TE OGH 2009/1/27 10Ob78/08f

JUSLINE Entscheidung

Veröffentlicht am 27.01.2009
beobachten
merken

Kopf

Der Oberste Gerichtshof hat durch den Senatspräsidenten Dr. Schinko als Vorsitzenden sowie die Hofräte Dr. Fellinger, Dr. Hoch, Hon.-Prof. Dr. Neumayr und Dr. Schramm als weitere Richter in der Pflegschaftssache des mj Vladimir Emilov K*****, geboren am 26. September 1991, vertreten durch das Land Niederösterreich als Jugendwohlfahrtsträger (Bezirkshauptmannschaft Scheibbs, 3270 Scheibbs, Gürtel 27), infolge Revisionsrekurses des Minderjährigen gegen den Beschluss des Landesgerichts St. Pölten als Rekursgericht vom 4. Juni 2008, GZ 23 R 166/08x-U-61, womit über Rekurs des Bundes, vertreten durch den Präsidenten des Oberlandesgerichts Wien, der Beschluss des Bezirksgerichts Scheibbs vom 21. April 2008, GZ 4 P 160/04k-U-51, in der Fassung des Beschlusses vom 28. April 2008, GZ 4 P 160/04k-U-53, abgeändert wurde, in nichtöffentlicher Sitzung den Beschluss

gefasst:

Spruch

Dem Revisionsrekurs wird Folge gegeben.

Der angefochtene Beschluss wird dahin abgeändert, dass der Beschluss des Erstgerichts in der berichtigten Fassung wiederhergestellt wird.

Text

Begründung:

Der Minderjährige ist wie seine Mutter deutscher Staatsangehöriger. Sie leben im gemeinsamen Haushalt in Österreich. Hier ist die Mutter nach der Aktenlage selbständig erwerbstätig.

Die Ehe der Eltern des Minderjährigen wurde 1994 geschieden. Der Vater ist bulgarischer Staatsbürger und in Bulgarien als Programmierer unselbständig beschäftigt.

Der Vater ist aufgrund des Beschlusses des Erstgerichts vom 25. 2. 2008 zu einer monatlichen Unterhaltsleistung von 205 EUR seit 1. 4. 2007 verpflichtet.

Am 26. 3. 2008 beantragte der durch das Land Niederösterreich als Jugendwohlfahrtsträger vertretene Minderjährige Unterhaltsvorschuss nach §§ 3 und 4 Z 1 UVG in Titelhöhe. Die Führung einer Exekution scheine aussichtslos, weil weder ein Drittschuldner noch eine selbständige, sozialversicherungspflichtige Erwerbstätigkeit des Vaters habe festgestellt werden können.

Das Erstgericht gewährte Unterhaltsvorschuss in der beantragten Höhe für den Zeitraum vom 1. 4. 2008 bis 30. 9. 2009 gemäß §§ 3 und 4 Z 1

UVG.

Das Rekursgericht änderte diesen Beschluss dahin ab, dass es den Antrag auf Gewährung von Unterhaltsvorschüssen abwies. Nach der jüngeren Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofs (4 Ob 4/07h; 6 Ob 121/07y und 1 Ob 267/07g) knüpfe der Anspruch auf Unterhaltsvorschüsse als Familienleistungen im Sinn der Wanderarbeitnehmerverordnung an die Rechtsstellung des Unterhaltsschuldners an, in dessen Haushalt das Kind nicht lebe und der den ihm auferlegten Geldunterhalt als Familienlast nicht tragen könne oder wolle. Nach den Kollisionsregeln dieser Verordnung sei für das Bestehen eines solchen Anspruchs jenes System sozialer Sicherheit maßgebend, in das der Geldunterhaltsschuldner eingebunden sei. Danach habe ein im Inland aufhältiges Kind als Staatsbürger eines anderen Mitgliedstaats und Familienangehöriger eines in einem anderen Mitgliedstaat berufstätigen und allein dort in das System sozialer Sicherheit eingebundenen Geldunterhaltsschuldners keinen Anspruch auf Gewährung österreichischer Unterhaltsvorschüsse.

Das Rekursgericht sprach aus, dass der ordentliche Revisionsrekurs gemäß § 62 Abs 1 AußStrG zulässig sei, weil die zitierte jüngere Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofs von der früheren Rechtsprechung in vergleichbaren Fällen abweiche.

