RS Vfgh 2013/11/28 B1415/2011

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Veröffentlicht am 28.11.2013
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Index

66/01 Allgemeines Sozialversicherungsgesetz

Norm

B-VG Art83 Abs2
B-VG Art7 Abs1 / Verwaltungsakt
B-VG Art133 Z4
B-VG Art144 Abs1 / Legitimation
EMRK Art6 Abs1 / Tribunal
EMRK Art6 Abs1 / Verfahrensgarantien
EU-Grundrechte-Charta Art47
StGG Art5
StGG Art6 Abs1 / Erwerbsausübung
AEUV Art34
ASVG §31 Abs3 Z12, §351c, §351d Abs3, §351f, §351i
Verfahrensordnung zur Herausgabe des Erstattungskodex nach §351g ASVG §17, §23, §24, §25

Leitsatz

Keine Verletzung verfassungsgesetzlich gewährleisteter Rechte durch Nichtaufnahme der Arzneispezialität Effentora in den gelben Bereich des Erstattungskodex wegen Vorliegens therapeutischer Alternativen; Beschwerdelegitimation der beschwerdeführenden - am Verfahren vor der belangten Behörde nicht beteiligten - Gesellschaft durch Rechtsnachfolge in die Vertriebsberechtigung an der Arzneispezialität gegeben; keine Bedenken gegen die Zusammensetzung der belangten Behörde im Hinblick auf die Unabhängigkeit und Weisungsfreiheit ihrer Mitglieder; denkmögliche Beurteilung der Vergleichspräparate

Rechtssatz

Berechtigt zum Antrag auf Aufnahme einer Arzneispezialität in den Erstattungskodex ist nach §351c Abs1 ASVG (ebenso nach §17 der Verfahrensordnung zur Herausgabe des Erstattungskodex - VO-EKO) das "vertriebsberechtigte Unternehmen".

Das Verfahren bezieht sich im Wesentlichen auf eine ganz bestimmte im Antrag definierte Arzneispezialität und regelt sohin Rechtsverhältnisse in Bezug auf ein bestimmtes Objekt und nicht in Bezug auf das antragstellende Unternehmen. Die Regelung der Wirkung der Rechtskraft in §351d Abs3 ASVG bestätigt dies, richtet sie sich doch nach dem offensichtlichen Normzweck nicht nur an das am Verfahren beteiligte, sondern vielmehr an das (jeweils) vertriebsberechtigte Unternehmen.

Diese Objektbezogenheit (oder auch dingliche Wirkung) des Verfahrens führt auch ohne eine dies ausdrücklich anordnende gesetzliche Bestimmung dazu, dass nicht nur das im Zeitpunkt der Antragstellung vertriebsberechtigte Unternehmen Partei des Verfahrens ist (und einen negativen Bescheid mit den Wirkungen des §351g Abs3 ASVG gegen sich gelten lassen muss), sondern dass dies auch für jeden Rechtsnachfolger in der - für das jeweilige Verfahren relevanten - Sachherrschaft, hier also im Recht zum Vertrieb ein und desselben Arzneimittels, gilt. Daraus folgt aber, dass die Rechtsnachfolge in die Vertriebsberechtigung auch die Rechtsnachfolge in die Parteirechte nach sich zieht. Die beschwerdeführende Partei ist daher als nunmehr vertriebsberechtigtes Unternehmen beschwerdelegitimiert.

Kein Entzug des gesetzlichen Richters durch etwaige Mitwirkung eines befangenen Organwalters (s etwa VfSlg 16467/2002).

Die Unabhängige Heilmittelkommission (im Folgenden: UHK) ist als Kollegialbehörde mit richterlichem Einschlag iSd Art133 Z4 B-VG und als Tribunal iSd Art6 EMRK zu qualifizieren (VfSlg 17686/2005).

Aus der gesetzlich vorgeschriebenen Mitwirkung sogenannter Interessenvertreter an der Entscheidung allein lässt sich eine - auch nur scheinbare - Abhängigkeit von den Streitparteien nicht ableiten (vgl zB VfSlg 9887/1983, 11912/1988 uva).

Allein aus der dienstrechtlichen Stellung als Abteilungsleiter des Hauptverbandes der österreichischen Sozialversicherungsträger ist keine Befangenheit bei der Mitwirkung an der Rechtsfindung der belangten Behörde abzuleiten (vgl VfSlg 19631/2012). Gegen die konkrete Zusammensetzung der belangten Behörde sind daher in Bezug auf Unabhängigkeit und Weisungsfreiheit ihrer Mitglieder keine Bedenken entstanden.

