TE AsylGH Erkenntnis 2013/07/16 D3 434775-1/2013

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Veröffentlicht am 16.07.2013
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Spruch

D3 434775-1/2013/6E

 

IM NAMEN DER REPUBLIK!

 

Der Asylgerichtshof hat durch den Richter Dr. KUZMINSKI als Vorsitzenden und den Richter Mag. KANHÄUSER als Beisitzer über die Beschwerde des XXXX StA. Russischen Föderation, gegen den Bescheid des Bundesasylamtes vom 19.04.2013, Zl. 12 18.442-BAI, nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung am 03.07.2013 zu Recht erkannt:

 

Der Beschwerde wird stattgegeben und XXXX gemäß § 3 Abs. 1 AsylG 2005 der Status des Asylberechtigten zuerkannt. Gemäß § 3 Abs. 5 leg. cit wird festgestellt, dass XXXX damit kraft Gesetzes die Flüchtlingseigenschaft zukommt.

Text

Entscheidungsgründe:

 

Der Beschwerdeführer, ein Staatsbürger der Russischen Föderation und Angehöriger der tschetschenischen Volksgruppe, gelangte am 19.12.2012 auf dem Luftwege nach Österreich, ohne hiezu berechtigt zu sein und stellte sogleich einen Antrag auf internationalen Schutz. Am 20.12.2012 erfolgte die Erstbefragung durch das Stadtpolizeikommando Schwechat, wobei er zu seinen Fluchtgründen angab, dass er homosexuell sei und in seinem Heimatland diskriminiert werde. Von seinen Cousins sei er geschlagen und mit dem Umbringen bedroht worden und habe er aus Angst um sein Leben sein Heimatland verlassen. Es wurde ihm die Einreise gestattet und er auch sogleich zum Asylverfahren zugelassen, nachdem er sowohl einen russischen Auslands- als auch einen russischen Inlandsreisepass vorgewiesen hatte.

 

Mit Schreiben vom 22.03.2013 gab er seine Vertretung durch XXXX bekannt, welche ein Schreiben der bekannten Menschenrechtsaktivistin XXXX zu den Fluchtgründen des Beschwerdeführers vorlegte.

 

Am 27.03.2013 wurde der Antragsteller durch das Bundesasylamt, Außenstelle Innsbruck, einvernommen. Er gab an, in Grozny geboren und aufgewachsen zu sein und dort auch bis zur Ausreise gelebt zu haben. Er sei Lehrer für Geschichte und gleichzeitig Student der Rechtswissenschaften und der Geschichte am Pädagogischen Institut in Grozny gewesen. Es sei ihm finanziell gut gegangen. Seine Eltern und Geschwister seien schon während des Krieges 1996 ums Leben gekommen und sei er dann in der Folge bei seinem Onkel, dem Bruder seines Vaters, aufgewachsen. Seine Cousins hätten ihn töten wollen, da er homosexuell sei. Zufällig hätte ein Cousin von seinem Schriftverkehr am Computer, aus dem seine sexuelle Neigung hervorgehe, Kenntnis erlangt. Seine Cousins hätten ihn zu einem Treffen in einem Park veranlasst und dort beschimpft und bis zur Bewusstlosigkeit geschlagen. Sie hätten ihn auch mit einer Pistole bedroht, dass sie ihn töten würden und hätten sie unbedingt die Adresse seines Partners herausfinden wollen, welche er jedoch nicht preisgegeben habe. Am nächsten Tag hätten sie ihn zur Moschee gebracht und habe er dann seinen Partner verständigt und ihm geraten Tschetschenien zu verlassen. Zwei Tage später habe er mit Medikamenten einen Selbstmordversuch unternommen, da er keinen Ausweg mehr gesehen habe. In der Folge habe er sich bei verschiedenen Freunden versteckt und sei dann am 03.10.2012 nach Moskau gefahren, wo er sich an die NGO XXXX gewandt habe, mit der er schon in Tschetschenien zusammengearbeitet habe. Diese habe ihm eine Stelle angeboten. Seine Verwandten hätten aber die Adresse seiner Arbeitsstelle erfahren und hätten ihn auch in Moskau telefonisch bedroht. Die Cousins hätten gewollt, dass er eine Frau heirate, um die Ehre der Familie zu retten und aufs Land ziehe.

 

Von den Behörden oder der Polizei sei er weder gesucht noch festgenommen worden. Er sei auch sonst nicht von staatlicher Seite verfolgt worden. Bei einer Rückkehr befürchte er, dass ihn seine Cousins töten würden.

 

In Österreich lebe er derzeit von der Grundversorgung und besuche einen Deutschkurs und habe er hier keine Verwandten. Diese würden alle im Herkunftsstaat leben.

 

Das vorgelegte Schreiben von XXXX wurde von Seiten des Bundesasylamtes übersetzt, jedoch wurde darauf nicht weiter eingegangen und wurde auch der Antragsteller dazu nicht befragt.

 

Mit Schreiben vom 18.04.2013 legte die Asylwerbervertreterin dem Bundesasylamt Innsbruck zwei Anfragebeantwortungen von ACCORD, und zwar zur Lage von homosexuellen Männern in Tschetschenien und zur Lage homosexueller Männer kaukasischer Abstammung in der Russischen Föderation, vor.

 

Mit Bescheid des Bundesasylamtes, Außenstelle Innsbruck, vom 19.04.2013, XXXX wurde unter Spruchteil I. der Antrag auf internationalen Schutz vom 19.12.2012 bezüglich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten gem. § 3 Abs. 1 AsylG 2005 abgewiesen, unter Spruchteil II. gem. § 8 Abs. 1 leg.cit. dieser Antrag auch bezüglich der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Russische Föderation abgewiesen und unter Spruchteil III. gem. § 10 Abs. 1 leg.cit. der Antragsteller aus dem österreichischen Bundesgebiet in die Russische Föderation ausgewiesen.

 

In der Begründung des Bescheides wurde der bisherige Verfahrensgang, einschließlich der erfolgten Einvernahme, dargestellt und angeführt, dass der Antragsteller einen Reisepass, einen Personalausweis, eine schriftliche Stellungnahme seines Vertreters (?) sowie ein Schreiben der Organisation XXXX in Moskau vorgelegt habe (ohne auf diese jedoch in der Folge weiter einzugehen). Es wurden Feststellungen zur Russischen Föderation getroffen, ohne jedoch die vorgelegten ACCORD-Auskünfte zu berücksichtigen.

 

Beweiswürdigend wurde insbesondere ausgeführt, dass die ausreisekausalen Ereignisse nicht glaubhaft befunden würden; dies insbesondere deswegen, weil der Antragsteller wohl bei der Erstbefragung als auch bei der niederschriftlichen Einvernahme seine Fluchtgründe ausschließlich auf seine Homosexualität gegründet habe, jedoch ein Schreiben der Organisation XXXX vorgelegt habe, dass er bereits seit 2010 für die Menschenrechte eingetreten sei und deswegen mit seiner Familie Probleme bekommen habe und dass er sich auch für ein Auslandsstudium interessiert habe. Das vorgelegte Schreiben erwecke den Eindruck eines Gefälligkeitsschreibens. Homosexualität sei im Übrigen in der Russischen Föderation nicht strafbar und habe er seine Homosexualität auch nie öffentlich ausgeübt und sei es ihm zuzumuten, sich beispielsweise in Moskau den dortigen Lebensgewohnheiten angepasst aufzuhalten.

 

Zu Spruchpunkt I. wurde insbesondere ausgeführt, dass eine asylrelevante Gruppenverfolgung aller Tschetschenen keineswegs vorliege und sich die Sicherheitslage in Tschetschenien seit dem Jahre 2000 weiter entspannt habe, wenn auch das Regime von KADYROW eindeutig diktatorische Züge trage. Der vorgebrachte Sachverhalt sei in seiner Gesamtheit als glaubhaft zu beurteilen und habe auch kein asylrelevanter Sachverhalt, der unter § 3 AsylG zu subsumieren gewesen wäre, festgestellt werden können, zumal Homosexualität in der Russischen Föderation nicht strafbar sei.

