TE AsylGH Erkenntnis 2013/07/09 C15 414875-1/2010

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Veröffentlicht am 09.07.2013
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Spruch

Zl. C15 414.875-1/2010/8E

 

IM NAMEN DER REPUBLIK!

 

Der Asylgerichtshof hat durch den Richter Dr. CHVOSTA als Vorsitzenden und die Richterin Dr. Kirschbaum als Beisitzerin über die Beschwerde des XXXX, StA. Afghanistan, gegen den Bescheid des Bundesasylamtes vom 4.8.2010, Zl. 08 11.057-BAL, nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung am 19.6.2013, zu Recht erkannt:

 

Die Beschwerde wird gemäß § 3 Abs. 1 Asylgesetz 2005 als unbegründet abgewiesen.

Text

E n t s c h e i d u n g s g r ü n d e:

 

I. Der Beschwerdeführer, ein afghanischer Staatsangehöriger der Volksgruppe der Hazara, stellte am 7.11.2008 nach illegaler Einreise den vorliegenden Antrag auf internationalen Schutz.

 

1. In seiner Erstbefragung am Tag der Antragstellung gab der Beschwerdeführer an, vor einem Monat über Nimroz in den Iran gereist und über den Irak und schließlich Italien nach Österreich gelangt zu sein. Als Fluchtgrund nannte er "Gruppen", wie beispielsweise die Taliban, die seinen Heimatort bedroht und den Familien "alles weggenommen" hätten. All die Jahre hätten die Einwohner gearbeitet und geschuftet, und diese Gruppen hätten ihnen alles weggenommen. Auf die Frage nach seinen Rückkehrbefürchtungen erklärte der Beschwerdeführer, dass sein Vater "einen von dieser Gruppe getötet" und er, der Beschwerdeführer, nunmehr Angst habe, bei einer Rückkehr ebenfalls getötet zu werden. Als Ältester in seiner Familie sei er von seinem Vater nach Österreich geschickt worden. Konkrete Hinweise gebe es keine dafür; vielmehr sei es eine Vermutung, dass er bei einer Rückkehr getötet werde, da "diese Gruppen" immer hinter seinem Vater her (gewesen) seien.

 

Im Rahmen seiner Einvernahme vor dem Bundesasylamt am 20.1.2009 betonte der Beschwerdeführer, 17 Jahre alt zu sein; er kündigte an, wegen der Übermittlung seines Personalausweises seinen Onkel in Kabul telefonisch zu kontaktieren.

 

Mit Note vom 19.1.2009 akzeptierte die italienische Asylbehörde im Rahmen des Zuständigkeitsverfahrens nach der Verordnung Nr. 343/2003 des Rates die Überstellung des Beschwerdeführers zur Durchführung seines Asylverfahrens in Italien.

 

2. In seinem psychiatrischen Sachverständigen-Gutachten erachtete ein Facharzt für Psychiatrie und Neurologie im Rahmen einer "Reifungsschätzung" beim Beschwerdeführer das Erreichen der Volljährigkeit "als eher unwahrscheinlich".

 

In seiner Einvernahme am 30.3.2009 legte der Beschwerdeführer im Beisein eines Vertreters des zuständigen Jugendwohlfahrtsträgers als gesetzlicher Vertreter die Kopie einer Geburtsurkunde sowie eine DVD zum Beweis seiner Fluchtgründe vor. Auf entsprechende Nachfrage erklärte der Beschwerdeführer, dass in seiner Heimat seine Eltern, seine drei Schwestern und seine drei (jüngeren) Brüder leben würden, er ihren Aufenthaltsort seit seiner Ausreise jedoch nicht mehr kenne. Auch sein Onkel, mit dem er in Kontakt stehe, habe ihm darüber keine Auskunft geben können. Als Grund für seine Ausreise nannte er seine Verfolgung durch "eine Gruppe von Nomaden", die sowohl hinter ihm als auch seiner Familie her sei. Vor seiner Ausreise habe in seiner Heimatregion ein Krieg zwischen den Einwohnern und paschtunischen Nomaden stattgefunden, an welchem auch sein Vater beteiligt gewesen sei. In der Schlacht, die von den Nomaden für sich entschieden worden sei, seien viele junge und alte Menschen gestorben. Sein Vater habe ihn als ältesten Sohn der Familie "als ersten außer Landes schaffen" wollen, damit er in Sicherheit sei, nachdem - wie sein Vater gesagt habe - in diesem Krieg schon viele Menschen ums Leben gekommen seien. Er selbst sei persönlich nicht angegriffen worden, allerdings habe "man" seinen Vater und die gesamte Familie töten wollen, damit "unsere gesamte Linie" ausgelöscht werde. Sein Vater und sein mittlerweile verstorbener Cousin hätten sich in der Verteidigung des Gebietes "stark hervorgetan".

 

Das gerichtsmedizinische Gutachten des XXXX enthielt die Einschätzung, dass der Beschwerdeführer im Untersuchungszeitpunkt ein Mindestalter von 18,7 Jahren oder älter aufweisen müsste.

 

Im Zuge seiner Einvernahme am 30.7.2010 gab der Beschwerdeführer an, aus XXXX in der Provinz XXXX zu stammen. Neuerlich bezog er sich auf einen "Krieg mit den Kuchis", der im Sommer seines Ausreisejahres ausgebrochen sei. Die Kuchis seien seit der Machtergreifung Karzais sehr aggressiv geworden und hätten den Heimatort des Beschwerdeführers angegriffen und erobert. Danach hätten sie nachgeforscht, wer gegen sie gekämpft habe. Wenn "irgendjemand" seiner Umgebung sage, dass er, der Beschwerdeführer, der Sohn seines Vaters sei, sei er in seiner Heimat in Gefahr. Auf die Frage, weshalb er nicht bei seinem Onkel in Kabul leben könne, erwiderte der Beschwerdeführer, dass sein Onkel ihn nicht "wie einen Sohn" akzeptieren würde, was jedoch notwendig wäre, damit er bei ihm leben könne. Am Ende der Einvernahme wurde gemeinsam mit dem Beschwerdeführer die von ihm bereits in der vorigen Einvernahme vorgelegte DVD begutachtet (dem Einvernahmeprotokoll zufolge handelte es sich um mehrere Nachrichtensendungen eines von Angehörigen der Hazara betriebenen Fernsehsenders mit immer wieder kehrenden Sequenzen über den Konflikt mit den Kuchis ohne konkrete Bezugnahme auf den Beschwerdeführer oder Angehörige seiner Familie).

