ein Familienangehöriger (§2 Abs1 Z22) von

1. einem Fremden, dem der Status des Asylberechtigten zuerkannt worden ist;

2. einem Fremden, dem der Status des subsidiär Schutzberechtigten (§8) zuerkannt worden ist oder

3. einem Asylwerber

einen Antrag auf internationalen Schutz, gilt dieser als Antrag auf Gewährung desselben Schutzes.

(2) - (3) […]

(4) Die Behörde hat Anträge von Familienangehörigen eines Asylwerbers gesondert zu prüfen; die Verfahren sind unter einem zu führen; unter den Voraussetzungen der Abs2 und 3 erhalten alle Familienangehörigen den gleichen Schutzumfang. Entweder ist der Status des Asylberechtigten oder des subsidiär Schutzberechtigten zuzuerkennen, wobei die Zuerkennung des Status des Asylberechtigten vorgeht, es sei denn, alle Anträge wären als unzulässig zurückzuweisen oder abzuweisen. Jeder Asylwerber erhält einen gesonderten Bescheid. Ist einem Fremden der faktische Abschiebeschutz gemäß §12a Abs4 zuzuerkennen, ist dieser auch seinen Familienangehörigen zuzuerkennen.

(5) - (6) […]"

2. Die §§2 und 19 der Geschäftsverteilung des Asylgerichtshofes für das Geschäftsjahr 2012 lauten auszugsweise wie folgt:

"§2

Annexsachen

(1) - (4) […]

(5) Annexität liegt weiters vor, wenn sich eine Rechtssache auf ein Familienmitglied einer Person bezieht, auf die sich ein anderes Verfahren bezieht oder bezogen hat (Bezugsperson). Familienmitglieder in diesem Sinne sind:1. der Ehegatte der Bezugsperson oder eine Person, die mit der Bezugsperson im

Sinne des Art8 EMRK ein Familienleben in Form einer Lebensgemeinschaft führt, sowie die Geschwister, Eltern und Kinder des Ehegatten oder Lebensgefährten;

2. Vorfahren und Nachkommen der Bezugsperson sowie die Ehegatten (und Lebensgefährten) dieser Vorfahren und Nachkommen und die Geschwister und Kinder dieser Ehegatten (und Lebensgefährten);

3. Geschwister der Bezugsperson sowie die Ehegatten (und Lebensgefährten) und Kinder dieser Geschwister.

(6) - (7) […]"

"§19

Fälle der Unzuständigkeit

(1) - (4) […]

(5) Ist ein Richter als Einzelrichter oder als Vorsitzender eines Senates in einer Rechtssache wegen eines behaupteten Eingriffs in die sexuelle Selbstbestimmung gemäß §20 AsylG unzuständig und wird ihm aus diesem Grund diese Rechtssache abgenommen, so verliert er damit gleichzeitig auch seine Zuständigkeit für alle Rechtssachen, die zu dieser Rechtssache annex oder zu denen diese Rechtssache annex ist."

III. Erwägungen

Der Verfassungsgerichtshof hat über die – zulässige – Beschwerde erwogen:

1. Das Recht auf ein Verfahren vor dem gesetzlichen Richter wird durch den Bescheid einer Verwaltungsbehörde verletzt, wenn die Behörde eine ihr gesetzlich nicht zukommende Zuständigkeit in Anspruch nimmt (zB VfSlg 15.372/1998, 15.738/2000, 16.066/2001, 16.298/2001 und 16.717/2002) oder wenn sie in gesetzwidriger Weise ihre Zuständigkeit ablehnt, etwa indem sie zu Unrecht eine Sachentscheidung verweigert (zB VfSlg 15.482/1999, 15.858/2000, 16.079/2001 und 16.737/2002). Das verfassungsgesetzlich gewährleistete Recht auf ein Verfahren vor dem gesetzlichen Richter wird insbesondere dann verletzt, wenn eine an sich zuständige, aber nicht dem Gesetz entsprechend zusammengesetzte Kollegialbehörde entschieden hat (zB VfSlg 10.022/1984, 14.731/1997, 15.588/1999, 15.668/1999, 15.731/2000 und 16.572/2002).

1.1. Die Zweitbeschwerdeführerin hat im vorliegenden Fall mit ihrem Vorbringen im Zuge der Befragung und der Einvernahme vor dem Bundesasylamt zwar nicht behauptet, dass sie bereits Opfer eines sexuellen Übergriffs geworden sei, wohl aber, dass man ihr gedroht habe, sie zu vergewaltigen. Ein Verlangen im Sinne des §20 Abs2 iVm §20 Abs1 AsylG 2005 wurde nicht gestellt.