 

Zu Spruchteil II. wurde insbesondere dargelegt, dass im Rahmen des Ermittlungsverfahrens keine Umstände hätten ermittelt werden können, dass der Antragsteller aufgrund seiner persönlichen Eigenschaften oder seiner beruflichen oder sozialen Stellung, einer erhöhten Gefährdung ausgesetzt sei bzw. im Falle einer Rückkehr ausgesetzt wäre. Es sei auch nicht so, dass praktisch jedem, der in die Russische Föderation abgeschoben werde, Gefahr für Leib und Leben in einem Maße drohe, die die Abschiebung im Lichte des Art. 3 EMRK unzulässig erscheinen lassen würde. Weiters habe der Antragsteller in seiner Heimat über eine Existenzgrundlage verfügt und habe er auch dort einen Verwandtenkreis, wobei davon auszugehen sei, dass ihm eine gewisse Unterstützung zuteilwerde. Die Kriterien für eine ausweglose Situation im Sinne des Art. 3 EMRK seien daher nicht erfüllt und lägen auch sonst keine Voraussetzungen für die Gewährung subsidiären Schutzes vor.

 

Zu Spruchteil III. wurde nach Darlegung der bezughabenden Rechtslage und Judikatur insbesondere ausgeführt, dass der Antragsteller keine Verwandten in Österreich habe und in einer Flüchtlingsunterkunft leben würde. Er halte sich erst seit dem 19.12.2012 ununterbrochen in Österreich auf. Seine Deutschkenntnisse würden sich nur auf Grundkenntnisse beschränken und sei er in Österreich in keinem Verein Mitglied oder karitativ tätig und gehe auch keiner Beschäftigung nach, sondern bestreite seinen Unterhalt aus Mitteln der Grundversorgung. In der Heimat hingegen verfüge er über Familienangehörige und habe er dort sein bisheriges Leben verbracht, spreche die Landessprache auf Muttersprachenniveau und sei er dort einer Erwerbstätigkeit nachgegangen. Es sei daher zu befinden, dass die Beziehungen zum Herkunftsstaat die Bindungen zu Österreich in ihrer Intensität überwiegen würden. Bei Berücksichtigung dieser Ausführungen sowie des rechtswidrigen Aufenthaltes könne daher nur mit der Maßnahme der Ausweisung vorgegangen werden, welche keinen ungerechtfertigten Eingriff in Art. 8 EMRK darstelle.

 

Gegen diesen Bescheid erhob der Antragsteller durch seine ausgewiesene Vertreterin fristgerecht gegen alle drei Spruchteile Beschwerde an den Asylgerichtshof. Darin wurde insbesondere kritisiert, dass die Beweiswürdigung grob mangelhaft sei und großteils aus Textbausteinen bestehe, nicht nachvollziehbar sei und eine hinreichende Auseinandersetzung mit dem konkreten Fall und den vorgelegten Beweismitteln vermissen lasse. Obwohl behauptet werde, dass die Angaben des Beschwerdeführers widersprüchlich seien, werde kein einziger Widerspruch genannt. Die belangte Behörde argumentiere weiters, dass das Schreiben der Organisation XXXX bzw. von Frau XXXX ein Gefälligkeitsschreiben wäre; dabei werde völlig missachtet, dass die Verfasserin eine international anerkannte Menschenrechtsaktivistin sei, die auch nach Österreich zu Veranstaltungen eingeladen worden sei, die vom Innenministerium finanziert und deren Aussagen in zahlreichen Länderberichten zitiert würden. Wenn die Verfasserin betone, dass sich der Antragsteller für ein Studium im Ausland interessiere, so sei dies nur als Hinweis darauf zu verstehen, dass es sich bei dem Antragsteller um einen intelligenten und bildungswilligen jungen Menschen handle, jedoch dass der Wille nach einem Auslandsstudium keineswegs der Grund für das Verlassen der Russischen Föderation gewesen sei. Obwohl das Schreiben der Menschenrechtsorganisation bereits vor der Einvernahme durch das Bundesasylamt vorgelegen sei, sei auf dieses in der Befragung in keiner Weise eingegangen worden; ebenfalls aktenwidrig sei die Feststellung der Behörde, dass der Beschwerdeführer seine Homosexualität nie "öffentlich ausgelebt" habe. Der Beschwerdeführer habe einen festen Freund namens XXXX, einen kirgisischer Staatsangehörigen, der aus beruflichen Gründen in Tschetschenien gelebt habe, gehabt und habe davor auch schon mehrere Partner mit unterschiedlicher Beziehungsdauer gehabt; zudem sei er auf entsprechenden sozialen Netzwerken registriert gewesen, in welchen er aktiv nach Partnern gesucht habe und habe er auch an Partys unter Homosexuellen teilgenommen, die in Tschetschenien im Geheimen stattgefunden hätten. Bloß weil er seine homosexuellen Handlungen nicht öffentlich zur Schau gestellt habe, was auch für heterosexuelle Personen eher ungewöhnlich gewesen wäre, sei jedoch nicht davon auszugehen, dass er seine sexuelle Neigung völlig verborgen habe. Auch seien entsprechende Befragungen zu diesem Thema unterblieben, obwohl dies für die Beurteilung des Sachverhaltes von zentraler Bedeutung sei; es sei daher schon deswegen die Durchführung einer mündlichen Verhandlung dringend erforderlich.

 

Der Beschwerde wurde weiters ein Schreiben der Leiterin der Organisation XXXX angeschlossen, welche auch Hilfe für Personen mit nichttraditioneller sexueller Orientierung leiste und in der der Beschwerdeführer lange Zeit selbst aktiv gewesen sei. Schließlich sei auch die Gefährdungsprognose ohne Berücksichtigung der eigens eingeholten ACCORD-Anfragebeantwortungen unschlüssig. Der Beschwerdeführer sei homosexuell und gehöre daher einer sozialen Gruppe an. Er werde wegen seiner sexuellen Orientierung verfolgt und finde dies auch in den eingeholten Anfragebeantwortungen von ACCORD Deckung. Aufgrund des Zusammentreffens der Merkmale homosexuelle Orientierung und Zugehörigkeit zur tschetschenischen Volksgruppe sei es ihm auch nicht möglich, ein Leben in der Russischen Föderation (außerhalb von Tschetschenien) fortzusetzen. Die Mitgliedschaft in einer Organisation von Personen mit nichttraditioneller sexueller Orientierung werde in Russland in Kürze strafbar sein. Der Beschwerdeführer werde in Tschetschenien von seiner Familie massiv verfolgt und drohe ihm Zwangsheirat und im Falle einer Weigerung sogar ein "Ehrenmord". Die Aufforderung, "ein diskretes Leben" zu führen, würde einen gravierenden Eingriff in Art. 8 EMRK darstellen, weil er auf diese Weise beispielsweise der Möglichkeit beraubt würde, mit seinem Partner in der Öffentlichkeit aufzutreten und müsste er lebenslang eine Entdeckung seiner sexuellen Orientierung zu fürchten, wobei die tschetschenische Gemeinschaft bekanntermaßen eng vernetzt sei und es auch nicht ausgeschlossen werde, dass er an anderen Orten von seiner Familie gefunden würde. Es wurde auch auf einen Bericht "Fleeing Homophobia" verwiesen und dieser auszugsweise zitiert. Im vorliegenden Fall liege zwar eine nichtstaatliche Verfolgung vor, die staatlichen Institutionen seien aber schutzunwillig bzw. schutzunfähig und schließlich wurde auch ein Vorbringen zur Non-refoulement-Prüfung und zur aufschiebenden Wirkung erstattet.

 

Das Schreiben der NGO XXXX wurde im Auftrage des Asylgerichtshofes übersetzt. Mit Schreiben vom 05.06.2013 legte die Beschwerdeführervertreterin weiters ein Schreiben von Human Rights Watch vor und ersuchte in der Folge um rasche Anberaumung einer mündlichen Beschwerdeverhandlung, da der Antragsteller in seinen Unterkünften wegen seiner sexuellen Orientierung im wieder Probleme habe.