Gegen diese Entscheidung richtet sich der Revisionsrekurs des Minderjährigen mit dem Antrag auf Wiederherstellung des Beschlusses des Erstgerichts.

Der Präsident des Oberlandesgerichts Wien als Vertreter des Bundes erstattete eine Revisionsrekursbeantwortung. Der Vater als Unterhaltsschuldner und die Mutter als Zahlungsempfängerin ließen den Revisionsrekurs unbeantwortet.

Rechtliche Beurteilung

Der Revisionsrekurs ist aus dem vom Rekursgericht genannten Grund zulässig und auch berechtigt.

Der Revisionsrekurswerber macht im Wesentlichen geltend, er falle in den persönlichen Geltungsbereich der Wanderarbeitnehmerverordnung, weil er zumindest einen Elternteil habe, der tätiger oder arbeitsloser Arbeitnehmer oder Selbständiger im Sinne des Art 2 Abs 1 dieser Verordnung sei.

Der erkennende Senat, der nach der Geschäftsverteilung des Obersten Gerichtshofs seit 1. 1. 2008 als Fachsenat für Rechtssachen nach dem UVG (ausschließlich) zuständig ist, hat zu dem vom Antragsteller (allein) auf die Bestimmungen der Verordnung (EWG) Nr 1408/71 in der geltenden Fassung (im Folgenden: VO 1408/71) gestützten Anspruch Unterhaltsvorschuss Folgendes erwogen:

1. Nach § 2 Abs 1 UVG haben minderjährige Kinder mit gewöhnlichem Aufenthalt in Österreich Anspruch auf Unterhaltsvorschuss, wenn sie entweder österreichische Staatsbürger oder staatenlos sind.

2. Nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaften (EuGH) ist eine Leistung wie der Unterhaltsvorschuss nach dem österreichischen UVG eine Familienleistung im Sinn des Art 4 Abs 1 lit h der VO 1408/71 (Urteil vom 15. 3. 2001, Rs C-85/99, Offermanns, Slg 2001, I-2261; Urteil vom 5. 2. 2002, Rs C-255/99, Humer, Slg 2002, I-1205; Urteil vom 20. 1. 2005, Rs C-302/02, Effing, Slg 2005, I-553).

3. In den persönlichen Geltungsbereich dieser Verordnung fallen „Arbeitnehmer und Selbständige ..., für welche die Rechtsvorschriften eines oder mehrerer Mitgliedstaaten gelten oder galten, soweit sie Staatsangehörige eines Mitgliedstaates sind ..., sowie für deren Familienangehörige ..." (Art 2 Abs 1 der VO 1408/71).

4. Nach Art 3 Abs 1 der VO 1408/71 haben die Personen, die im Gebiet eines Mitgliedstaats wohnen und für die diese Verordnung gilt, die gleichen Rechte und Pflichten aufgrund der Rechtsvorschriften eines Mitgliedstaats wie die Staatsangehörigen dieses Staats, soweit besondere Bestimmungen dieser Verordnung nichts anderes vorsehen.

5. Der Begriff „Familienangehöriger" wird in Art 1 lit f Z i der VO 1408/71 definiert als jede Person, die in den Rechtsvorschriften, nach denen die Leistungen gewährt werden, als Familienangehöriger bestimmt, anerkannt oder als Haushaltsangehöriger bezeichnet wird. Da nach der Rechtsprechung des EuGH die Unterscheidung zwischen eigenen und abgeleiteten Rechten grundsätzlich nicht für Familienleistungen gilt (vgl Urteil vom 15. 3. 2001, Rs C-85/99, Offermanns, Slg 2001, I-2261 Rz 34 mwN), kommt es für den unterhaltsberechtigten Antragsteller, um in den persönlichen Anwendungsbereich der VO 1408/71 zu fallen, nur noch darauf an, ob er seine Stellung von einem Elternteil ableiten kann (vgl Schlussanträge des Generalanwalts Alber vom 28. 9. 2000, Rs C-85/99, Offermanns Slg 2001, I-2261 Rz 55). Der persönliche Anwendungsbereich nach Art 2 der VO 1408/71 ist daher eröffnet, wenn der Antragsteller als Familienangehöriger eines Arbeitnehmers oder Selbständigen anzusehen ist. Nach der Rechtsprechung des EuGH und der ständigen Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofs fällt somit eine Person, die einen Elternteil hat, der tätiger oder arbeitsloser Arbeitnehmer oder Selbständiger im Sinn des Art 2 Abs 1 iVm Art 1 Abs 1 lit f Z i der VO 1408/71 ist, in den persönlichen Geltungsbereich dieser Verordnung (EuGH, Urteil vom 5. 2. 2002, Rs C-255/99, Humer, Slg 2002, I-1205 Rz 54; RIS-Justiz RS0116311).