Keine Verletzung des Rechts auf ein faires Verfahren gemäß Art6 EMRK und Art47 GRC.

Die "Positivliste" des Erstattungskodex vereinfacht zwar das Verfahren für die Verwendung des Arzneimittels im Einzelfall, schränkt aber das Recht von Patienten auf Anwendung der für die ausreichende und zweckmäßige Krankenbehandlung notwendigen Heilmittel nicht ein. Den Versicherten können vielmehr - wenngleich nach Genehmigung durch den chefärztlichen Dienst - alle zugelassenen Medikamente verordnet werden, wenn dies im einzelnen Behandlungsfall den gesetzlich festgelegten Kriterien einer ausreichenden, zweckmäßigen und das Maß des Notwendigen nicht überschreitenden Krankenbehandlung dient (OGH SZ62/103 uva).

Die vom Hauptverband für die Aufnahme von Arzneimitteln in den Erstattungskodex zu beachtenden Kriterien geben einen ausreichend determinierenden Rahmen für eine Abwägungsentscheidung des Hauptverbandes. Die UHK ist berechtigt, die Entscheidung des Hauptverbandes in jeder Hinsicht zu überprüfen, dh sowohl die Verletzung der gesetzlichen Grenzen der, als auch eine dieser Prüfung entgegenstehende unzureichende (dh auch widersprüchliche, unschlüssige oder fehlende) Begründung als zur Aufhebung der Entscheidung des Hauptverbandes führende Rechtswidrigkeit aufzugreifen. Der Umstand, dass die UHK bloß kassatorische Entscheidungsbefugnis hat, reicht angesichts der gesetzlichen Bindungswirkung ihrer Entscheidungen nach dem genannten Maßstab aus.

Keine Eingriffe in die Rechte auf Erwerbsfreiheit und die Unversehrtheit des Eigentums.

Die Entscheidung darüber, ob eine Arzneispezialität unter strengeren oder weniger strengen Voraussetzungen auf Rechnung eines Krankenversicherungsträgers abgegeben werden kann, berührt weder den Schutzbereich des Grundrechts auf Erwerbsfreiheit noch greift eine solche Entscheidung ins Eigentumsrecht ein. Ebensowenig ist die Warenverkehrsfreiheit iSd Art34 AEUV berührt (s VfSlg 17411/2003, VfSlg 17686/2005 mwN).

Keine Willkür.

Ein Vergleich des Vorbringens der beschwerdeführenden Partei bzw ihrer Rechtsvorgängerin im Verwaltungsverfahren mit der Begründung des erstinstanzlichen und des angefochtenen Bescheides zeigt, dass bestimmte Elemente des Sachverhaltes über die Wirkungsweise des zur Aufnahme in den gelben Bereich des Erstattungskodex beantragten Arzneimittels, insbesondere auch im Vergleich zur Wirkungsweise der bereits im Erstattungskodex enthaltenen Vergleichspräparate, von der beschwerdeführenden Partei anders (nämlich zu ihren Gunsten) bewertet werden, als dies von der Behörde erster Instanz (dem Gutachten der Heilmittelevaluierungskommission folgend) und der belangten Behörde getan wurde. Diese unterschiedlichen Bewertungen führen aber nicht dazu, dass die Beurteilungen der Behörden denkunmöglich oder sonst willkürlich wären.

Die belangte Behörde ist zu jedem der entscheidungswesentlichen Punkte (Evaluation gemäß §23 und §24 VO-EKO, sowie die Vergleichbarkeit der Alternativpräparate) auf das Beschwerdevorbringen eingegangen und ist in diesen Punkten der ausführlichen fachlichen Auseinandersetzung des Hauptverbandes mit dem Vorbringen der Rechtsvorgängerin der beschwerdeführenden Partei gefolgt.

Entscheidungstexte

Schlagworte

Sozialversicherung, Arzneimittel, Rechtsnachfolger, Parteistellung, Kollegialbehörde, Tribunal, Behördenzusammensetzung, Befangenheit, EU-Recht, VfGH / Legitimation

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:VFGH:2013:B1415.2011

Zuletzt aktualisiert am

29.12.2014
Quelle: Verfassungsgerichtshof VfGH, http://www.vfgh.gv.at
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