 

Der Asylgerichtshof beraumte daraufhin eine mündliche Verhandlung im Sinne des § 20 AsylG an. Zur Vorbereitung dieser Verhandlung legte die Beschwerdeführervertreterin mit E-Mail vom 28.06.2013 eine Bestätigung der XXXX vom 13.06.2013 sowie eine Therapiebestätigung des Zentrums für interkulturelle Psychotherapie XXXX vor.

 

Zu der Beschwerdeverhandlung erschien der Beschwerdeführer in Begleitung seiner ausgewiesenen Vertreterin. Von Seiten des Bundesasylamtes ist unentschuldigt niemand erschienen.

 

Der Beschwerdeführer gab in der Verhandlung über Befragung durch den vorsitzenden Richter, den beisitzenden Richter und die Beschwerdeführervertreterin Folgendes an:

 

"VR: Möchten Sie Ihr bisheriges Vorbringen aufrechterhalten?

 

BF: Ja.

 

VR: Wollen Sie Ihr Vorbringen irgendwie korrigieren oder ergänzen?

 

BF: Die Unwahrheit habe ich nicht gesagt, aber man ließ mich nicht alles sagen, ich hätte noch etwas hinzuzufügen. Das betrifft den Grund, warum ich mich nicht an die Polizei wenden konnte.

 

VR: Welcher Volksgruppe und Religion gehören Sie an?

 

BF: Ich bin Tschetschene und Moslem.

 

VR: Wo und wann sind Sie geboren?

 

BF: Ich bin am XXXX in Grosny geboren.

 

VR: Wo haben Sie im Laufe Ihres Lebens gelebt? Geben Sie das bitte möglichst genau an!

 

BF: Geboren wurde ich in Grosny, bis zum Ausbruch des ersten Krieges lebte ich dort. Danach war ich gezwungen in ein Dorf namens XXXX zu gehen. Dann kehrte ich nach Grosny zurück. Nach Ausbruch des zweiten Krieges fuhren wir nach Inguschetien, von dort dann wieder zurück nach Tschetschenien, nach XXXX. Danach übersiedelten wir wieder nach Grosny. Dann zog ich Anfang Oktober 2012 nach Moskau. Im Dezember 2012 bin ich nach Österreich ausgereist. Im Sommer 2012 war ich auf einem Seminar in Deutschland, dies ca. eine Woche Ende Juni, Anfang Juli.

 

VR: Welche schulische oder sonstige Ausbildung haben Sie erhalten?

 

BF: Ich habe elf Klassen bis zur Mittelschule besucht. Dann studierte ich am tschetschenischen pädagogischen Institut in Grosny, in diesem Jahr hätte ich es abschließen sollen. Ich habe Geschichte und Rechtswissenschaften studiert.

 

VR: Wovon haben Sie in Tschetschenien gelebt?

 

BF: Ich arbeitete neben dem Studium als Lehrer in einer Schule, außerdem hatte ich ein Stipendium.

 

VR: Wann sind Ihre Eltern gestorben?

 

BF: Während des Krieges im Jahr 1996.

 

VR: Wo sind Sie dann aufgewachsen?

 

BF: Bei meiner Großmutter im Dorf XXXX. Dann bei einem Onkel und dessen Familie und dann zog ich nach Moskau.

 

VR: Wie war das Verhältnis zu Ihrem Onkel?

 

BF: Er war der Bruder meines Vaters. Die Beziehung war nicht sehr warmherzig, denn in dieser Familie gab es schon vier Kinder, einen Buben und drei Mädchen. Da ich nicht ein traditionsbewusster Tschetschene war, waren die Beziehungen zu mir eher gespannt. Bei uns muss ein richtiger Tschetschene ein starker Mann sein, er muss die Familie versorgen, er muss religiös stark sein und hundertprozentig die Sitten befolgen. Ihnen war es unangenehm, dass ich öffentlich tätig war und mich mit Menschenrechten beschäftigt habe.

 

VR: Haben Sie sich in Tschetschenien politisch betätigt?

 

BF: Ja, meine Hauptstoßrichtung war die Korruption. Ich war Volontär bei lokalen Menschenrechtsorganisationen.

 

VR: Waren nahe Verwandte von Ihnen aktive Kämpfer?

 

BF: Nein.

 

VR: Wann haben Sie Ihre homosexuelle Orientierung bemerkt?

 

BF: Ungefähr mit vierzehn Jahren bemerkte ich, dass ich nicht so bin, wie die meisten anderen. Ich verstand aber nicht, was los war, ich konnte auch niemanden anderen fragen oder eine Information erlangen. Ich wusste nicht, ob ich alleine so bin, oder ob es auch andere Leute solcher Art gibt. Als ich bemerkte, dass mich Personen gleichen Geschlechts mehr anziehen, war es für mich ein Schlag, denn ich wurde gemäß der Religion und der Tradition der tschetschenischen Republik erzogen. Dann verstand ich es und begann an mir zu arbeiten. Es kostete mich einige Jahre, um gegen meine Homophobie anzukämpfen und mich selbst zu akzeptieren. Mit ca. 17 Jahren, als ich fast erwachsen war, akzeptierte ich mich, wie ich bin. Mit der Zeit gelang es mir auch Informationen zu sammeln, über jene, die mir ähnlich sind.

 

VR: Hatten Sie in Tschetschenien eine feste Beziehung oder eher vorübergehende Partner?

 

BF: Es gab verschiedene Partner, mit dem letzten vor meiner Abreise gab es eine ernsthafte Beziehung. Ich habe ihn über das Internet kennengelernt.

 

VR: Was wissen Sie über sein Schicksal?

 

BF: Derzeit befindet er sich in Kirgisistan. Er ist von der Nationalität her Usbeke, deswegen war im Brief von Frau XXXX ein Fehler enthalten. Nachdem er sich allen seinen Verwandten als schwul geoutet hat, wurde er zuerst verprügelt, dann hat man eine Hochzeit arrangiert, die Ende August stattfinden soll. Er kam wie viele andere Kirgisen und Usbeken ursprünglich nach Russland, um Geld zu verdienen. Die Baufirma, bei der er gearbeitet hat, hat in Tschetschenien gebaut. Man nimmt normalerweise die hereingekommenen Usbeken auf, da Sie für weniger Geld arbeiten.

 

VR: Haben Sie mit ihm in Tschetschenien zusammengelebt?

 

BF: Nein, aber wir haben uns getroffen und kommuniziert. In Tschetschenien als Männer zusammenzuleben ist nicht reell.

 

VR: Gibt es in Tschetschenien eine Homosexuellenszene?

 

BF: Ja, es ist wie eine Untergrundgruppe. Wir treffen uns üblicherweise in kleinen Gruppen in Grosny an verschiedenen Orten, meist in geschlossenen Cafes oder in irgendeiner gemieteten Wohnung. Auf Partys werden nur sehr gut geprüfte Leute eingeladen. Derzeit ist es in Tschetschenien sehr gefährlich. Es ist in der letzten Zeit häufig vorgekommen, dass die gemieteten geheimen Wohnungen von Kadyrov-Leuten heimgesucht werden.

 

VR: Ist es nicht so, dass auch Kämpfer und Regierungsfunktionäre homosexuell sind?

 

BF: Natürlich, es gibt in jeder Gesellschaft 5 bis 7 Prozent Homosexuelle. Wie Kadyrov aber verlautbart hat, gibt es keine Homosexuellen in Tschetschenien.

 

BR: Sie haben gesagt, dass momentan eine Gefahr besteht, dass die Szene in den gemieteten Wohnungen von Kadyrov-Leuten besucht wird. Wissen Sie, was der Grund dieser Besuche ist, ist dies eine direkte Verfolgung von Homosexuellen oder wird dahinter vielleicht eine Widerstandsgruppe vermutet?

 

BF: Jeder versteht, dass von Seiten der Homosexuellen für die tschetschenische Führung keine Gefahr ausgeht, aber wenn sie draufkommen, dass sich eine Gruppe Homosexueller trifft, ist das eine gute Gelegenheit, Geld zu verlangen. Sie gehen normalerweise so vor, dass sie sich einen Homosexuellen herausgreifen und zwingen diesen unter Schlägen zu sagen, wo das nächste Treffen stattfindet. Sie dringen dann in die Wohnung ein, ohne zu unterscheiden, ob Mädchen oder Burschen dort sind, alle werden verprügelt. Auch die Mädchen dort müssen mit den Kadyrov-Leuten schlafen und um den Homosexuellen die letzte Würde zu nehmen, gibt es auch Vergewaltigungen von Burschen. Das sind keine Einzelfälle, es wird aber nicht darüber geschrieben. Keine Menschenrechtsorganisation fasst dieses Thema an, will dagegen offen auftreten.

