TE OGH 2009/6/16 10Ob33/09i

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Veröffentlicht am 16.06.2009
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Kopf

Der Oberste Gerichtshof hat durch den Senatspräsidenten Dr. Schinko als Vorsitzenden sowie die Hofräte Dr. Fellinger, Dr. Hoch, Hon.-Prof. Dr. Neumayr und Dr. Schramm als weitere Richter in der Pflegschaftssache der mj Jerome G*****, geboren am 7. Jänner 1994, Syra G*****, geboren am 8. Dezember 1995, Roy-Robby G*****, geboren am 12. November 1996, und Jill G*****, geboren am 8. August 1999, alle vertreten durch das Land Wien als Jugendwohlfahrtsträger (Magistrat der Stadt Wien, Amt für Jugend und Familie - Rechtsvertretung, Bezirk 10, 1100 Wien, Van der Nüllgasse 20), über den Revisionsrekurs der mj Jerome, Syra und Roy-Robby G***** gegen den Beschluss des Landesgerichts für Zivilrechtssachen Wien als Rekursgericht vom 17. März 2009, GZ 44 R 103/09m, 44 R 105/09f, 44 R 106/09b, 44 R 107/09z-U-22, womit infolge Rekurses des Bundes, vertreten durch den Präsidenten des Oberlandesgerichts Wien, der Beschluss des Bezirksgerichts Favoriten vom 12. Jänner 2009, GZ 2 P 100/08p-U-11a, teilweise abgeändert wurde, in nichtöffentlicher Sitzung den Beschluss

gefasst:

Spruch

Dem Revisionsrekurs wird Folge gegeben.

Der angefochtene Beschluss wird dahin abgeändert, dass der Beschluss des Erstgerichts in seinen Aussprüchen über die Gewährung von Unterhaltsvorschüssen in Bezug auf die minderjährigen Jerome, Syra und Roy-Robby G***** wiederhergestellt wird.

Text

Begründung:

Die mj Jerome, Syra, Roy-Robby und Jill G***** sind die (ehelichen) Kinder von Selina und Jörg G*****. Die Minderjährigen und ihre Eltern sind deutsche Staatsbürger. Die Ehe der Eltern wurde mit rechtskräftigem Beschluss des Bezirksgerichts Favoriten vom 27. 10. 2008 im Einvernehmen geschieden. Die Obsorge für die Minderjährigen steht weiterhin beiden Eltern zu. Der hauptsächliche Aufenthalt der Minderjährigen ist bei der Mutter. Der Vater ist aufgrund eines gerichtlichen Vergleichs vom 21. 8. 2008 zu einem monatlichen Unterhaltsbeitrag von jeweils 50 EUR für die Minderjährigen verpflichtet.

Mit Schriftsätzen vom 3. 12. 2008 beantragte der Jugendwohlfahrtsträger als Vertreter der Minderjährigen die Gewährung von Unterhaltsvorschüssen in Titelhöhe mit der Begründung, die Mutter sei in Österreich als Arbeitnehmerin beschäftigt und die Führung einer Exekution gegen den unterhaltspflichtigen Vater erscheine aussichtslos, weil sich dieser in Deutschland aufhalte und außerdem Arbeitslosengeld in Höhe Hartz IV erhalte.