 

3. Mit Bescheid vom 4.8.2010 wies das Bundesasylamt den Antrag hinsichtlich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten gemäß § 3 Abs. 1 Asylgesetz 2005, BGBl. I 100 (im Folgenden: AsylG 2005), ab (Spruchpunkt I.), erkannte dem Beschwerdeführer jedoch gemäß § 8 Abs. 1 leg. cit. den Status des subsidiär Schutzberechtigten zu und erteilte ihm eine befristete Aufenthaltsberechtigung gemäß § 8 Abs. 4 AsylG 2005 (Spruchpunkte II. und III.). In seiner Begründung stellte das Bundesasylamt die Identität und Nationalität sowie Volksgruppenzugehörigkeit des Beschwerdeführers fest. Dass er durch paschtunische Nomaden einer Verfolgung oder konkreten Verfolgungshandlungen ausgesetzt gewesen sei, habe - so das Bundesasylamt - nicht festgestellt werden können. Nach Länderfeststellungen zur allgemeinen Situation in Afghanistan führte das Bundesasylamt beweiswürdigend aus, dass die Angaben des Beschwerdeführers äußerst vage, unkonkret und keinesfalls nachvollziehbar und schlüssig gewesen seien. Eine "persönliche Komponente" sei in den Schilderungen nicht erkennbar gewesen. Entgegen seiner Ankündigung habe die DVD auch keine Aufnahmen von der Leiche des Cousins des Beschwerdeführers enthalten. Bei den Konflikten zwischen Kuchis und den vornehmlich der Ethnie der Hazara angehörenden Einwohnern handle es sich nicht um "persönliche Kämpfe", sondern um Auseinandersetzungen um Gebietsrechte, wobei auch die große Zahl der Kämpfer, die einander gegenübergestanden hätten, die Annahme einer persönlichen Rache gegen einzelne Kämpfer und deren Familie nicht annähernd schlüssig erscheinen lasse.

 

Rechtlich folgerte das Bundesasylamt daraus, dass eine asylrelevante Verfolgung nicht glaubhaft gemacht habe werden können. Seine Entscheidung in Spruchpunkt II. begründete das Bundesasylamt mit der schwierigen Sicherheits- und Versorgungslage in Afghanistan.

 

4. Gegen Spruchpunkt I. dieses Bescheides richtete sich die vorliegende, rechtzeitig eingebrachte und zulässige Beschwerde, in welcher die Rechtswidrigkeit des Bescheidinhaltes und die Verletzung von Verfahrensvorschriften geltend gemacht wurden. Der Beschwerdeführer betonte, aus Gründen der Zugehörigkeit zu einer sozialen Gruppe verfolgt zu werden, und verwies auf seine detaillierten Schilderungen in den Einvernahmen.

 

5. Am 19.6.2013 führte der Asylgerichtshof im Beisein einer Dolmetscherin für die Sprache Dari eine öffentliche mündliche Beschwerdeverhandlung durch, an welcher der Beschwerdeführer sowie der länderkundige Sachverständige XXXX teilnahmen. Das Bundesasylamt war nach vorangegangener schriftlicher Entschuldigung nicht erschienen. Die Verhandlung war erforderlich, da die Ermittlungen des Sachverhaltes durch die belangten Behörde insofern mangelhaft war, als sie auf die in der Erstbefragung behauptete Verfolgung wegen der Tötung eines Menschen durch den Vater des Beschwerdeführers in den späteren Einvernahmen nicht mehr Bezug genommen hatte und der entscheidungswesentliche Sachverhalt somit noch nicht fest stand.

 

Im Rahmen der Verhandlung wurden die Fluchtgründe eingehend erörtert. Im Anschluss an die ausführliche Befragung des Beschwerdeführer erstattete der länderkundige Sachverständige ein Gutachten, in dessen Rahmen er die Auffassung vertrat, dass der Beschwerdeführer unter Berücksichtigung seiner eigenen Angaben letztlich keiner akuten Gefährdung wegen Blutrache in seiner Heimat ausgesetzt sein könne, wenn man bedenke, dass sein Vater ihn persönlich zu einem Bazar, der ein öffentlicher Platz sei, gebracht und von dort aus mithilfe eines Schleppers ins Ausland geschickt habe. Im Falle einer tatsächlichen Gefahr der behaupteten Art hätte - so der Sachverständige weiter - der Vater überdies alle seine Söhne weggeschickt. Im Falle einer Blutrache sei nämlich die gesamte Familie gefährdet. Im Übrigen sei zweifelhaft, ob sich der Beschwerdeführer im angegebenen Zeitpunkt seiner Ausreise tatsächlich in seinem Heimatdorf aufgehalten habe, da er die Fragen nach dem Namen des Dorfvorstehers und nach der Entfernung der verschiedenen Dörfern zögernd bzw. teilweise mangelhaft beantwortet habe.

 

Der Beschwerdeführer bestritt die Richtigkeit des Gutachtens und verzichtete auf die Abgabe einer schriftlichen Stellungnahme zu den Länderberichten.

 

6. Mit Verfahrensanordnung vom 20.6.2013 wurde dem Beschwerdeführer ein Rechtsberater nach der Verhandlung beigestellt. Eine schriftliche Stellungnahme ist in den darauffolgenden beiden Wochen und auch danach beim Asylgerichtshof nicht eingelangt.

 

7. Beweis wurde erhoben, indem der Beschwerdeführer einvernommen, der Verwaltungsakt sowie die oben erwähnten Beweismittel eingesehen wurden.

 

II. Der Asylgerichtshof hat erwogen:

 

1. Folgender Sachverhalt steht fest:

 

1.1 Zur Situation in Afghanistan:

 

1.1.1 Allgemeines:

 

Die afghanische Geschichte der letzten Jahrzehnte ist geprägt von der Besatzung durch die UdSSR von 1979 bis 1989, vom Bürgerkrieg zwischen den Mudjaheddin-Gruppen von 1992 bis 1996 und von der Gewaltherrschaft der Taliban von 1996 bis 2001. Hinzu kommt, dass Blutrache und Fehden zwischen Familien, Clans und Ethnien, insbesondere in der paschtunischen Stammesgesellschaft im Süden und Osten des Landes, seit jeher gängige Formen der Auseinandersetzung darstellen. Eine Kultur des politischen Diskurses und der friedlichen Beilegung von Konflikten ist daher auf politischer wie auch auf persönlicher Ebene nur schwach ausgeprägt (Bericht des Deutschen Auswärtigen Amtes vom 10.1.2012).

 

Nach dem Sturz der Taliban infolge der im Oktober 2001 gestarteten Intervention einer U.S.-geführten Koalition, die die afghanische Nordallianz unterstützte, wurden auf der Grundlage des im Dezember 2001 abgeschlossenen Petersberger Abkommens Schritte zum Wiederaufbau staatlicher Strukturen unternommen, wie die Einberufung einer Sonderversammlung von "Räten" ("Emergency Loya Jirga"), die Einsetzung einer Übergangsregierung, die Durchführung von Wahlen und die Verabschiedung einer Verfassung (Bericht des Deutschen Auswärtigen Amtes vom 10.1.2012). Die Ergebnisse der Präsidentschaftswahlen von 2004 sowie der Parlamentswahlen von 2005 fanden allgemein breite Akzeptanz in der afghanischen Bevölkerung und der internationalen Gemeinschaft - trotz Vorwürfe hinsichtlich Einschüchterungsversuche, Parteilichkeit innerhalb der Wahlkommission und anderer Unregelmäßigkeiten. Die Präsidentschaftswahlen 2009 und die Parlamentswahlen von 2010 waren indes von schwerem Wahlbetrug und anderen Problemen überschattet. Staatliche Institutionen versagten, den Wahlprozess effektiv zu steuern und Transparenz zu gewährleisten (Bericht von Freedom House vom 1.5.2011).