 

BR: Ist Ihnen das persönlich widerfahren?

 

BF: Nein, aber vielen meiner Bekannten, ich persönlich war auch nicht dabei, weil ich sehr selten zu solche Treffen ging, weil mir bewusst war, wie gefährlich das ist. Ich sah schon Videos, wo Leute, die ich persönlich kannte, von Kadyrov-Anhängern verprügelt wurden.

 

VR: Wie hat die Kommunikation zwischen Homosexuellen in Tschetschenien funktioniert?

 

BF: Bekanntschaften macht man hauptsächlich über das Internet. Man muss aber unbedingt seinen Registrierungsort im Account angeben, meistens wird da Moskau angegeben. Wenn man Grosny als Wohnort angibt, wird in diese Seite von Spezialisten eingedrungen. Nach einigen Monaten wird an einem bestimmten Ort ein Treffen vorgeschlagen. Wenn man zu einem Treffen ja sagt, trifft man sich normalerweise an einem Ort voller Leute. Wenn ich zu einem vereinbarten Treffen kam, beobachtete ich zuerst die Umgebung und die Person von der Seite her, ob er alleine ist und eine Falle sein könnte. Erst wenn alles "rein" war, trat ich an ihn heran.

 

VR: Wurden Ihre Internetkontakte auch gehackt?

 

BF: Das kann man nicht genau sagen, aber wenn ich die Seite öffnete, wurde angezeigt, dass ich meinen Account nicht verlassen hatte. Mein Cousin, der las alle meine Korrespondenz.

 

VR: Welche Probleme hatten Sie mit Ihren Verwandten aufgrund Ihrer Orientierung?

 

BF: Sie beriefen ein Selbstgericht ein, es waren drei Cousins, einer hat mit mir beim Onkel gelebt, zwei andere waren von anderen Onkeln die Söhne. Als XXXX einen Screenshot von meiner Seite machte, erzählte er es dem älteren XXXX, der dritte hieß XXXX. Diese drei beschlossen, über mich ein Urteil zu sprechen. Sie kamen zu uns nach Hause und führten mich in einen Park. Das war mir sehr verdächtig. Als XXXX zu mir kam, bat er mich, auf meinem Computer, auf die Seite eines Schulkollegen zu gehen. Dort sah er meine Korrespondenz, machte Screenshots und ging weg. Zwei Tage geschah nichts. Es stand aber dann eine Mitteilung, "gebe deine Telefonnummer XXXX". Timur, mein Freund, rief mich an, fragte, ob ich das bin, also der Schulkollege, denn er habe von mir diese Mitteilung erhalten "gebe mir deine Telefonnummer". Ich sagte, dass diese Mitteilung nicht von mir ist, mir wurde klar, dass es XXXX gemacht hat. Ich hoffte, dass alles gut enden würde. Zwei Tage später kamen die drei Cousins mit einem Auto zu uns nach Hause und forderten mich auf, mit ihnen in den Park zu fahren. Als Begründung gaben sie an, ich wäre schon lange nicht in deren Gesellschaft gewesen. Ich sagte, ich könne nicht, weil ich viel Arbeit hätte. XXXX bestand aber darauf, es würde nicht lange dauern. Er beschwerte, dass ich dauernd nur arbeite.

 

VR: Was geschah im Park?

 

BF: Ich sagte, ich müsse mich umziehen, bevor wir in den Park fahren, ich rief aber von meinem Zimmer aus XXXX an, und bat ihn, die Mitteilung mit der Telefonnummer zu löschen. Als wir in den im Zentrum von Grosny gelegenen XXXX kamen, suchten sie einen Platz neben dem Fluss XXXX aus. Als ich mich ins Auto setzte, sah ich das Notebook und verstand, worum es geht. Rechts von mir saß XXXX, links stand XXXX und gegenüber stand XXXX. XXXX stellte die erste Frage. Er fragte, wer mein Liebster sei. Ich verstand gleich, worum es geht. Ich tat so, als ob ich nicht wüsste, worum es geht. Ich sagte, dass ich alle meine Schulkollegen gern habe. Er sagte dann, von uns drei ist niemand ein Schulkollege, daher würde ich sie nicht lieben. Dann folgte der erste Schlag. Er fragte dann, wer der Allerliebste ist, mit wem ich mein Leben verbringen möchte. Ich sagte noch immer, ich wüsste nicht, wovon er rede. Da öffnete XXXX sein Notebook und es gab einen Ordner mit dem Namen "Schrecklich". Diesen öffnete er, und begann meine Korrespondenz vorzulesen. Ich sagte, "genug, ich weiß, was da steht". Daraufhin folgten Faustschläge und Tritte. Ich schützte mein Gesicht mit den Händen. XXXX packte mich an den Haaren und warf mich zu Boden, ich verlor das Bewusstsein. Wegen der Kälte kam ich wieder zu mir. Sie überschütteten mich mit Wasser, setzten mich auf die Parkbank und fragten weiter. XXXX sagten, wie sie anderen Leuten in die Augen schauen sollten, wenn ich ein Kinderschänder bin. Als ich mich weigerte, die Adresse von XXXX herzugeben, zog er eine Pistole. Er sagte, er würde mein Gehirn an Ort und Stelle zerbröseln. Ich sagte zu ihm "schieß nur, erschieße mich und vergrabt mich im Wald, dann wird niemand etwas erfahren". Ich erhielt noch Faustschläge auf den Kiefer. Er drückte mir die Pistole in den Mund und drohte mit dem Erschießen. Ich war zu allem bereit, ich dachte, er würde schießen. Er wollte unbedingt, dass ich die Adresse von XXXX hergebe und ein Treffen vereinbare. Hätte er geschossen, wären Fragen von den Onkeln gekommen. In diesem Zustand konnten sie mich nicht nach Hause bringen, wir fuhren zu XXXX. Am nächsten Morgen zum Morgengebet brachten sie mich in die Moschee und baten den Imam, mich von den Sünden frei zu waschen. XXXX sagte, in mir sei der Teufel. Sie wollte mich in das islamische Zentrum bringen, damit man mir den Teufel austreibe.

 

VR: Wurden Sie in das islamische Zentrum gebracht?

 

BF: Nein, ich konnte flüchten. Es gelang ihnen nicht. In der Moschee erhielt ich noch einen Koran in die Hand. Ich war wegen meiner Verletzungen nicht beim Arzt. Ich ging am nächsten Tag trotz blauer Flecken in die Arbeit. Als der Direktor mich sah, schickte er mich nach Hause, um mich auszukurieren. Ich konnte nicht zur Polizei gehen.

 

VR: Warum konnten Sie nicht zur Polizei gehen?

 

BF: Bei uns betrachtet man das als innerfamiliäre Angelegenheit. Außerdem hätten sie mich zu XXXX bringen können. Sie hätten mich auch demütigen und erschießen können und niemand hätte nach mir gefragt. Sie hätten mir vielleicht eine Rebellenuniform angezogen und mich erschießen können. Am nächsten Tag wollte ich Selbstmord begehen, ich sah keinen Sinn mehr, um weiterzuleben. Ich nahm alle Medikamente zu mir, die ich zu Hause fand. Nach einiger Zeit wurde mir schlecht, ich erbrach alles. Man rief die Rettung. An Ort und Stelle wurde mir der Magen ausgepumpt und sie gingen wieder weg.