Mit Beschluss vom 12. 1. 2009 gewährte das Erstgericht den Minderjährigen für den Zeitraum vom 1. 12. 2008 bis 30. 11. 2011 Unterhaltsvorschüsse gemäß §§ 3, 4 Z 1 UVG in einer monatlichen Höhe von jeweils 50 EUR. Es stützte seine Entscheidung darauf, dass die Mutter der Minderjährigen in Wien als „Wanderarbeitnehmerin" beschäftigt sei und die Führung einer Exekution gegen den Vater aussichtslos erscheine, weil sich dieser in Deutschland aufhalte und außerdem Arbeitslosengeld in Höhe Hartz IV erhalte. Das Rekursgericht gab dem Rekurs des Bundes teilweise Folge. Es bestätigte die Entscheidung des Erstgerichts im Umfang der Gewährung von Unterhaltsvorschüssen für die mj Jill G***** und wies das Begehren auf Gewährung von Unterhaltsvorschüssen für die mj Jerome, Syra und Roy-Robby G***** ab. Es vertrat in rechtlicher Hinsicht im Wesentlichen die Auffassung, die Gewährung von Unterhaltsvorschüssen knüpfe an die Rechtsstellung des Unterhaltsschuldners an, in dessen Haushalt das Kind nicht lebe und der den ihm auferlegten Geldunterhalt als Familienlast nicht tragen könne oder wolle. Der in Deutschland arbeitslose Vater der Minderjährigen als Geldunterhaltsschuldner unterliege nach den maßgeblichen Kollisionsnormen der VO 1408/71 allein deutschem Recht. Daher stehe den in einem anderen Mitgliedstaat wohnenden Minderjährigen als Familienangehörige des Geldunterhaltsschuldners ein Anspruch auf Gewährung von Familienleistungen aus Deutschland im Sinn der VO 1408/71 zu. Es bestehe jedoch nach dem deutschen Unterhaltsvorschussgesetz ein Anspruch auf Zahlung von Unterhaltsvorschüssen nur bis zur Vollendung des 12. Lebensjahres des Kindes. Im Hinblick darauf, dass die Minderjährigen Jerome, Syra und Roy-Robby diese Altersgrenze bereits überschritten haben, müsse Deutschland im vorliegenden Fall keine Leistungen nach seinem Unterhaltsvorschussgesetz als Familienleistungen im Sinne der VO 1408/71 nach Österreich exportieren. Damit erweise sich die Gewährung von Unterhaltsvorschüssen an diese drei genannten Minderjährigen im Ergebnis als berechtigt, weshalb dem Rekurs in diesem Umfang ein Erfolg zu versagen gewesen sei. Für die mj Jill bestehe hingegen ein Anspruch auf eine Familienleistung nach dem deutschen Unterhaltsvorschussgesetz, weshalb Deutschland diese Leistung nach Österreich exportieren müsse. Der Rekurs erweise sich daher in diesem Umfang als berechtigt, sodass der Antrag der mj Jill auf Gewährung von Unterhaltsvorschüssen abzuweisen gewesen sei.

Das Rekursgericht entschied trotz dieser Begründung, wie bereits erwähnt, spruchgemäß jedoch dahin, dass im Ergebnis dem Antrag auf Gewährung von Unterhaltsvorschüssen für die mj Jill stattgegeben und der Antrag hinsichtlich der mj Jerome, Syra und Roy-Robby abgewiesen wurde. Es sprach aus, dass der ordentliche Revisionsrekurs gegen seine Entscheidung zulässig sei, weil eine Verweisung der Minderjährigen auf deutsche Unterhaltsvorschüsse im Hinblick auf das Diskriminierungsverbot des Art 3 der VO 1408/71 unzulässig erscheine. Gegen diese Entscheidung richtet sich der Revisionsrekurs der mj Jerome, Syra und Roy-Robby G***** wegen unrichtiger rechtlicher Beurteilung mit dem Antrag, den angefochtenen Beschluss im Sinne der Wiederherstellung der antragstattgebenden Entscheidung des Erstgerichts abzuändern.

Revisionsrekursbeantwortungen wurden nicht erstattet.

Rechtliche Beurteilung

Der Revisionsrekurs ist zulässig, weil das Rekursgericht von der Rechtsprechung des erkennenden Senats abgewichen ist; er ist auch berechtigt.