 

Am Nato-Gipfeltreffen im Mai 2012 in Chicago wurden der schrittweise Abzug der Truppen bis 2014 sowie die Grundzüge des Nachfolgeeinsatzes diskutiert. An der Geberkonferenz in Tokio vom 8.7.2012 verpflichtete sich die internationale Staatengemeinschaft, für den zivilen Wiederaufbau in den nächsten vier Jahren 16 Milliarden US-Dollar bereitzustellen. Im Gegenzug dazu werden von der afghanischen Regierung deutliche Fortschritte im Bereich der guten Regierungsführung und im Kampf gegen die Korruption sowie transparente Wahlen erwartet. Neben den Abzugsplänen versuchen vor allem die USA, die Friedensverhandlungen mit den Taliban voranzutreiben. Im Januar 2012 erklärten sich die Taliban bereit, mit der afghanischen Regierung und den USA Vorgespräche zu Friedensverhandlungen aufzunehmen, die sie nach Gesprächen im Februar 2012 jedoch wieder im März 2012 abbrachen (Bericht der Schweizerischen Flüchtlingshilfe vom 3.9.2012).

 

1.1.2 Sicherheitslage:

 

Nachdem die Streitkräfte der USA und Afghanistans von 2001 bis 2006 nur in geringerem Ausmaß mit Gewalt durch aufständische Gruppierungen konfrontiert waren, kam es in weiterer Folge insbesondere in den überwiegend paschtunisch bevölkerten östlichen und südlichen Landesteilen zu einem Anstieg der Gewalt (CRS Report des Congressional Research Service vom 15.4.2011). Im Jahr 2010 sowie im ersten Halbjahr 2011 verschlechterte sich die Sicherheitslage in Afghanistan erneut dramatisch (Bericht der Schweizerischen Flüchtlingshilfe zur Sicherheitslage vom 23.8.2011), wobei sich mit der Intensivierung des Konfliktes in den traditionellen Kampfgebieten im Süden und Südosten des Landes die Kämpfe gleichzeitig auch auf westliche und nördliche Landesteile erstreckten. nicht-staatliche bewaffnete Gruppen und regierungsfeindliche Elemente setzten unkonventionelle Spreng- und Brandvorrichtungen ein und verübten gezielte Tötungen prominenter Zivilisten und Angriffe auf geschützte Einrichtungen, wie Krankenhäuser (Midyear Report der United Nations Assistance Mission in Afghanistan [UNAMA] vom Juli 2011). Die Gewalt in Afghanistan erreichte im Jahr 2011 das höchste Niveau seit dem Fall des Taliban-Regimes im 2001 - mit zahlreichen Todesopfern bei Koalitionstruppen und Zivilbevölkerung (The Guardian vom 14.9.2011).

 

Dass die Angriffe regierungsfeindlicher Gruppierungen im ersten Halbjahr 2012 landesweit im Vergleich zum ersten Halbjahr des Vorjahres um 38% sanken, wurde als taktische Reaktion regierungsfeindlicher Kräfte auf den Rückzug der internationalen Truppen und keineswegs als Verlust an operationeller Fähigkeit interpretiert (ANSO Quarterly Report vom Juni 2012). Mit Beginn der Frühjahrsoffensive Al Faruk 2012 intensivierten die Taliban ihre militärischen Operationen auf den Sommer hin wieder (Bericht der Schweizerischen Flüchtlingshilfe vom 3.9.2012). Im ersten Quartal 2013 stieg die Zahl der Angriffe der regierungsfeindlichen Opposition wieder um 47% gegenüber dem Vergleichszeitraum des Vorjahres. Die Entwicklung im Jahr 2013 lässt eine Rückkehr zum Niveau des Jahres 2011 wahrscheinlich erscheinen; Beobachter gehen davon aus, dass dieser Trend der gegenwärtigen Re-Eskalation anhalten wird und das Jahr 2013 - nach dem Jahr 2011 - das zweitgewalttätigste Jahr seit 2002 werden könnte. Konstant bleibt jedenfalls eine bewusste Verlagerung der Angriffsziele von internationalen Truppen zu afghanischen Zielen (ANSO Quarterly Report vom April 2013).

 

Konkret schätzt UNHCR die Situation in Helmand, Kandahar, Kunar und in Teilen der Provinzen Ghazni und Khost aufgrund der hohen Zahl von zivilen Todesopfern, Häufigkeit sicherheitsrelevanter Zwischenfälle und Anzahl von (auf Grund des bewaffneten Konflikts) vertriebenen Personen als eine Situation allgemeiner Gewalt ein (Zusammenfassung der UNHCR-Richtlinien vom 24.3.2011).

 

Exkurs: Sicherheitslage im Raum Kabul

 

Seit August 2008 liegt die Sicherheitsverantwortung für den städtischen Bereich der Provinz Kabul nicht länger in den Händen der Internationalen Sicherheitsunterstützungstruppe ISAF, sondern der afghanischen Armee und Polizei. Dem landesweiten Trend folgend verübte die Aufstandsbewegung seit Januar 2011 auch in der Hauptstadt Kabul mehrere spektakuläre Selbstmordanschläge gegen nicht-militärische Ziele (Anschlag auf ein Einkaufszentrum und auf einen besonders von Ausländern frequentierten Supermarkt, Angriff auf das ANA-Krankenhaus, Anschlag auf das Interncontinental Hotel, Anschläge auf das Botschaftsviertel, Ermordung Ex-Präsident Rabbani). Damit endete in Kabul eine praktisch anschlagsfreie Zeit von fast 18 Monaten (Bericht des Deutschen Auswärtigen Amtes vom 10.1.2012).

 

Im Zentrum des Landes war zwischen Juli und Dezember 2011 ein rasanter Anstieg ziviler Opfer (plus 80%) zu verzeichnen. Insbesondere in Kabul führten sechs Selbstmordattentate zu zahlreichen Opfern in der Zivilbevölkerung. Angehörige regierungsfeindlicher Gruppierungen waren auch weiterhin in der Lage, selbst in den gut gesicherten Teilen der Hauptstadt äußerst kühne Operationen durchzuführen. So führten die Taliban im April 2012 zeitgleich koordinierte Anschläge an sieben Orten in der Hauptstadt, darunter das gut gesicherte Diplomaten-Viertel, Regierungsgebäude und Militärstützpunkte, durch (Bericht der Schweizerischen Flüchtlingshilfe vom 3.9.2012). Ein Aufständischer drang in das afghanische Parlament ein und verschanzte sich; Kabul wurde von Explosionen erschüttert, Schusswechsel versetzten die Bewohner in Angst und Schrecken. Nach 18 Stunden erklärte der Kabuler Polizeichef die Operation gegen die Aufständischen für abgeschlossen: Es seien 19 Angreifer und zwei afghanische Polizisten getötet worden, 35 von den Taliban genommene Geiseln seien befreit worden (Apa-Meldungen vom 15.4.2012 und 16.4.2012). Das Ausmaß der Kriminalität in Kabul ist besorgniserregend (Bericht der Schweizerischen Flüchtlingshilfe vom 3.9.2012).