 

Danach kam XXXX und begann mir zu drohen. Wenn sich so etwas wiederholt, würde er dem Onkel alles erzählen. Er sagte, ich hätte dies absichtlich getan, um sie zu erschrecken. Die Tante fragte, was mit mir los sei, ich lehnte es ab, mit irgendjemandem darüber zu reden. Ich lag in meinem Zimmer und beschloss, wenn es mir nicht gelingt, selbst mein Leben zu beenden, dann wenigstens, von zu Hause zu flüchten. Es gab oft Momente, wo der Onkel mit mir schimpfte, dann verbrachte ich die Nächte mit meinem Freund bei Spaziergängen durch das nächtliche Grosny. Wir sprachen miteinander. Ich nächtigte oft bei ihm zu Hause. Nachdem mir klar war, dass jederzeit etwas passieren konnte, nahm ich eine Mappe mit Dokumenten und gab sie meinem Freund XXXX, damit der sie aufbewahrte. Als ich dann von zu Hause wegging, ging ich zu einem Freund namens XXXX. Ich konnte nicht sofort zu ihm gehen, meine Cousins wussten, wo er wohnte. Zuerst würden sie zu XXXX gehen, dem ich auch die Mappe gegeben hatte, XXXX war schon heimgefahren. Die erste Woche lebte ich bei XXXX, er war Aushilfskraft beim Markt. Wir studierten am gleichen Institut, dort lernten wir uns kennen. Ich half ihm oft am Markt LKW¿s abzuladen. Man schickte eines Tages alle Cousins, um nach mir zu suchen. Grosny ist nicht so groß. Einmal saßen wir bei XXXX in der Küche, die Wohnung war im Erdgeschoß. Durch das Fenster sah ich, wie das Auto von XXXX vorfuhr. XXXX ging in den Hof des Hauses. XXXX und XXXX zum Haustor. Sie klopften an die Wohnungstür. Ich sagte XXXX, dass sie wegen mir kamen, und ich flüchten müsse. Ich bat ihn, sie hinzuhalten, sodass ich durch das Fenster flüchten konnte. Ich sprang aus dem Fenster und flüchtete zu XXXX. Er versteckte mich bei sich. Natürlich erhielt er Drohanrufe, ob ich dort sei. Mir war klar, dass XXXX seine Familie und seinen Taip hat. Er sagte XXXX in scharfer Form, dass er nicht wisse, wo ich bin und er mich in Ruhe lassen soll. Als XXXX eines Tages im Zentrum in Grosny war, traten meine Verwandten an ihn heran, da war mir klar, dass ich bei XXXX auch nicht mehr sicher war. Ich fuhr dann zu XXXX.

 

Meine Freunde aus Moskau kannten nun meine Situation, sie waren von der Organisation XXXX. So lebte ich bis Oktober 2012. Ich fuhr mit dem Bus nach Moskau. Meine Cousins erfuhren, dass ich Tschetschenien verlassen habe, sie fuhren zum Flughafen in Grosny, ich aber fuhr mit dem Bus nach Moskau. Ich lebte dort bei einer Freundin, einer Mitarbeiterin der NGO. Ich arbeitete dort als Koordinator eines Programms für die Bildung auf dem Gebiet der Menschenrechte im Nordkaukasus. Ich blieb bis Dezember 2012 in Moskau.

 

VR: Wann war dieser Vorfall, wo Sie von Ihren Cousins im XXXX zusammengeschlagen wurden?

 

BF: Das war Ende August 2012, das genaue Datum weiß ich nicht mehr.

 

VR: Sie haben weiters beim BAA (AS 134) auch von einer Zwangsheirat gesprochen. Was war da konkret?

 

BF: Ja, XXXX sagte, eine Bedingung wäre auch, dass ich in Bälde heiraten soll und nicht mehr mit meinen Freunden kommunizieren dürfe. Ich müsste über jeden meiner Schritte XXXX berichten, wir lebten alle in einem Haus.

 

BR: Am Flughafen (AS 25) wurden Sie gefragt, warum Sie in Deutschland damals keinen Asylantrag eingebracht haben.

 

BF: Damals gab es keine solchen Probleme.

 

BR: Was meinen Sie damit?

 

BF: Damals hat XXXX meine Korrespondenz noch nicht gelesen.

 

BR: Sie haben aber damals auch schon gewusst, dass, wenn Ihre Korrespondenz ans Tageslicht kommt, etwas passieren könnte?

 

BF: Ja. So war das. Die Gefahr hat schon bestanden, aber es ist noch zu keinen Übergriffen gekommen.

 

VR: Was ist weiter in Moskau geschehen?

 

BF: Ich begann dort zu arbeiten, die erste Zeit war alles ruhig. Offiziell konnte ich mich nicht registrieren lassen, denn in diesem Fall hätte ich zuerst nach Tschetschenien zurückfahren müssen, um mich abzumelden. Dann hätte die neue Polizeiabteilung von der alten meine Adresse erfahren. Ich hielt weiter Kontakt zu meiner Cousine in Tschetschenien, um zu erfahren, was sich dort tut. Sie nahmen ihr meine Nummer ab und es begannen wieder die Anrufe meiner Cousins. Zuerst nahm ich dies nicht ernst, da ich in Moskau war, sie in Tschetschenien, man würde mich nicht finden, dachte ich. Aber die Anrufe häuften sich, ebenso die Drohungen. Am 21.10. hätte die jüngere Schwester XXXX heiraten sollen. Wenn alle anderen erfahren hätten, dass ich schwul bin, hätte man sie nicht zur Frau genommen, die Hochzeit wäre nicht zustande gekommen. Am 21.10. heiratete XXXX und am 12.12. rief mich meine Cousine an, dass XXXX nach Moskau gefahren wäre. Er hatte die Adresse unserer Organisation. Sie hätten mich dort jederzeit abpassen können. Der Bruder der Frau meines Onkels arbeitet im Parlament, er bekam auch Anrufe und wollte mich treffen, ich war dagegen. Als am 12.12. XXXX nach Moskau reiste, reiste ich dann aus.

 

VR: Wie kamen Sie mit Menschenrechtsorganisationen in Kontakt?

 

BF: Die erste Organisation war die tschetschenische Organisation XXXX. Ein älterer Student in meinem Jahrgang schlug vor, an einem Menschenrechtsseminar in XXXX teilzunehmen, welches die Organisation XXXX mit Hilfe einer norwegischen Menschenrechtsgruppe durchführte. Ich begann mich zu interessieren dafür, es entstanden neue Kontakte. Ich nahm an allen Aktivitäten, nämlich Kursen und Seminaren teil.

 

VR: Welche Aktivitäten haben Sie selbst für Menschenrechtsorganisationen entfaltet?

 

BF: Mein Hauptthema war Korruption. Mit dem älteren Freund begannen wir einen Plan zu entwerfen, um gegen die Korruption in Tschetschenien vorzugehen. Mich interessierten auch die Fragen über die in der Ehe vergewaltigten tschetschenischen Frauen. Ich besuchte weiter Veranstaltungen von XXXX. Ich verfasste diverse Projektarbeiten und bekam auch ein Stipendium, um Projekte zu realisieren. Ich gründete mit anderen eine Gruppe, ich unterrichtete diese Gruppe im Forum Theater, wir haben Theater gespielt. Wir zeigten szenisch ein Problem auf, z.B. Menschenrechtsverletzungen in verschiedenen Sphären. Dann stellten wir ein Feedback mit den Zuhörern her. Der Moderator stoppt eine Szene und stellte Auditorium Fragen, z.B. wer das Opfer und wer der Täter ist und welches Recht verletzt wurde. Unter den Zuhörern gaben einzelne Zuhörer Lösungen an und spielen dann diese auf der Bühne dann mit. Wir fuhren in verschiedene Schulen in Tschetschenien und erarbeiteten Szenen dieser Art.