Im Revisionsrekurs wird geltend gemacht, dass der seit 1. 1. 2008 als Fachsenat für Rechtssachen nach dem UVG zuständige 10. Senat des Obersten Gerichtshofs in Ablehnung der Vorjudikatur einiger anderer Senate des Obersten Gerichtshofs die Auffassung vertrete, dass die Angehörigeneigenschaft im Sinn der VO 1408/71 auch durch die in Österreich lebende Mutter der Minderjährigen vermittelt werden könne. Im Übrigen widerspreche die Entscheidung des Rekursgerichts auch Art 12 EGV (Verbot der Diskriminierung aufgrund der Staatsbürgerschaft), weil einem Kind mit österreichischer Staatsbürgerschaft das UVG unabhängig davon, ob die Eltern einer Beschäftigung nachgehen, Ansprüche auf Unterhaltsvorschüsse gewähre.

Der erkennende Senat, der nach der Geschäftsverteilung des Obersten Gerichtshofs seit 1. 1. 2008 als Fachsenat für Rechtssachen nach dem UVG (ausschließlich) zuständig ist, ist jüngst in mehreren Fällen (vgl RIS-Justiz RS0124515) von der in den Entscheidungen 4 Ob 4/07b, 6 Ob 121/07y und 1 Ob 267/07g (vgl RIS-Justiz RS0122131) vertretenen Ansicht abgegangen, dass der Anspruch auf Unterhaltsvorschüsse als Familienleistungen im Sinne der Wanderarbeitnehmerverordnung 1408/71 daran anknüpfe, in welches System der sozialen Sicherheit der Geldunterhaltsschuldner eingebunden sei.

Die Rückkehr zur früheren Rechtsprechung (4 Ob 117/02p = SZ 2002/77;

9 Ob 157/02g = RIS-Justiz RS0115509 [T3] ua) wurde in den

Entscheidungen 10 Ob 75/08i, 10 Ob 78/08f, 10 Ob 83/08s und 10 Ob 87/08d (= iFamZ 2009/102, 144 [Neumayr]) je vom 27. 1. 2009, ausführlich begründet und kann folgendermaßen zusammengefasst werden:

1.) Für die Anspruchsberechtigung nach der Wanderarbeitnehmer-VO 1408/71 (im Folgenden: „VO") ist neben der Familienangehörigen-Eigenschaft in erster Linie entscheidend, ob ein Elternteil des anspruchsberechtigten Kindes in eine - in Bezug auf Familienleistungen - von der VO erfasste Gruppe (tätige oder arbeitslose Arbeitnehmer, Selbständige) fällt.

2.) Der weiters als Grundvoraussetzung für die Anwendung des Gemeinschaftsrechts zu fordernde gemeinschaftliche, grenzüberschreitende Bezug setzt voraus, dass Personen, Sachverhalte oder Begehren eine rechtliche Beziehung zu einem anderen Mitgliedstaat aufweisen. Diese Umstände können in der Staatsangehörigkeit, dem Wohn- oder Beschäftigungsort, dem Ort eines die Leistungspflicht auslösenden Ereignisses, vormaliger Arbeitstätigkeit unter dem Recht eines anderen Mitgliedstaats oder ähnlichen Merkmalen gesehen werden. Dieser notwendige grenzüberschreitende Bezug kann daher nicht nur dadurch zustandekommen, dass der Unterhaltsschuldner von der Freizügigkeit als tätiger oder arbeitsloser Arbeitnehmer oder Selbständiger Gebrauch macht oder Grenzgänger ist, sondern auch dadurch, dass dies der Elternteil tut, bei dem sich das Kind aufhält.

Im vorliegenden Fall besteht der grenzüberschreitende Gesichtspunkt darin, dass die Mutter, bei der sich die Antragsteller aufhalten, eine deutsche Staatsangehörige ist, die in Österreich arbeitet, somit von ihrem Recht auf Freizügigkeit Gebrauch gemacht hat.

3.) Schließlich ist zu prüfen, ob auf die Antragsteller nach den Koordinierungsregeln der VO das österreichische Unterhaltsvorschussgesetz oder (im Hinblick auf den Wohnort des Geldunterhaltsschuldners in Deutschland) das deutsche Unterhaltsvorschussgesetz anzuwenden ist.