1.2. §20 Abs1 AsylG 2005 bestimmt, dass jener Asylwerber von Personen desselben Geschlechts einzuvernehmen ist, der seine Furcht vor Verfolgung auf "Eingriffe in seine sexuelle Selbstbestimmung [gründet]". Dazu heißt es in den Materialien (siehe RV 952 BlgNR 22. GP, 45):

"Ausdrücklich wird normiert, dass Asylwerber, die behaupten Opfer von sexuellen Misshandlung[en] zu sein oder solchen Gefahren ausgesetzt zu werden, von Personen desselben Geschlechts einzuvernehmen sind. In diesem Sinne hat etwa das Exekutiv-Komitee für das Programm des Hohen Flüchtlingskommissars der Vereinten Nationen die Staaten aufgefordert, wo immer dies notwendig ist, ausgebildete weibliche Anhörer in den Verfahren zur Feststellung des Flüchtlingsstatus zur Verfügung zu stellen, und den entsprechenden Zugang der weiblichen Asylsuchenden zu diesen Verfahren, auch wenn die Frauen von männlichen Familienmitgliedern begleitet werden, zu sichern (Beschluss Nr 64 [XLI] über Flüchtlingsfrauen und Internationalen Rechtsschutz lita Abschnitt iii). Dass die Gefahr, vergewaltigt oder sexuell misshandelt zu werden, in aller Regel unter den Tatbestand des Art1 Abschnitt A der Genfer Flüchtlingskonvention fällt, liegt auf der Hand und Bedarf keiner weiteren Erörterung (vgl. dazu insbesondere den Beschluss des Exekutiv-Komitees für das Programm des Hohen Flüchtlingskommissars der Vereinten Nationen Nr 73 [XLIV] betreffend Rechtsschutz für Flüchtlinge und sexuelle Gewalt). Unberührt bleibt von der Neufassung der Bestimmung die Absicht des Gesetzgebers hiermit internationale Beschlüsse umzusetzen (in diesem Sinne auch VwGH Erk. 2001/01/0402 vom 03.12.2003); daher sind, wenn es notwendig und möglich ist, etwa auch weibliche Dolmetscher für entsprechende Verfahren zu bestellen."

1.3. Daraus ergibt sich, dass der Gesetzgeber unter Bezugnahme auf und in Entsprechung von Empfehlungen in einschlägigen internationalen Dokumenten die Anordnung treffen wollte, dass die Einvernahme bzw. gemäß §20 Abs2 AsylG 2005 auch die Verhandlungsführung vor dem Asylgerichtshof schon dann durch Personen desselben Geschlechts durchzuführen ist, wenn die Flucht aus dem Heimatstaat nicht mit bereits stattgefundenen, sondern mit Furcht vor sexuellen Übergriffen begründet wurde.

1.4. Da die Zweitbeschwerdeführerin schon vor dem Bundesasylamt einen derartigen Fluchtgrund des drohenden sexuellen Missbrauchs geltend gemacht und die Durchführung des Verfahrens durch andere Richter nicht gemäß §20 Abs2 letzter Satz AsylG 2005 spätestens in der Beschwerde an den Asylgerichtshof verlangt hat, hätte ihre Beschwerde daher einem Senat mit Richtern desselben Geschlechts zugeteilt werden müssen.

1.5. Da der Asylgerichtshof durch einen aus einem vorsitzenden Richter und einem beisitzenden Richter bestehenden Senat über die Beschwerde entschieden hat, wurde die Zweitbeschwerdeführerin somit in ihrem Recht auf ein Verfahren vor dem gesetzlichen Richter verletzt (vgl. VfSlg 19.671/2012, VfGH 22.11.2012, U399, 400/2012 sowie VfGH 12.3.2013, U1674/2012).

1.6. Da die Entscheidung betreffend die Zweitbeschwerdeführerin durch einen unrichtig zusammengesetzten Spruchkörper getroffen wurde, schlägt dieser Mangel gemäß §19 Abs5 und §2 Abs5 Z1 der Geschäftsverteilung des Asylgerichtshofes für das Geschäftsjahr 2012 iVm §34 Abs4 AsylG 2005 auf die Entscheidungen betreffend den Erst- und Drittbeschwerdeführer durch.

IV. Ergebnis

1. Die angefochtenen Entscheidungen sind daher aufzuheben.

2. Diese Entscheidung konnte gemäß §19 Abs4 erster Satz VfGG ohne mündliche Verhandlung in nichtöffentlicher Sitzung getroffen werden.

3. Die Kostenentscheidung beruht auf §§88a iVm 88 VfGG. In den der Zweitbeschwerdeführerin zugesprochenen Kosten ist Umsatzsteuer in der Höhe von € 436,– enthalten. In den dem Erst- und Drittbeschwerdeführer zugesprochenen Kosten ist ein Streitgenossenzuschlag in der Höhe von € 218,– und Umsatzsteuer in der Höhe von € 479,60 enthalten. Ein Ersatz der Eingabengebühr gemäß §17a VfGG in der Höhe von jeweils € 240,– kommt nicht in Betracht, weil der Beschwerdeführerin und den Beschwerdeführern mit Beschluss vom 14. März 2013 Verfahrenshilfe auch im Umfang der einstweiligen Befreiung von der Entrichtung der Eingabengebühr gewährt wurde.

Schlagworte

Asylrecht, Ausweisung, Behördenzuständigkeit, Behördenzusammensetzung, Asylgerichtshof

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:VFGH:2013:U1914.2012

Zuletzt aktualisiert am

05.02.2014
Quelle: Verfassungsgerichtshof VfGH, http://www.vfgh.gv.at
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