 

Am Institut nahmen wir den Kampf gegen die Korruption auf. Das gelangte auf föderale Ebene, dass z.B. der Kadyrov-Fond von den Absolventen Geld fordert. Ich hatte auch Kontakt zu einer Moskauer Studentenorganisation und schrieb ihnen, dass von den Absolventen Geld gefordert wird. Sie schrieben sofort eine Anfrage an den Assistenten des Rektors. Jener antwortete, dass das unwahr sei und niemand Geld forderte. Ich erhielt von dieser Organisation die Antwort. Ich beschloss dann 500 Exemplare von der Frage und der Antwort des Rektorassistenten zu drucken und hängte sie in der Uni auf. Ich suchte die Örtlichkeiten, wo keine Überwachungskameras sind und verteilte auch die Flugblätter. Die Flugblätter gelangten in die Hände der Absolventen und als das Thema auf der Website XXXX publik gemacht wurde, gelangte dies Kadyrov zur Kenntnis. Er diskutierte dann im Fernsehen mit dem Rektor. Er beschimpfte den Rektor und behauptete, dass er nie Geld gefordert hätte, dies würde nicht straflos bleiben. Letztendlich wurde ein Dekan entlassen. Mich als Aktivisten zogen sie von Dekanat zu Dekanat bis zum Rektor, sie wollten wissen, wer der Urheber sei, ich versprach, das herauszufinden. Als Ergebnis dessen erhielten alle Absolventen ihr Geld zurück, es war damit beendet. Im nächsten Jahr erbat der Kadyrov-Fond kein Geld mehr von den Absolventen. Das war einer meiner offenen Kämpfe gegen das korrupte System.

 

VR: Hatten Sie wegen Ihres Menschenrechtsengagements Probleme mit den Behörden?

 

BF: Offene Probleme hatte ich nicht, aber sie wiesen uns immer darauf hin, wo unser Platz sei. Als ich noch im zweiten Lehrgang war, war ich humanitär tätig. Wir sammelten Geld für ein Waisenhaus. Ich wurde ins Bürgermeisteramt gerufen. Mir wurde gesagt, ich müsse diese Tätigkeit einstellen, denn Kadyrov habe gesagt, dass es in Tschetschenien keine Waisen gebe. Solange man Kadyrov nicht selbst anrührt, bekommt man keine Probleme. Es gefällt ihnen natürlich nicht, wenn man die internen Probleme aufwirft und in die Öffentlichkeit bringt.

 

VR: Wie haben Ihre Verwandten auf Ihr NGO-Engagement reagiert?

 

BF: Sehr negativ. Wenn ich z.B. das Problem Korruption aufwerfe, betrachten sie es als Denunziantentum. Das wäre gegen die Tradition. Mein Onkel sagte, in unserer Sippe hätte es nie Denunzianten gegeben.

 

VR: Warum haben Sie Ihr Menschenrechtsengagement beim Bundesasylamt nicht erwähnt?

 

BF: Man ließ es mich nicht erzählen, jeder war in Eile.

 

VR: Was war der unmittelbare Anlass Ihrer Ausreise?

 

BF: Eben die Tatsache, dass ich weder in Tschetschenien noch in Russland weiterleben konnte. Selbst wenn ich in andere Städte wie XXXX oder XXXXgezogen wäre, wäre ich mit dem negativen Verhalten der Russen gegenüber den Tschetschenen konfrontiert worden. Zweitens bin ich auch homosexuell. Drittens hätte ich auch Probleme mit der Registrierung gehabt. Viertens hätte ich als Aktivist einer Menschenrechtsorganisation Probleme bekommen, weil ich als Agent des Auslands betrachtet worden wäre. Faschistische Gruppen markieren die Büros der Menschenrechtsorganisation mit roten Kreuzen und sagen, man sei ein ausländischer Agent.

 

VR: Das Bundesasylamt hat gemeint, Sie wären deswegen ausgereist, um im Ausland zu studieren.

 

BF: Das ist nicht wahr. Ich dachte nie daran, auszureisen und zu studieren.

 

VR: Hatten Sie schon vor der Ausreise Kontakte mit Ihrer jetzigen Vertreterin?

 

BFV: Wir hatten keinen direkten Kontakt, wir hatten einen Dolmetscher, der mit einer Frau verheiratet ist, die in derselben Organisation in Moskau arbeitet. So ist der Kontakt entstanden.

 

BR: Sind Sie im Rahmen der Tätigkeit für die Organisation unter dem eigenen Namen oder einem Pseudonym aufgetreten?

 

BF: Mit dem eigenen Namen.

 

BR: Gibt es außer der Aussage von Frau XXXX noch Unterlagen, die Ihre Tätigkeit für diese Organisation belegen, z.B. im Internet?

 

BF: Man muss im Internet schauen, vielleicht findet man etwas. Ich schrieb natürlich Einiges im Internet. Dort schrieb ich aber unter einem Pseudonym.

 

VR: Was machen Sie derzeit hier in Österreich?

 

BF: Ich besuche Deutschkurse und den Psychotherapeuten. Ich gehe zur Organisation XXXX in Innsbruck. Ich war bei der Gay-Parade in Innsbruck und habe Kontakt zu in Innsbruck befindlichen gleichgeschlechtlichen Paaren. Ich habe noch keinen neuen Partner in Österreich.

 

VR: Haben Sie aktuelle gesundheitliche oder psychische Probleme?

 

BF: Ja, ich gehe zu einem Psychotherapeuten und versuche klar zu kommen. Ich gehe zu XXXX in Innsbruck, das ist das Zentrum für interkulturelle Psychotherapie.

 

VR: Haben Sie, seit Sie in Österreich sind, noch irgendetwas von Ihren Verwandten in Tschetschenien gehört?

 

BF: Mein Freund XXXX sagte, dass sie gekommen sind. Die Tante weinte und bat ihnen zu sagen, wo ich mich aufhalte. Sonst habe ich kein Interesse angemeldet.

 

VR: Was würde mit Ihnen geschehen, wenn Sie in die Russische Föderation zurückkehren müssten?

 

BF: Wenn ich jetzt zurückkehren würde, nach der Verabschiedung der Gesetze gegen Homosexualität und wenn ich meine Tätigkeit fortsetzen würde, würde ich eine Verfolgung durch die Behörden erfahren. Würden meine Verwandten erfahren, dass ich nach Russland zurückgekehrt bin, würden sie mit mir abrechnen und mich umbringen.

 

VR: Möchten Sie noch etwas vorbringen, was Ihnen für Ihren Asylantrag wichtig erscheint und Sie noch nicht vorgebracht haben?

 

BF: Nein. Ich bin schon müde vom Asylverfahren."

 

Die Beschwerdeführervertreterin gab zu den übermittelten (allgemeinen) Länderberichten keine Stellungnahme ab und verwies auf die im Akt befindlichen ACCORD-Anfragebeantwortungen.

 

Der Asylgerichtshof hat wie folgt festgestellt und erwogen:

 

Zur Person des Beschwerdeführers wird Folgendes festgestellt:

 

Er ist Staatsbürger der Russischen Föderation und Angehöriger der tschetschenischen Volksgruppe sowie Moslem und wurde am XXXX in Grozny geboren, wo er - mit Ausnahme kriegsbedingter Aufenthalte in XXXX und in Inguschetien - die meiste Zeit seines Lebens verbrachte. Nach der Mittelschule studierte er am Pädagogischen Institut in Grozny Geschichte und Rechtswissenschaften und arbeitete nebenbei bereits als Geschichtslehrer. Seine Eltern verstarben bereits im Zuge des ersten Tschetschenienkrieges und wuchs er zunächst bei seiner Großmutter und dann bei seinem Onkel und dessen Familie auf, der ein sehr traditionsbewusster Tschetschene war. Die Beziehung zu dieser Familie war von vornherein nicht sehr warmherzig und gab es große Differenzen zwischen dem Beschwerdeführer und seinem Onkel hinsichtlich der Weltanschauung und der Lebensführung.

 

Der Beschwerdeführer bemerkte bereits mit 14 Jahren, dass er "anders" sei und war zunächst stark verunsichert. Als er verstand, dass ihm Personen gleichen Geschlechtes anziehen, bekämpfte er dies zunächst, fand jedoch später seinen eigenen Weg und hatte auch schon im Herkunftsland mehrere homosexuelle Beziehungen. Zuletzt lernte er über das Internet einen Kirgisen usbekischer Volksgruppenzugehörigkeit kennen, der in Tschetschenien bei einer Baufirma arbeitete, mit dem er eine ernsthafte Beziehung führte. Als ein Cousin des Beschwerdeführers von seiner Internetkorrespondenz Kenntnis erlangte, verständigte er die beiden anderen Cousins und versuchten diese "Selbstjustiz" an dem Beschwerdeführer zu üben und diesen zu zwingen die Adresse seines Freundes preiszugeben, was der Beschwerdeführer jedoch nicht tat. Vielmehr riet er seinem Freund Tschetschenien zu verlassen und in seine Heimat zurückzukehren. Dort outete er sich, was dazu führte, dass er zunächst von seinen Verwandten verprügelt wurde und nunmehr zwangsverheiratet werden soll.