 

1.1.3 Menschenrechte:

 

Zivilisten, die der Zusammenarbeit oder der sonstigen Unterstützung von bewaffneten regierungsfeindlichen Gruppen verdächtigt werden, können willkürlichen Festnahmen (inklusive Inhaftierung ohne Anklage) sowie Misshandlungen durch internationale Truppen oder durch afghanische Behörden ausgesetzt sein. UNHCR ist der Auffassung, dass Zivilisten, die der Unterstützung bewaffneter Gruppen verdächtigt werden, einer Verfolgungsgefahr auf Grund der (ihnen unterstellten) politischen Überzeugung ausgesetzt sein können, - abhängig von ihrem Profil und den Umständen des Falles. Personen, welche die Regierung und die internationale Gemeinschaft sowie deren Streitkräfte tatsächlich oder vermeintlich unterstützen, einschließlich Regierungsfunktionäre, regierungstreue Stammesführer und religiöse Führer, Richter, Lehrer und Mitarbeiter von Wiederaufbau-/Entwicklungshilfsprojekten, können nach Ansicht des UNHCR ebenfalls - abhängig von den individuellen Umständen des Einzelfalls - einer Verfolgungsgefahr auf Grund der (ihnen unterstellten) politischen Überzeugung ausgesetzt sein, insbesondere in Gebieten, in denen bewaffnete regierungsfeindliche Gruppen tätig sind (Zusammenfassung der UNHCR-Richtlinien vom 24.3.2011).

 

Was Repressionen Dritter anbelangt, geht die größte Bedrohung der Menschenrechte von lokalen Machthabern und Kommandeuren aus. Es handelt sich hierbei meist um Anführer von Milizen, die nicht mit staatlichen Befugnissen, aber mit faktischer Macht ausgestattet sind. Die Zentralregierung hat auf viele dieser Urheber von Menschenrechtsverletzungen praktisch keinen Einfluss und kann sie weder kontrollieren noch ihre Taten untersuchen oder verurteilen. Wegen des desolaten Zustands des Verwaltungs- und Rechtswesens bleiben Menschenrechtsverletzungen daher häufig ohne Sanktionen. Immer wieder kommt es zu Exekutionen durch nicht-staatliche Akteure vor allem auch der Insurgenz, die sich auf traditionelles Recht berufen und die Vollstreckung der Todesstrafe mit dem Islam legitimieren. Die afghanische Regierung verurteilt diese Exekutionen öffentlich.

 

Die Ausweichmöglichkeiten für diskriminierte, bedrohte oder verfolgte Personen hängen maßgeblich vom Grad ihrer sozialen Verwurzelung, ihrer Ethnie und ihrer finanziellen Lage ab (Bericht des Deutschen Auswärtigen Amtes vom 4.6.2013).

 

1.1.4 Religionsfreiheit:

 

Die Religionsfreiheit ist in der afghanischen Verfassung verankert. Dies gilt allerdings ausdrücklich nur für Anhänger anderer Religionen als dem Islam. Laut Verfassung ist der Islam die Staatsreligion Afghanistans. Die von Afghanistan ratifizierten internationalen Verträge und Konventionen wie auch die nationalen Gesetze sind allesamt im Lichte des generellen Islamvorbehalts (Art. 3 der Verfassung) zu verstehen. Die Glaubensfreiheit, die auch die freie Religionsauswahl beinhaltet, gilt in Afghanistan daher für Muslime nicht. Nach offiziellen Schätzungen sind 84% der Bevölkerung sunnitische Muslime und 15% schiitische Muslime. Andere in Afghanistan vertretene Glaubensgemeinschaften wie z.B. Sikhs, Hindus und Christen machen nicht mehr als 1% der Bevölkerung aus (Bericht des Deutschen Auswärtigen Amtes vom 4.6.2013). In der Praxis hat sich die Religionsfreiheit vor allem für christliche Gruppen und Einzelpersonen innerhalb der letzten Monate verschlechtert (Religious Freedom Report des U.S. Department of State vom 17.11.2010).

 

1.1.5 Ethnische Minderheiten:

 

Afghanistan ist ein Vielvölkerstaat, über den es aufgrund der seit Jahrzehnten schwierigen Sicherheitslage kaum gesicherte statistische Daten gibt. Die Zahlen für Angehörige einer Volksgruppe schwanken teilweise beträchtlich (ÖIF-Länderinfo vom Februar 2010). Der Anteil der Volksgruppen im Vielvölkerstaat wird in etwa wie folgt geschätzt: Paschtunen ca. 38%, Tadschiken ca. 25%, Hazara ca. 19%, Usbeken ca. 6% sowie zahlreiche kleinere ethnische Gruppen (Aimak, Turkmenen, Baluchi, Nuristani u.a.). Die afghanische Verfassung schützt sämtliche ethnische Minderheiten. Neben den offiziellen Landessprachen Dari und Paschtu wird in der Verfassung sechs weiteren Sprachen dort ein offizieller Status eingeräumt, wo die Mehrheit der Bevölkerung (auch) eine dieser anderen Sprache spricht. Diese weiteren in der Verfassung genannten Sprachen sind Usbekisch, Turkmenisch, Belutschisch, Pashai, Nuristani und Pamiri.

 

Für die während der Taliban-Herrschaft besonders verfolgten (mehrheitlich schiitischen) Hazara hat sich die Lage deutlich verbessert. Sie sind in der öffentlichen Verwaltung zwar nach wie vor unterrepräsentiert, aber dies scheint eher eine Folge der früheren Marginalisierung zu sein als eine gezielte Benachteiligung neueren Datums. Gesellschaftliche Spannungen bestehen fort und leben in lokal unterschiedlicher Intensität gelegentlich wieder auf (Bericht des Deutschen Auswärtigen Amtes vom 4.6.2013). Die Hazara, die großteils im zentralafghanisch gelegenen und über mehrere Provinzen verteilten Hazarajat leben, sind in der Regierung vertreten und können auf die Politik Einfluss nehmen (ÖIF-Länderinfo vom Februar 2010). In der Provinz Ghazni errangen Vertreter der Ethnie der Hazara sämtliche Sitze, die im Unterhaus für diese Provinz reserviert waren, was jedoch u.a. auch auf die niedrige Wahlbeteiligung in den paschtunisch besiedelten Distrikten aufgrund der prekären Sicherheitslage zurückzuführen war (D-A-CH-Bericht zur Sicherheitslage vom März 2011).