5.1. Dieser Grundsatz wurde auch in der vom Rekursgericht zitierten jüngeren Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofs (4 Ob 4/07b; 6 Ob 121/07y) ausdrücklich aufrecht erhalten.

5.2. Der Begriff „Arbeitnehmer" und „Selbständiger" wird in Art 1 lit a der VO 1408/71 definiert. Nach dessen Z i ist „Arbeitnehmer" oder „Selbständiger" jede Person, die gegen ein Risiko oder gegen mehrere Risiken, die von den Zweigen eines Systems der sozialen Sicherheit für Arbeitnehmer oder Selbständige oder einem Sondersystem für Beamte erfasst werden, pflichtversichert oder freiwillig weiter versichert ist.

5.3. Im Anlassfall ist nicht strittig, dass die Mutter des Antragstellers, mit der er in häuslicher Gemeinschaft lebt, selbständig erwerbstätig im Sinn dieser Begriffsbestimmung ist. Als Erwerbstätige, die einem Zweig der sozialen Sicherheit im Sinn des Art 4 der VO 1408/71 untersteht, fällt sie in den persönlichen Anwendungsbereich der VO 1408/71 und damit auch der Antragsteller als ihr Kind (vgl Schlussanträge des Generalanwalts Alber vom 28. 9. 2000, Rs C-85/99, Offermanns, Slg 2001, I-2261 Rz 56 f). Es ist daher im vorliegenden Fall für die Frage des persönlichen Geltungsbereichs der VO 1408/71 nicht mehr entscheidend, ob auch der unterhaltspflichtige Vater des Antragstellers, der in Bulgarien unselbständig erwerbstätig ist, seinem Sohn den Status eines Familienangehörigen im Sinn der VO 1408/71 vermittelt. Die Frage, ob der Antragsteller seine Rechtsstellung auch von seinem Vater ableiten könnte, muss daher in diesem Zusammenhang nicht mehr geprüft werden.

6. Für die Anspruchsberechtigung nach der VO 1408/71 ist daher neben der Familienangehörigen-Eigenschaft in erste Linie entscheidend, ob ein Elternteil des anspruchsberechtigten Kindes in eine - in Bezug auf Familienleistungen - von der VO 1408/71 erfasste Gruppe (Arbeitnehmer, Selbständige, Arbeitslose, Studenten) fällt (vgl Neumayr in Schwimann ABGB3 § 1 UVG Rz 23). Diese Frage ist im Anlassfall im Hinblick auf die unbestritten vorliegende Selbständigeneigenschaft der Mutter des Antragstellers zu bejahen.

7. Die Bestimmungen des EG-Vertrags über die Freizügigkeit und die zur Durchführung dieser Bestimmungen erlassenen Maßnahmen sind - wie der EuGH ausgesprochen hat - nicht auf Tätigkeiten anwendbar, die keine Berührung mit irgendeinem der Sachverhalte aufweisen, auf die das Gemeinschaftsrecht abstellt, und die mit keinem relevanten Element über die Grenzen eines Mitgliedstaats hinausweisen (Urteil vom 11. 10. 2001, Rs C-95-98/99 und C-180/99, Khalil ua, Slg 2001, I-7413 Rz 69 mwN). Mit Bezug auf die soziale Sicherheit hat der EuGH entschieden, dass Art 51 EWG-Vertrag (jetzt Art 42 EG) und die VO 1408/71, insbesondere ihr Art 3 (Gleichbehandlung), nicht für Sachverhalte gelten, die mit keinem Element über die Grenzen eines Mitgliedstaats hinausweisen (Urteil vom 11. 10. 2001, Rs C-95-98/99 und C-180/99, Khalil ua, Slg 2001, I-7413 Rz 70 mwN).