 

Der Beschwerdeführer wurde in einem Park von seinen Cousins bis zur Bewusstlosigkeit geschlagen und mit einer Pistole mit dem Tode bedroht und einen Tag später zwangsweise in eine Moschee "um den Teufel auszutreiben". Dabei gelang dem Beschwerdeführer die Flucht. Am nächsten Tag unternahm der Beschwerdeführer mit Medikamenten einen Selbstmordversuch, wurde jedoch gerettet und neuerlich von seinen Cousins bedroht. Die Verwandten des Beschwerdeführers forderten weiters, dass er heirate.

 

Er hielt sich in der Folge bei verschiedenen Freunden in Tschetschenien auf, wo ihn jedoch ebenfalls seine Verwandten bedrohten. Als sie ihn aufsuchten, flüchtete der Beschwerdeführer und übersiedelte er im Oktober 2012 nach Moskau, wo er Arbeit bei der Organisation XXXX fand. Der Beschwerdeführer hielt sich unangemeldet in Moskau auf und hatte dort zunächst keine Probleme. In weiterer Folge erhielt er jedoch auch dort Drohanrufe seiner Verwandten und fanden diese auch seine Arbeitsstelle heraus. Als er hörte, dass ein Cousin bereits auf dem Weg nach Moskau sei, entschloss er sich kurzfristig zur Ausreise auf dem Luftweg.

 

Nachdem der Beschwerdeführer auf Vorschlag eines älteren Studenten an einem Menschenrechtsseminar teilgenommen hatte, entstanden die ersten Kontakte zu der tschetschenischen NGO XXXX, die sich auch für Personen mit nichttraditioneller sexueller Orientierung einsetzt. Der Beschwerdeführer besuchte mehrere Seminare, verfasste Projektarbeiten und gründete eine Theatergruppe, die in szenischer Form auf Menschenrechtsverletzungen aufmerksam machte. Weiters widmete sich der Beschwerdeführer vor allem der Bekämpfung der Korruption, insbesondere im universitären Bereich, und war an der Aufdeckung eines Korruptionsskandales beteiligt, ohne dass sein Name preisgegeben wurde. Sein NGO-Engagement wurde jedoch von seinem Onkel sehr negativ aufgenommen.

 

Der Beschwerdeführer gelangte am 19.12.2012 auf dem Luftwege nach Österreich, ohne die Berechtigung zur Einreise aufzuweisen. Er stellte sogleich einen Antrag auf internationalen Schutz und wurde ihm sodann die Einreise gestattet. Der Beschwerdeführer besuchte in Österreich bereits mehrere Sprachkurse und setzt sich auch öffentlich für die Rechte der Homosexuellen ein, zB. anlässlich der Parade zum Christopher Street Day am 08.06.2013, und befindet sich nunmehr auch in psychotherapeutischer Behandlung bei dem Zentrum für interkulturelle Psychotherapie Ankyra in Innsbruck. Die Verwandten des Beschwerdeführers versuchen nach wie vor seinen Aufenthaltsort herauszufinden.

 

Zu Tschetschenien und einer allfälligen inländischen Fluchtalternative von Tschetschenen in der Russischen Föderation wird Folgendes festgestellt:

 

Die Tschetschenische Republik ist eines der 83 Subjekte der Russischen Föderation. Die sieben mehrheitlich moslemischen Republiken im Nordkaukasus wurden jüngst zu einem neuen Föderationsbezirk mit der Hauptstadt Pjatigorsk zusammengefasst. Die Tschetschenen sind bei weitem die größte der zahlreichen kleinen Ethnien im Nordkaukasus. Tschetschenien selbst ist (kriegsbedingt) eine monoethnische Einheit (93% der Bevölkerung sind Tschetschenen), fast alle sind islamischen Glaubens (sunnitische Richtung). Die Tschetschenen sind das älteste im Kaukasus ansässige Volk und nur mit den benachbarten Inguschen verwandt. Freiheit, Ehre und das Streben nach (staatlicher) Unabhängigkeit sind die höchsten Werte in der tschetschenischen Gesellschaft, Furcht zu zeigen gilt als äußerst unehrenhaft. Sehr wichtig ist auch der Respekt gegenüber älteren Personen und der Zusammenhalt in der (Groß-)Familie, den Taips (Clans) und Tukkums (Tribes). Eine große Bedeutung hat auch das Gewohnheitsrecht Adat. Es gibt sprachliche und mentalitätsmäßige Unterschiede zwischen den Flachland- und den Bergtschetschenen.

 

In Tschetschenien hatte es nach dem Ende der Sowjetunion zwei Kriege gegeben. 1994 erteilte der damalige russische Präsident Boris Jelzin den Befehl zur militärischen Intervention. Fünf Jahre später begann der zweite Tschetschenienkrieg, russische Bodentruppen besetzten Grenze und Territorium der Republik Tschetschenien. Die Hauptstadt Grosny wurde unter Beschuss genommen und bis Januar 2000 fast völlig zerstört. Beide Kriege haben bisher 160.000 Todesopfer gefordert. Zwar liefern sich tschetschenische Rebellen immer wieder kleinere Gefechte mit tschetschenischen und russischen Regierungstruppen, doch seit der Ermordung des früheren Präsidenten Tschetscheniens, Aslan Maschadow, durch den russischen Geheimdienst FSB im März 2005 hat der bewaffnete Widerstand an Bedeutung verloren.

 

Laut Ministerpräsident Putin ist mit der tschetschenischen Parlamentswahl am 27.11.2005 die Wiederherstellung der verfassungsmäßigen Ordnung in Tschetschenien abgeschlossen worden. Dabei errang die kremlnahe Partei "Einiges Russland" die Mehrheit der Sitze. Beobachter stellten zahlreiche Unregelmäßigkeiten fest. Hauptkritik an der Wahl war u.a. die anhaltende Gewaltausübung und der Druck der Miliz (sog. "Kadyrowzy") gegen Wahlleiter und Wahlvolk. Nach dem Rücktritt seines Vorgängers Alu Alchanow im Februar 2007 hat der bisherige Ministerpräsident Ramzan Kadyrow am 05.04.2007 das Amt des tschetschenischen Präsidenten angetreten. Er hat seine Macht in der Zwischenzeit gefestigt und zu einem Polizeistaat ausgebaut "(Kadyrow'scher Privatstaat" Uwe Halbach). Seit 2. September 2010 trägt Kadyrow den Titel "Oberhaupt" Tschetscheniens.

 

Bis Februar 2011 wurde Russland vom Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) in Strassburg bereits in 162 Fällen für schwerste Menschenrechtsverletzungen während des zweiten Tschetschenien-Kriegs verurteilt. Im Februar 2011 wurde Ramzan Kadyrow von Präsident Medwedew zu einer zweiten fünfjährigen Amtszeit als Republiksoberhaupt ernannt. Der von Russland unterstützte Präsident Ramzan Kadyrow verfolgt offiziell das Ziel Ruhe, Frieden und Stabilität in Tschetschenien zu garantieren und den Einwohnern seines Landes Zugang zu Wohnungen, Arbeit, Bildung, medizinischer Versorgung und Kultur zu bieten. Der russische Präsident Medwedew versucht Tschetschenien auch durch Wirtschaftshilfe zu "befrieden".

 

Neben der endgültigen Niederschlagung der Separatisten und der Wiederherstellung bewohnbarer Städte ist eine wichtige Komponente dieses Ziels die Wiederbelebung der tschetschenischen Traditionen und des tschetschenischen Nationalbewusstseins. Kadyrow fördert das Bekenntnis zum Islam, warnt allerdings vor extremistischen Strömungen wie dem Wahhabismus. Viele Moscheen wurden wiederaufgebaut, die Zentralmoschee von Grosny ist die größte in Russland. Jeder, der in Verdacht steht, ihn und seine Regierung zu kritisieren, wird verfolgt. Eine organisierte politische Opposition gibt es daher nicht. Die 16.000 Mann starken Einheiten Kadyrows sind für viele Menschenrechtsverletzungen in Tschetschenien bis heute verantwortlich.

