RS Vfgh 2013/6/29 U2465/2012

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Veröffentlicht am 29.06.2013
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Index

41/02 Staatsbürgerschaft, Pass- und Melderecht, Fremdenrecht, Asylrecht

Norm

BVG-Rassendiskriminierung ArtI Abs1
AsylG 2005 §5, §10
Dublin II-VO des Rates vom 18.02.03, EG 343/2003 Art6, Art13
EU-Grundrechte-Charta Art24 Abs2

Leitsatz

Verletzung im Recht auf Gleichbehandlung von Fremden untereinander durch Zurückweisung des Asylantrags eines minderjährigen marokkanischen Staatsangehörigen und Ausweisung nach Rumänien; Aufhebung der angefochtenen Entscheidung wegen (objektiver) Willkür nach einem die Dublin-II-VO auslegenden Urteil des EuGH und Klärung der Rechtsfrage der Zuständigkeit zur Prüfung des Asylantrags eines unbegleiteten Minderjährigen bei Antragstellung in mehreren Mitgliedstaaten

Rechtssatz

Der AsylGH darf sich für eine Entscheidung nach §5 Abs1 AsylG 2005 nicht allein auf die Zustimmung eines Mitgliedstaates zur Übernahme eines Asylwerbers berufen (vgl VfSlg 18752/2009).

Der Inhalt des Art6 der Dublin-II-VO ist in den Fällen, in denen der unbegleitete Minderjährige einen (einzigen) Asylantrag stellt, unzweifelhaft: Nur dann, wenn es in einem anderen Mitgliedstaat rechtmäßig aufhältige Familienangehörige gibt, ist dieser andere Mitgliedstaat zur Prüfung des Asylantrages zuständig, ansonsten hingegen ist jener Mitgliedstaat zuständig, in dem der Asylantrag gestellt wurde (und in dem sich der Minderjährige demnach auch befindet). Unklar war noch zum Zeitpunkt der Entscheidung des AsylGH, was aus dieser Regel abzuleiten ist, wenn sich - wie im vorliegenden Fall - zwar kein Familienangehöriger des Minderjährigen in einem anderen Mitgliedstaat befindet, der Minderjährige aber nicht nur im Staat seines gegenwärtigen Aufenthalts, sondern (davor) auch in einem anderen Mitgliedstaat einen Asylantrag gestellt hat.

Wie der EuGH in seinem Urteil vom 06.06.2013, Rs C-648/11, nunmehr entschieden hat, ist der Ausdruck "der Mitgliedstaat", in dem der Minderjährige seinen Asylantrag gestellt hat, nicht mit dem etwa in Art13 der Dublin-II-VO verwendeten Ausdruck "der erste Mitgliedstaat", in dem der Asylantrag gestellt wurde, gleichzusetzen.

Bei der Auslegung der Dublin-II-VO ist nach diesem Urteil nämlich zu berücksichtigen, dass unbegleitete Minderjährige im System der VO als besonders schutzwürdig behandelt werden, was etwa dadurch zum Ausdruck kommt, dass Art6 leg cit als erste und damit wichtigste Regelung zur Klärung der Zuständigkeitsfrage heranzuziehen ist und dass diese Bestimmung ausdrücklich auf das Interesse des Minderjährigen Bezug nimmt. Dieses Verständnis steht auch im Einklang mit Art24 Abs2 GRC (vgl ebenso ArtI zweiter Satz des BVG über die Rechte von Kindern, BGBl I 4/2011), wonach bei allen Kinder betreffenden Maßnahmen öffentlicher Stellen das Wohl des Kindes eine vorrangige Erwägung sein muss. Um das Verfahren zur Bestimmung des zuständigen Mitgliedstaates nicht länger als unbedingt nötig hinzuziehen und dem Wohl des Minderjährigen bestmöglich zu entsprechen, ist Art6 der Dublin-II-VO daher so zu verstehen, dass unbegleitete Minderjährige - solange noch keine rechtskräftige Entscheidung über einen Asylantrag in einem anderen Mitgliedstaat getroffen wurde - nicht in einen anderen Mitgliedstaat zu überstellen sind und jener Mitgliedstaat zur Prüfung des Asylantrages zuständig ist, in dem sich der Minderjährige aufhält, nachdem er dort einen Asylantrag gestellt hat.

Der VfGH hat nach Klärung der unionsrechtlichen Rechtsfrage durch den EuGH den nun offenkundig gewordenen Fehler in der rechtlichen Beurteilung des AsylGH aufzugreifen. Er hat nämlich die festgestellte Rechtswidrigkeit der Gesetzesanwendung im Sinne der effektiven Durchsetzung des Unionsrechts in jedem Stadium des Verfahrens zu beachten, und zwar auch dann, wenn die korrekte Auslegung des Unionsrechts erst im Zuge des Verfahrens vor dem VfGH offenkundig wurde (VfSlg 15448/1999).

Entscheidungstexte

Schlagworte

Asylrecht, Ausweisung, EU-Recht, Auslegung, Kinder, Behördenzuständigkeit

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:VFGH:2013:U2465.2012

Zuletzt aktualisiert am

08.08.2014
Quelle: Verfassungsgerichtshof VfGH, http://www.vfgh.gv.at
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