 

In einer besonderen Lage befinden sich die ca. eine Million Kuchi-Nomaden, die unter ungeklärten Boden- und Wasserrechten in besonderem Maße leiden. De facto kommt es immer wieder zu einer Diskriminierung dieser Gruppe, da sie aufgrund ihres nomadischen Lebensstils als Außenseiter gelten und so die Gefahr laufen, Opfer einer diskriminierenden Verwaltungspraxis oder strafrechtlicher Sanktionierung zu werden. Immer wieder werden Nomaden rasch einer Straftat bezichtigt und verhaftet, wenngleich sie oft auch genauso schnell wieder auf freiem Fuß sind (Bericht des Deutschen Auswärtigen Amtes vom 4.6.2013). Die alljährlich in den Sommermonaten wiederkehrende Migration von (mehrheitlich paschtunischen) Kuchis in fruchtbare Weidegebiete der sesshaften Hazara in der Provinz Wardak führte 2008 und 2010 zu bewaffneten Auseinandersetzungen, die mitunter auch mit schweren Waffen ausgetragen wurden (Bericht des Deutschen Auswärtigen Amtes vom 10.1.2012). Am 18.6.2011 attackierten Hunderte bewaffnete Kuchis den Bezirk Nahur in der Provinz Ghazni; 26 Dörfer wurden niedergebrannt und fünf Menschen getötet (Anfragebeantwortung der Staatendokumentation vom 2.12.2011).

 

1.1.6 Justiz und (Sicherheits-)Verwaltung:

 

Das Gesetz sieht eine unabhängige Justiz vor, aber in der Praxis war die Justiz häufig mit zuwenig Geld und Personal ausgestattet und ein Spielball von politischem Einfluss und Korruption. Bestechung, Korruption und Druck von öffentlichen Amtsträgern, Stammesführern, Familien der beschuldigten Personen und Personen, die mit dem Aufstand in Verbindung stehen, bedrohten die juridische Unabhängigkeit. Andere Gerichte judizieren uneinheitlich, da sie das kodifizierte Recht, die Scharia (Islamisches Recht) und das Gewohnheitsrecht mischen (Country Report des U.S. Department of State vom 24.5.2012).

 

Funktionierende Gerichte, Polizeikräfte und Gefängnisse sind landesweit rar (Bericht der Schweizerischen Flüchtlingshilfe vom 3.9.2012). Verwaltung und Justiz funktionieren nur sehr eingeschränkt. Neben der fehlenden Einheitlichkeit in der Anwendung der verschiedenen Rechtsquellen (kodifiziertes Recht, Scharia und Gewohnheitsrecht), werden auch rechtsstaatliche Verfahrensprinzipien nicht regelmäßig eingehalten. Trotz bestehender Aus- und Fortbildungsangebote für Richter und Staatsanwälte wird die Schaffung eines funktionierenden Verwaltungs- und Gerichtssystems noch Jahre dauern (Bericht des Deutschen Auswärtigen Amtes vom 4.6.2013). Die Lösung von Blutrache-Konflikten durch die Justiz wird meist von den betroffenen Personen nicht anerkannt (Bericht der Schweizerischen Flüchtlingshilfe vom 3.9.2012).

 

1.1.7 Sozioökonomische Situation und medizinische Versorgungslage:

 

Die Grundversorgung ist für große Teile der Bevölkerung eine tägliche Herausforderung. Für Rückkehrer gilt dies naturgemäß verstärkt. Eine hohe Arbeitslosigkeit wird verstärkt durch vielfältige Naturkatastrophen. Das World Food Programme reagiert das ganze Jahr hindurch in verschiedenen Landesteilen auf Krisen bzw. Notsituationen wie Dürre, Überschwemmungen oder extremen Kälteeinbruch. Auch der Norden des Landes ist extremen Natureinflüssen wie Trockenheiten, Überschwemmungen und Erdverschiebungen ausgesetzt. Die aus Konflikt und chronischer Unterentwicklung resultierenden Folgeerscheinungen im Süden und Osten haben zur Folge, dass ca. 1 Mio. Kinder (oder 29,5% aller Kinder) als akut unterernährt gelten.

 

Die medizinische Infrastruktur in Afghanistan, welche aufgrund des jahrelangen Konflikts beschädigt oder zerstört wurde, wird allmählich durch die afghanische Regierung mit Hilfe der internationalen Gemeinschaft neu aufgebaut. Das Gesundheitswesen zählt noch immer zu einem der schlechtesten auf der Welt. Die Bevölkerungsmehrheit hat keinen Zugang zu sauberem Trinkwasser und sanitären Einrichtungen. Krankheiten, Unterernährung und Armut sind weit verbreitet, und schätzungsweise 6,5 Millionen Menschen bleiben auf Nahrungsmittelhilfe angewiesen. Die Weltbank, die U. S. Agency for International Development und die EU unterstützen das afghanische Gesundheitsministerium bei der Etablierung einer medizinischen Grundversorgung für die Bevölkerung. Die Hilfe umfasst Dienstleistungen für Mütter und neugeborene Kindern, wie Impfungen, Ernährung, Schutz vor übertragbaren Krankheiten, Erhaltung psychischer Gesundheit, Versorgung mit lebenswichtigen Medikamenten. Das Gesundheitsministerium hat ein Projekt gegründet, um die hohe Säuglings- und Müttersterblichkeit zu bekämpfen (Country Report des U.K. Home Office vom 11.10.2011).

 

1.1.8 Rückkehrfragen:

 

Dass die Stellung eines Asylantrags etwa in Deutschland negative Konsequenzen durch staatliche Akteure bei freiwilliger Rückkehr oder Abschiebung des Antragstellers nach Afghanistan zur Folge hatte, ist bislang nicht bekannt geworden (Bericht des Deutschen Auswärtigen Amtes vom 10.1.2012).

 

1.2 Zur Person des Beschwerdeführers und zu seinen Fluchtgründen:

 

Der Beschwerdeführer ist afghanischer Staatsangehöriger der Volksgruppe der Hazara und trägt den im Spruch genannten Namen. Es kann nicht festgestellt werden, dass der Vater des Beschwerdeführers an kriegerischen Auseinandersetzungen zwischen nomadisierenden Kuchis und den Einwohnern des Hazarajat teilgenommen und im Zuge derer etwa jemanden getötet hatte. Dass der Beschwerdeführer im Falle seiner Rückkehr nach Afghanistan wegen seines Vaters oder aus sonstigen Gründen einer wie immer gearteten Verfolgung ausgesetzt sein könnte, kann ebenfalls nicht festgestellt werden.

 

2. Diese Feststellungen gründen auf folgender Beweiswürdigung:

 

2.1 Die Länderfeststellungen beruhen auf den jeweils angeführten Länderberichten angesehener staatlicher und nichtstaatlicher Einrichtungen. Angesichts der Seriosität der Quellen und der Plausibilität ihrer Aussagen besteht für den erkennenden Senat kein Grund, an der Richtigkeit der Angaben zu zweifeln, sodass sie den Feststellungen zur Situation in Afghanistan zugrunde gelegt werden konnten. Der Beschwerdeführer ist den Länderberichten inhaltlich nicht entgegen getreten.