 

(Tschetschenien, http://de.wikipedia.org/wiki/Tschetschenien, Zugriff 11.01.2011, Ramzan Kadyrow, http://de.wikipedia.org/wiki/Ramsan_Achmatowitsch_Kadyrow, Zugriff 11.01.2011, Schweizerische Flüchtlingshilfe, Nordkaukasus:

Sicherheits- und Menschenrechtslage vom 25.11.2009, Deutsches Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Russischen Föderation vom 07.03.2011, Analyse der Staatendokumentation, Russische Föderation/Tschetschenien, Adat-Blutrache vom 5.11.2009, Martin Malek, Understanding Chechen Culture, Der Standard vom 19.01.2010, Eurasisches Magazin vom 03.05.2010, Analyse der Staatendokumentation zur Situation der Frauen in Tschetschenien vom 08.04.2010, Schweizerische Flüchtlingshilfe, Nordkaukasus: Sicherheits- und Menschenrechtslage vom 12.09.2011, Seite 20, The Jamestown Foundation: Eurasia Daily Monitor -- Volume 8, Issue 42, 02.03.2011)

 

1. Allgemeine Situation

 

In Tschetschenien hat Oberhaupt Ramzan Kadyrow ein repressives, stark auf seine Person zugeschnittenes Regime etabliert, was die Betätigungsmöglichkeiten für die Zivilgesellschaft auf ein Minimum reduziert. Trotz deutlicher Wiederaufbauerfolge ist die ökonomische Lage in Tschetschenien desolat, es gibt kaum Beschäftigungsmöglichkeiten außerhalb des staatlichen Sektors. Die Anzahl sicherheitsrelevanter Vorfälle ging nach einem relativen Höchststand 2009 wieder zurück. Dennoch kam es 2010 und 2011 zu einigen ernsthaften Vorfällen. Im gesamten Nordkaukasus soll es nach Angaben des FSB 600 bis 700 aktive Rebellen geben.

 

(Deutsches Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Russischen Föderation vom 07.03.2011, Seite 21, Council of Europe - Commissioner for Human Rights: Report by Thomas Hammarberg Commissioner for Human Rights of the Council of Europe Following his visit to the Russian Federation from 12 to 21 May 2011, 6.9.2011)

 

Den Machthabern in Russland ist es gelungen, den Konflikt zu "tschetschenisieren", das heißt, es kommt nicht mehr zu offenen Kämpfen zwischen russischen Truppen und Rebellen, sondern zu Auseinandersetzungen zwischen der Miliz von Ramzan Kadyrow und anderen "pro-russischen" Kräften/Milizen - die sich zu einem erheblichen Teil aus früheren Rebellen zusammensetzen - einerseits sowie den verbliebenen, eher in der Defensive befindlichen Rebellen andererseits. Die bewaffnete Opposition wird mittlerweile von islamistischen Kräften dominiert, welche allerdings kaum Sympathien in der Bevölkerung genießen. Die bewaffneten Auseinandersetzungen konzentrierten sich auf entlegene Bergregionen.

 

Seit Jahresbeginn 2010 ist es in Tschetschenien jedoch zu einem spürbaren Rückgang von Rebellen-Aktivitäten gekommen. Diese werden durch Anti-Terror Operationen in den Gebirgsregionen massiv unter Druck gesetzt, was teilweise ein Ausweichen der Kämpfer in die Nachbarrepubliken Dagestan und Inguschetien bewirkt. Die Macht von Ramzan Kadyrow, ist in Tschetschenien unumstritten. Politische Beobachter meinen, Ersatz für Kadyrow zu finden wäre sehr schwierig, da er alle potentiellen Rivalen ausgeschalten habe, über privilegierte Beziehungen zum Kreml und zu Ministerpräsident Putin verfüge und sich großer Beliebtheit unter der Bevölkerung erfreue.

 

(Asylländerbericht Russland der Österreichischen Botschaft in Moskau, Stand 21.10.2010, Seite 15)

 

Der stetige Rückgang der föderalen Streitkräfte nach Ende der "heißen" Phase des zweiten Krieges ab 2002 kann als Zeichen für die verbesserte Sicherheitslage verstanden werden. Der Rückzug der russischen Truppen war nicht nur durch die Stabilisierung der Sicherheitslage, sondern auch durch die sukzessive Übergabe der Verantwortung auf lokale tschetschenische Streitkräfte, die erst in den letzten Jahren anwuchsen, möglich. Die andauernde Stationierung föderaler Sicherheitskräfte in Tschetschenien und der trotz der Beendigung der von 1999 bis 2009 dauernden Anti-Terror-Organisation (ATO) nicht erfolgte Abzug zeigen, dass die tschetschenischen Sicherheitskräfte weiterhin föderale Unterstützung im Kampf gegen die Rebellen benötigen. Andererseits kann auch davon ausgegangen werden, dass Moskau seine Truppen vermutlich aus mangelndem Vertrauen in Kadyrow weiterhin dort stationiert lässt. Die in den letzten Monaten ergriffenen Maßnahmen und die Wortwahl der Präsidenten Medwedew und Kadyrow sowie des Ministerpräsidenten Putin zeigen jedenfalls, dass man zur Bekämpfung des "Terrorismus" im Nordkaukasus insgesamt weiterhin eher auf militärische Gewalt setzt, und soziale und wirtschaftliche Maßnahmen eine untergeordnete Rolle spielen.

 

Medwedew fordert weiterhin "brutale Maßnahmen" gegen Terroristen und spricht von einem "schonungslosen Kampf" gegen die Rebellengruppen. Auch in Zusammenhang mit den Anschlägen auf die Moskauer U-Bahn im März 2010 oder den Anschlag auf ein Kaffeehaus in Pjatigorsk im August 2010 sprach sich Medwedew für die "Zerstörung" der Kämpfer aus. In Anbetracht der 2014 in Sotschi stattfindenden olympischen Winterspiele wird gemutmaßt, dass Medwedew meinen könnte, allein die Anwendung roher Gewalt könne die Region genügend stabilisieren um die Abhaltung der Spiele nicht zu gefährden.

 

(Analyse der Staatendokumentation, Russische Föderation: Sicherheitslage in Tschetschenien vom 12.10.2010, Seite 14)

 

Zusammenfassend ist auszuführen, dass nach Beendigung der Anti-Terror-Organisation 2009 temporär wieder vermehrt Anschläge in Tschetschenien zu verzeichnen waren. Die 2009 sprunghaft angestiegene Anzahl an Selbstmordanschlägen ist 2010 wieder stark eingebrochen. Der jüngste Angriff auf die Heimatstadt Kadyrows Zenteroi am 29. August 2010 lässt keine Zweifel, dass die tschetschenischen Rebellen auch zu taktisch herausfordernden Aktionen fähig sind. Von einer Stärkung der Widerstandsbewegung, die in der nächsten Zeit zu einem Ausbruch größerer Kamphandlungen führen könnte, ist jedoch nicht auszugehen.

 

Anders als im übrigen Nordkaukasus gingen die Angriffe bewaffneter Gruppen in Tschetschenien zurück.

 

(Amnesty International: Jahresbericht 2012 [Beobachtungszeitraum 2011], 24.5.2012)

 

2011 gab es in Tschetschenien mindestens 201 Opfer des bewaffneten Konflikts, darunter 95 Tote und 106 Verwundete. 2010 waren es noch 250 Opfer gewesen (127 Tote, 123 Verletzte). Damit liegt Tschetschenien betreffend Opferzahlen hinter Dagestan an zweiter Stelle der nordkaukasischen Republiken. Gemäß Polizeiberichten wurden 2011 in Tschetschenien 62 Mitglieder des bewaffneten Untergrunds getötet (2010: 80), weitere 159 vermeintliche Kämpfer wurden festgenommen (2010: 166). 21 Sicherheitskräfte kamen bei Schießereien und Explosionen 2011 ums leben (2010:

Quelle: Asylgerichtshof AsylGH, http://www.asylgh.gv.at
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