7.1. In diesem Sinn fordert auch die Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofs als Voraussetzung der Anwendung der VO 1408/71 das Vorliegen eines grenzüberschreitenden Sachverhalts. Dieser gemeinschaftliche, grenzüberschreitende Bezug setzt voraus, dass Personen, Sachverhalte oder Begehren eine rechtliche Beziehung zu einem anderen Mitgliedstaat aufweisen. Diese Umstände können in der Staatsangehörigkeit, dem Wohn- oder Beschäftigungsort, dem Ort eines die Leistungspflicht auslösenden Ereignisses, vormaliger Arbeitstätigkeit unter dem Recht eines anderen Mitgliedstaats oder ähnlichen Merkmalen gesehen werden (10 Ob 36/08d mwN; 10 Ob 60/03a; vgl Eichenhofer in Fuchs, Europäisches Sozialrecht4 Art 2 VO 1408/71 Rz 6 und 14 mwN).

7.2. Dieser notwendige grenzüberschreitende Bezug kann daher nicht nur dadurch zustandekommen, dass der Unterhaltsschuldner von der Freizügigkeit als tätiger oder arbeitsloser Arbeitnehmer oder Selbständiger Gebrauch macht oder Grenzgänger ist, sondern auch dadurch, dass dies der Elternteil tut, bei dem sich das Kind aufhält (Neumayr aaO § 1 UVG Rz 20 mwN).

7.3. Der grenzüberschreitende Gesichtspunkt besteht im Anlassfall darin, dass die Mutter, bei der sich der Antragsteller aufhält, eine deutsche Staatsangehörige ist, die in Österreich (auch) selbständig erwerbstätig ist, somit von ihrem Recht auf Freizügigkeit Gebrauch gemacht hat.

8. Nach all dem ist festzuhalten, dass der zur Beurteilung stehende Sachverhalt sowohl in sachlicher als auch in persönlicher Hinsicht der VO 1408/71 unterliegt.

9. Das in Art 3 Abs 1 VO 1408/71 normierte Gleichbehandlungsgebot steht unter dem Vorbehalt „soweit besondere Bestimmungen dieser Verordnung nichts anderes vorsehen". Es führt daher nicht zu einem Verbot einer unterschiedlichen Behandlung, die sich gegebenenfalls aus Unterschieden der aufgrund von Kollisionsnormen wie Art 13 Abs 2 der VO 1408/71 anzuwendenden nationalen Rechtsvorschriften über Familienleistungen ergibt (EuGH Urteil vom 20. 1. 2005, Rs C-302/02, Effing, Slg 2005, I-553 Rz 51; 4 Ob 4/07b).

10. Die Zuständigkeit eines Mitgliedstaats für Familienleistungen richtet sich grundsätzlich nach den Kollisionsnormen der Art 13 ff der VO 1408/71. Ziel dieser Bestimmungen ist es, dass jede Person einer einzigen bestimmten Sozialrechtsordnung unterliegt; es sollen daher durch die Verordnung weder Versicherungslücken noch Doppelversicherungen oder Doppelleistungen entstehen (vgl Steinmeyer in Fuchs, Europäisches Sozialrecht4 Art 13 VO 1408/71 Rz 1).

10.1. Gemäß Art 13 Abs 1 der VO 1408/71 unterliegen Personen, für die die Verordnung gilt, abgesehen von hier nicht in Betracht kommenden Ausnahmen, den Rechtsvorschriften nur eines Mitgliedstaats; dieser ist nach Titel II der Verordnung zu bestimmen. Gemäß Art 13 Abs 1 lit a der VO 1408/71 unterliegt eine Person, die im Gebiet eines Mitgliedstaats abhängig beschäftigt ist, den Rechtsvorschriften dieses Staats und zwar auch dann, wenn sie im Gebiet eines anderen Mitgliedstaats wohnt. Gemäß Art 73 der VO 1408/71 hat ein Arbeitnehmer oder ein Selbständiger, der den Rechtsvorschriften eines Mitgliedstaats unterliegt, für seine Familienangehörigen, die im Gebiet eines anderen Mitgliedstaats wohnen, Anspruch auf Familienleistungen nach den Rechtsvorschriften des ersten Staats (Beschäftigungsstaat), als ob diese Familienangehörigen im Gebiet dieses Staats wohnten. Dabei werden Familienleistungen gemäß Art 75 Abs 1 der VO 1408/71 in dem in Art 73 dieser Verordnung genannten Fall vom zuständigen Träger des Staats gewährt, dessen Rechtsvorschriften für den Arbeitnehmer oder den Selbständigen gelten. Sie werden nach den für diesen Träger geltenden Bestimmungen unabhängig davon gezahlt, ob die natürliche oder juristische Person, an die sie zu zahlen sind, im Gebiet des zuständigen Staats oder in dem eines anderen Mitgliedstaats wohnt oder sich dort aufhält.