 

2.2 Die Feststellungen zur Nationalität, ethnischen Zugehörigkeit und Identität des Beschwerdeführers stützen sich auf die Feststellungen der belangten Behörde, die aus der Sicht des erkennenden Senates unbedenklich erschienen.

 

2.3 Das Fluchtvorbringen konnte der erkennende Senat mangels Glaubwürdigkeit der Fluchtgründe den Feststellungen nicht zugrunde legen:

 

Eingangs hält der Asylgerichtshof fest, dass er keineswegs die Konflikte zwischen Kuchis und den Einwohnern im Hazarajat (i.e. die über mehrere Provinzen reichende Region, in der vor allem Angehörige der Ethnie der Hazara leben) in Zweifel zieht (siehe auch die Länderfeststellungen unter 1.1.5). Er geht allerdings davon aus, dass der Beschwerdeführer seine Fluchtgründe nicht in der von ihm dargelegten Form erlebt hat und die vorgebrachte Bedrohung nicht den Tatsachen entspricht.

 

2.3.1 Unter Bedachtnahme auf die Angaben des Beschwerdeführers im Verlauf des gesamten Verfahrens schließt sich der erkennende Senat der Ansicht der belangten Behörde an, wenn sie die Fluchtschilderungen als vage und allgemein qualifizierte. Insbesondere in der Beschwerdeverhandlung vermochte der zu diesem Zeitpunkt jedenfalls volljährige Beschwerdeführer keine lebensnahen Schilderungen über die Vorfälle im Rahmen des Konflikts mit den Kuchis in der Provinz Wardak, die er erlebt haben will, zu machen (siehe S. 4 der Verhandlungsniederschrift). Trotz entsprechender Nachfrage blieben sämtliche Vorgänge im Zusammenhang mit den militärischen Auseinandersetzungen ohne persönliche Anmerkungen oder individuelle Elemente (siehe S. 5 der Verhandlungsniederschrift:

"VR: Was ist da geschehen, wie Ihr Vater zur Waffe gegriffen hat? - BF: Sie haben gegen die Kuchis gekämpft. - VR: Haben Sie das selbst gesehen, wo waren Sie da? - BF: Zu diesem Zeitpunkt war ich zuhause.

... VR: Was ist mit Ihnen geschehen? - BF: In diesem Krieg wurden

auf beiden Seiten Personen getötet. ... VR: Wie haben Sie das dann

erlebt? - BF: Ich war in unserem Keller, mein Vater hat einen solchen Keller gebaut. Ich habe ein paar Monate dort verbracht.").

 

2.3.2 Darüber hinaus traten in den Angaben des Beschwerdeführers Widersprüche zu Tage, die nicht mit Nervosität oder Missverständnissen in der Einvernahme erklärt, sondern lediglich darauf zurückgeführt werden können, dass der Beschwerdeführer den von ihm vorgebrachten Sachverhalt nicht erlebt hatte: So behauptete er in seiner Erstbefragung, dass sein Vater "einen von dieser Gruppe getötet" habe (AS 23), wogegen er auf Vorhalt in der Beschwerdeverhandlung zunächst überhaupt bestritt, eine derartige Aussage gemacht zu haben, um in der Folge darauf zu verweisen, dass Krieg geherrscht habe und man daher nicht feststellen haben können, "wer wen getötet" habe (siehe S. 7 der Verhandlungsniederschrift). Die Annahme, dass es sich - wie der Beschwerdeführer behauptete - um ein Missverständnis bei der Übersetzung in der Erstbefragung gehandelt haben könnte, scheidet aus, da der Beschwerdeführer die Richtigkeit des Protokolls nach erfolgter Rückübersetzung mit seiner Unterfertigung der Niederschrift bestätigte (AS 25). Überdies verwickelte sich der Beschwerdeführer in weitere Widersprüche, wenn er etwa zu Beginn der Beschwerdeverhandlung auf entsprechende Nachfrage erklärte, dass bei der Verteidigung seines Heimatortes "kein bestimmter Kommandant", sondern Ex-Jihaddis herumkommandiert hätten (S. 4 der Verhandlungsniederschrift), wogegen er gegen Ende der Verhandlung überraschend den "Gruppenleiter" der rund 100 Kämpfer namentlich hervorhob. Soweit der Beschwerdeführer dies (auf Vorhalt) als Missverständnis abtat, ist zu bemerken, dass er auf Ersuchen, seine Angaben zu vervollständigen und die Namen der übrigen Ex-Jihaddis anzugeben, keine weiteren Namen nennen konnte (S. 8 der Verhandlungsniederschrift).

 

2.3.3 Davon abgesehen erscheint aber auch das Fluchtvorbringen als solches unplausibel und unschlüssig: So ist - wie auch das Sachverständigen-Gutachten erkennen lässt - nicht nachvollziehbar -, dass der Beschwerdeführer als "ältester Sohn" wegen seines Vaters Verfolgung ausgesetzt sein soll, während die übrigen Brüder des Beschwerdeführers, von denen einer mittlerweile bereits auch volljährig sein müsste, in der Heimat ungefährdet zurück bleiben konnten. Wäre tatsächlich der Beschwerdeführer - wie von ihm behauptet - gefährdet, träfe dies auch für seine übrigen Brüder zu. Dies gilt ebenfalls für den in Kabul lebenden Onkel väterlicherseits des Beschwerdeführers, der sich dort offensichtlich unbehelligt seit Jahren aufhält. Auch auf entsprechende Nachfrage vermochte der Beschwerdeführer die Frage, weshalb nur er und nicht auch seine Brüder das Land verlassen haben, nicht überzeugend zu beantworten (S. 6 der Verhandlungsniederschrift). Der erkennende Senat geht davon aus, dass - wenn die Fluchtgründe den Tatsachen entsprechen würden - die gesamte Familie bzw. zumindest sämtliche Söhne das Land verlassen hätten. Obiter wird dazu angemerkt, dass es durchaus afghanischen Traditionen entspricht, dass gerade der älteste Sohn seinem Vater bei einem Konflikt beisteht.

 

Auch die Länderfeststellungen bieten keine Grundlage für das Verfolgungsszenario des Beschwerdeführers, da keine Anhaltspunkte gegeben sind, denen zufolge im Konflikt zwischen den Kuchis und der im Hazarajat ansässigen Bevölkerung tatsächlich über die Auseinandersetzung wegen der Weiderechte hinausgehend auch noch die Familienangehörigen von Kämpfern durch die Kuchis verfolgt werden würden. Die Frage in der Beschwerdeverhandlung, ob er Kenntnis von der Tötung von anderen Verwandten der am Konflikt teilnehmenden Personen habe, vermochte der Beschwerdeführer nicht überzeugend zu beantworten (siehe S. 6 der Verhandlungsniederschrift: "VR: Woraus schließen Sie dann, dass nicht nur diejenigen, die gekämpft haben, sondern auch deren Verwandte umgebracht werden? - BF: Das ist eine

interessante Frage. ... Vielleicht wissen Sie es, dass die

Schuldigen in Afghanistan auf jeden Fall getötet werden, aber es werden auch täglich Unschuldige getötet, deshalb.")