3.1. Abgesehen von hier nicht relevanten Ausnahmen unterliegen Personen, für die die VO gilt, den Rechtsvorschriften nur eines Mitgliedstaats (Art 13 Abs 1 der VO); dieser ist nach Titel II der VO zu bestimmen. Eine Person, die im Gebiet eines Mitgliedstaats abhängig beschäftigt ist, unterliegt den Rechtsvorschriften dieses Staats (Beschäftigungslandprinzip, Art 13 Abs 2 lit a der VO).

3.2. Grundsätzlich ist das Recht des Mitgliedstaats anwendbar, in dem der Arbeitnehmer oder Selbständige beschäftigt ist, der die Anwendung der VO begründet. Eine Einschränkung der Anknüpfung ausschließlich an die Stellung des Geldunterhaltsschuldners ist den Koordinierungsregelungen der VO nicht zu entnehmen. Familienleistungen werden daher in der Regel nach den Vorschriften des Mitgliedstaats gewährt, in dem derjenige Arbeitnehmer bzw Selbständige beschäftigt ist, durch den der Anspruch auf Familienleistungen vermittelt wird.

3.3. Daraus ist zu folgern, dass auch dann, wenn der geldunterhaltspflichtige Elternteil den Anspruch auf Unterhaltsvorschüsse nach dem Recht seines Beschäftigungsstaats vermittelt, nicht ausgeschlossen ist, dass auch ein Anspruch auf Vorschüsse in einem anderen Mitgliedstaat durch den betreuenden Elternteil vermittelt wird. Für den Fall, dass für ein- und dasselbe Kind in mehreren Mitgliedstaaten Anspruch auf Familienleistungen besteht, ist für Familienleistungen, die - wie der österreichische Unterhaltsvorschuss - nicht von einer Versicherung, Beschäftigung oder selbständigen Tätigkeit abhängig sind, die Prioritätenregel des Art 10 der Durchführungs-VO 574/72 maßgebend. Es ist dabei im vorliegenden Fall die Prioritätsregelung des Art 10 Abs 1 lit b sublit i der VO 574/72 heranzuziehen: Unterliegen die Eltern gemäß Art 13 ff VO 1408/71 den Rechtsvorschriften verschiedener Staaten (hier: der Vater unterliegt den deutschen Rechtsvorschriften, die Mutter unterliegt den österreichischen Rechtsvorschriften), so ist demnach für die Familienleistungen vorrangig der Wohnsitzstaat, in welchem sich die Familie mit dem Kind ständig aufhält, zuständig, während dem anderen, nachrangig zuständigen Staat Ausgleichszahlungen gebühren, wenn die Familienleistungen des vorrangig zuständigen Staats niedriger sind. Auch wenn daher im vorliegenden Fall der Vater der Minderjährigen in Deutschland Arbeitslosengeld bezieht, ist nach zutreffender Rechtsansicht der Revisionsrekurswerber Österreich, wo die Mutter der Minderjährigen erwerbstätig ist und die Minderjährigen leben, für die Gewährung des Unterhaltsvorschusses vorrangig leistungszuständig. Ob die Minderjährigen in Deutschland ebenfalls Anspruch auf Unterhaltsvorschüsse hätten, ist im vorliegenden Fall im Hinblick auf die dargestellte Rechtslage daher nicht entscheidungsrelevant (vgl 10 Ob 18/09h mwN ua).

Das Erstgericht hat die beantragten Vorschüsse aufgrund der dargelegten Erwägungen somit im Ergebnis zu Recht gewährt. Es war daher in Stattgebung des Revisionsrekurses der Minderjährigen Jerome, Syra und Roy-Robby spruchgemäß zu entscheiden.

Anmerkung

E9109910Ob33.09i

Schlagworte

Kennung XPUBLDiese Entscheidung wurde veröffentlicht inJus-Extra OGH-Z 4768XPUBLEND

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:OGH0002:2009:0100OB00033.09I.0616.000

Zuletzt aktualisiert am

24.03.2010
Quelle: Oberster Gerichtshof (und OLG, LG, BG) OGH, http://www.ogh.gv.at
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