 

Schließlich verweist der erkennende Senat auch auf den Inhalt des Sachverständigen-Gutachtens, demzufolge eine Gefährdung durch Racheakte - gemäß den Angaben des Beschwerdeführers - nicht bestehen kann (S. 10 der Verhandlungsniederschrift). Soweit der Beschwerdeführer dieses Gutachten mehr oder weniger unsubstantiiert bestritt, ist darauf hinzuweisen, dass der länderkundige Sachverständige, der in Afghanistan geboren wurde und aufwuchs sowie in den 1990¿er Jahren an mehreren Aktivitäten der Vereinten Nationen zur Befriedung Afghanistans beteiligt war, aufgrund seiner Sachkenntnis in vielen Verfahren als Gutachter herangezogen wurde und im Auftrag vieler Mitglieder des unabhängigen Bundesasylsenates und des Asylgerichtshofes zahlreiche nachvollziehbare und schlüssige Gutachten erstattet hat, wobei auch zu betonen ist, dass der Sachverständige überdies im Falle eines Falschgutachtens mit strafrechtlichen Konsequenzen zu rechnen hätte und - im Gegensatz zum Beschwerdeführer - kein persönliches Interesse an einem bestimmten Ausgang des gegenständlichen Verfahrens hat.

 

2.3.4 Was den persönlichen Eindruck des Beschwerdeführers in der Beschwerdeverhandlung anbelangt, verweist der erkennende Senat darauf, dass dem Beschwerdeführer angesichts seines Verhaltens in der Beschwerdeverhandlung nicht zugutegehalten werden kann, er hätte sich bemüht, am Verfahren mitzuwirken: So ignorierte er bereits zu Beginn seiner Befragung vor dem erkennenden Senat konkrete Fragen zu seinen Fluchtgründen, um stattdessen vom Asylgerichtshof eine Erklärung für den Inhalt der Entscheidung des Bundesasylamtes über seinen Asylantrag zu verlangen (S. 3 der Verhandlungsniederschrift:

"VR: Möchten Sie etwas vom bisher Gesagten berichtigen oder

ergänzen? - BF: Ich glaube nicht, dass etwas falsch ist, aber ich

möchte etwas sagen. Ich habe Afghanistan vor ca. vier Jahren

verlassen, seither lebe ich hier in Österreich. Warum habe ich hier

kein Asyl bekommen, wo liegt das Problem? - VR weist auf die

rechtlichen Begebenheiten und den Ablauf eines Asylverfahrens im

Beschwerdestadium hin. VR wiederholt die Frage. - BF: Ich möchte

nichts richtig stellen, aber ich möchte dazu etwas sagen, weiß aber

nicht wie. ... Ich möchte am Anfang meine Fragen stellen. - VR: Dann

stellen Sie Ihre Fragen. - BF: Ich möchte wissen, warum ich kein

Asyl bekommen habe. ... VR: Nach dem Bescheid des BAA wurde Ihnen

nicht geglaubt, dass Sie einer Verfolgung durch die Kuchis

ausgesetzt sind. - BF: In meiner Beschwerde wurde auch nicht

protokolliert, wie ich verfolgt wurde..."; S. 11 der

Verhandlungsniederschrift: "Ich verstehe immer noch nicht den Grund,

warum ich nicht schon Asyl hier bekommen habe. Ich möchte die

Antwort auf diese Frage wissen. Klar und deutlich."). Erst nach

mehrmaliger Belehrung hatte sich der Beschwerdeführer bereit

erklärt, die Fragen des erkennenden Senates hinsichtlich seiner

Fluchtgründe zu beantworten. Hinzu kommt, dass der Beschwerdeführer

auch im weiteren Verlauf der Befragung immer wieder ausweichende

Antworten gab oder Gegenfragen stellte, die den Eindruck erweckten,

er würde sie lediglich stellen, um Zeit zu gewinnen (siehe S. 8 der

Verhandlungsniederschrift: "SV: Was ist Ihr Vater von Beruf? - BF:

Meinen Sie, was mein Vater von Beruf ist oder war? ... SV: Wie hat

Ihr Dorfvorsteher geheißen, als Sie Afghanistan verlassen haben? -

BF: Meinen Sie, unser Dorf oder die ganze Ortschaft? ... SV: Das

heißt, zwischen zwei Dörfern ist die Entfernung von ca. 20-30 km? -

BF: Ja. [an den SV] Sind Sie selbst schon einmal dort gewesen? ...

SV: Wie lange sind Sie von Ihrem Qala zum nächsten Qala gegangen. -

BF: Meinen Sie das nächste Dorf oder das am weitesten entfernte?"). Der Beschwerdeführer erschien nicht nur in der Verhandlung unwillig, am Verfahren mitzuwirken, sondern vermittelte auch mit seinem Auftreten nicht den Eindruck, dass er die vorgebrachten Vorfälle tatsächlich selbst erlebt hatte.

 

Der erkennende Senat geht daher zusammengefasst von der Richtigkeit des Sachverständigen-Gutachtens und von der Unglaubwürdigkeit des Fluchtvorbringens aus. Da der Beschwerdeführer keine sonstige, konkrete und individuelle Verfolgung geltend machte (und auch eine solche von Amts wegen nicht ersichtlich war), konnte eine individuelle konkrete Gefährdung durch eine wie immer geartete Verfolgung des Beschwerdeführers nicht festgestellt werden.

 

Da der Sachverständige überdies daran zweifelte, dass sich der Beschwerdeführer im angeblichen Ausreisezeitpunkt tatsächlich in der von ihm angegebenen Heimatprovinz aufgehalten hatte, mussten daher auch Feststellungen über den Herkunftsort des Beschwerdeführers entfallen.

 

3. Rechtlich folgt daraus:

 

3.1 Gemäß § 23 Abs. 1 Asylgerichtshofgesetz (Art. 1 BGBl. I 4/2008 idF BGBl. I 147/2008; im Folgenden: AsylGHG) sind - soweit sich aus dem AsylG 2005 nicht anderes ergibt - auf das Verfahren vor dem Asylgerichtshof die Bestimmungen des AVG mit der Maßgabe sinngemäß anzuwenden, dass an die Stelle des Begriffs "Berufung" der Begriff "Beschwerde" tritt.

 

3.2 Gemäß § 73 Abs. 1 AsylG 2005 idF BGBl. I 29/2009 ist das AsylG 2005 am 1.1.2006 in Kraft getreten; es ist gemäß § 75 Abs. 1 erster Satz AsylG 2005 idF BGBl. I 29/2009 auf alle Verfahren anzuwenden, die - wie im vorliegenden Fall - am 31.12.2005 noch nicht anhängig waren.

 

3.3 Gemäß § 3 Abs. 1 AsylG 2005 ist einem Fremden, der in Österreich einen Asylantrag gestellt hat, soweit der Antrag nicht wegen Drittstaatsicherheit oder wegen Zuständigkeit eines anderen Staates zurückzuweisen ist, der Status des Asylberechtigten zuzuerkennen, wenn glaubhaft ist, dass ihm im Herkunftsstaat Verfolgung iSd Art. 1 Abschnitt A Z 2 der Konvention über die Rechtsstellung der Flüchtlinge BGBl. 55/1955 (Genfer Flüchtlingskonvention, in der Folge: GFK) droht (vgl. auch die Verfolgungsdefinition in § 2 Abs. 1 Z 11 AsylG 2005, die auf Art. 9 der RL 2004/83/EG des Rates verweist). Gemäß § 3 Abs. 3 AsylG 2005 ist der Asylantrag bezüglich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten abzuweisen, wenn dem Fremden eine innerstaatliche Fluchtalternative (§ 11 AsylG 2005) offen steht oder wenn er einen Asylausschlussgrund (§ 6 AsylG 2005) gesetzt hat.

 

Flüchtling iSd Art. 1 Abschnitt A Z 2 GFK (idF des Art. 1 Abs. 2 des Protokolls über die Rechtsstellung der Flüchtlinge BGBl. 78/1974) - deren Bestimmungen gemäß § 74 AsylG 2005 unberührt bleiben - ist, wer sich "aus wohlbegründeter Furcht, aus Gründen der Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder der politischen Gesinnung verfolgt zu werden, außerhalb seines Heimatlandes befindet und nicht in der Lage oder im Hinblick auf diese Furcht nicht gewillt ist, sich des Schutzes dieses Landes zu bedienen; oder wer staatenlos ist, sich außerhalb des Landes seines gewöhnlichen Aufenthaltes befindet und nicht in der Lage oder im Hinblick auf diese Furcht nicht gewillt ist, in dieses Land zurückzukehren."

 

Zentraler Aspekt des Flüchtlingsbegriffs der GFK ist die wohlbegründete Furcht vor Verfolgung. Wohlbegründet kann eine Furcht nur dann sein, wenn sie im Lichte der speziellen Situation des Asylwerbers und unter Berücksichtigung der Verhältnisse im Verfolgerstaat objektiv nachvollziehbar ist (vgl. zB VwGH 22.12.1999, 99/01/0334; 25.1.2001, 2001/20/0011). Es kommt nicht darauf an, ob sich eine bestimmte Person in einer konkreten Situation tatsächlich fürchtet, sondern ob sich eine mit Vernunft begabte Person in dieser Situation (aus Konventionsgründen) fürchten würde. Unter Verfolgung ist ein ungerechtfertigter Eingriff von erheblicher Intensität in die zu schützende persönliche Sphäre des Einzelnen zu verstehen. Erhebliche Intensität liegt vor, wenn der Eingriff geeignet ist, die Unzumutbarkeit der Inanspruchnahme des Schutzes des Heimatstaates bzw. der Rückkehr in das Land des vorigen Aufenthaltes zu begründen. Eine Verfolgungsgefahr ist dann anzunehmen, wenn eine Verfolgung mit einer maßgeblichen Wahrscheinlichkeit droht; die entfernte Möglichkeit einer Verfolgung genügt nicht (VwGH 21.12.2000, 2000/01/0131; 25.1.2001, 2001/20/0011). Die Verfolgungsgefahr muss ihre Ursache in einem der Gründe haben, welche Art. 1 Abschnitt A Z 2 GFK nennt (VwGH 9.9.1993, 93/01/0284; 23.11.2006, 2005/20/0551); sie muss Ursache dafür sein, dass sich der Asylwerber außerhalb seines Heimatlandes bzw. des Landes seines vorigen Aufenthaltes befindet.

 

3.3.1 Im vorliegenden Fall ist es dem Beschwerdeführer mangels Glaubwürdigkeit der Fluchtgründe nicht gelungen, objektive Furcht vor aktueller und landesweiter Verfolgung in gewisser Intensität glaubhaft zu machen. Die Voraussetzungen für die Zuerkennung von internationalem Schutz, nämlich die Gefahr einer aktuellen Verfolgung aus einem der in der GFK genannten Gründe, liegen daher nicht vor.

 

3.3.2 Auch aus der allgemeinen Lage in Afghanistan lässt sich für den Beschwerdeführer eine Zuerkennung des Status eines Asylberechtigten nicht herleiten: Eine allgemeine desolate wirtschaftliche und soziale Situation stellt nach ständiger Judikatur des Verwaltungsgerichtshofes keinen hinreichenden Grund für eine Asylgewährung dar (vgl. etwa VwGH vom 14.3.1995, 94/20/0798; 17.6.1993, 92/01/1081). Wirtschaftliche Benachteiligungen können nur dann asylrelevant sein, wenn sie jegliche Existenzgrundlage entziehen (vgl. etwa VwGH 9.5.1996, 95/20/0161; 30.4.1997, 95/01/0529, 8.9.1999, 98/01/0614). Aber selbst für den Fall des Entzugs der Existenzgrundlage ist eine Asylrelevanz nur dann anzunehmen, wenn dieser Entzug mit einem in der GFK genannten Anknüpfungspunkt - nämlich der Rasse, der Religion, der Nationalität, der Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder der politischen Gesinnung - zusammenhängt, was im vorliegenden Fall zu verneinen wäre (dies gilt gleichermaßen für die vom Beschwerdeführer angedeuteten Gefahren, die sich aus der allgemeinen Sicherheitslage in Afghanistan ergeben).

 

3.3.3 Im Hinblick auf die spezifische Situation des Beschwerdeführers waren auch keinerlei konkrete Anhaltspunkte dafür ersichtlich, dass der Beschwerdeführer als Angehöriger der Ethnie der Hazara alleine wegen seiner Volksgruppenzugehörigkeit (und/oder wegen seiner Glaubensrichtung) in Afghanistan aktuell einer asylrelevanten Verfolgung ausgesetzt wäre (siehe dazu auch die Länderfeststellungen unter 1.1.4). Nach ständiger Rechtsprechung des Asylgerichtshofes kann von einer generellen (asylrelevanten) Verfolgung von Angehörigen der Hazara aufgrund ihrer Ethnie nicht ausgegangen werden (vgl. AsylGH 4.8.2010, C2 413686-1/2010; 8.8.2011, C5 314794-1/2008; 18.8.2011, C13 420219-1/2011; 29.9.2011, C10 401601-1/2008; 27.10.2011, 416073-1/2010; 19.1.2012, C4 422208-1/2010; 15.2.2012, C1 414903-1/2010; 20.2.2012, C15 416.171-1/2010).

 

3.3.4 Eine konkret gegen die Person des Beschwerdeführers gerichtete Verfolgungsgefahr aus in der GFK genannten Gründen ist nicht ersichtlich.

 

4. Es war daher spruchgemäß zu entscheiden.

Schlagworte
Glaubwürdigkeit, mangelnde Asylrelevanz
Zuletzt aktualisiert am
18.07.2013
Quelle: Asylgerichtshof AsylGH, http://www.asylgh.gv.at
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