10.2. In der jüngeren Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofs (vgl 4 Ob 4/07b; 6 Ob 121/07y; 1 Ob 267/07g) wurde die Ansicht vertreten, dass der Anspruch auf Unterhaltsvorschüsse als Familienleistungen im Sinn der VO 1408/71 an die Rechtsstellung des Unterhaltsschuldners anknüpfe, in dessen Haushalt das Kind nicht lebt und der den ihm auferlegten Geldunterhalt als Familienlast nicht tragen kann oder will. Es sei daher für das Bestehen eines solchen Anspruchs nach den Kollisionsregeln der VO 1408/71 (nur) jenes System sozialer Sicherheit maßgebend, in das der Geldunterhaltsschuldner auch eingebunden sei.

10.3. Dieser Ansicht, die im Widerspruch zur früheren Rechtsprechung des Obersten Gerichtshof in vergleichbaren Fällen (4 Ob 117/07p = SZ 2002/77; 9 Ob 157/02g ua) steht, vermag sich der erkennende Senat nicht anzuschließen. Es ist nach den zitierten Kollisionsnormen der VO 1408/71 vielmehr davon auszugehen, dass grundsätzlich das Recht des Mitgliedstaats anwendbar ist, in dem der Arbeitnehmer oder Selbständige beschäftigt ist, der die Anwendung der VO 1408/71 begründet. Eine solche Anknüpfung an den versicherungspflichtigen Arbeitnehmer oder Selbständigen ist im Rahmen der VO 1408/71 grundsätzlich auch sachlich gerechtfertigt, weil der überwiegende Teil der erfassten Sozialleistungen auf Versicherungssystemen beruht (vgl Schlussanträge der Generalanwältin Kokott vom 25. 5. 2004, Rs C-302/02, Effing, Slg 2005, I-553 Rz 32 f). Einer Beschränkung der Anknüpfung ausschließlich an die Stellung des Vaters als Geldunterhaltsschuldner ist den zitierten Koordinierungsregelungen nicht zu entnehmen und würde überdies auch mit den oben dargelegten Ausführungen, wonach sowohl die Rechtsstellung des Vaters als Arbeitnehmer oder Selbständiger als auch jene der Mutter als Selbständige oder Arbeitnehmerin im Sinn der VO 1408/71 die Anwendung dieser Verordnung zu begründen vermag, im Widerspruch stehen. Familienleistungen werden daher in der Regel nach den Vorschriften des Mitgliedstaats gewährt, in dem der Arbeitnehmer oder Selbständige beschäftigt ist, durch den der Anspruch auf Familienleistungen vermittelt wird (Neumayr aaO § 1 UVG Rz 39).

10. 4. Im Anlassfall unterliegt die nach dem Akteninhalt nur in Österreich selbständig tätige Mutter des Antragstellers nach den dargestellten Kollisionsnormen allein österreichischem Recht. Davon ausgehend hat der Antragsteller einen Anspruch auf Gewährung von Unterhaltsvorschüssen nach dem österreichischen UVG. In den vom Anwendungsbereich der VO 1408/71 erfassten Fällen ist - entgegen § 2 Abs 1 UVG - die österreichische Staatsbürgerschaft des antragstellenden minderjährigen Kindes nicht Anspruchsvoraussetzung (10 Ob 36/08d mwN).

11. An diesem Ergebnis würde sich auch nichts ändern, wenn der Vater des Antragstellers als Arbeitnehmer im Sinn der VO 1408/71 anzusehen wäre und der Antragsteller im Hinblick auf Art 73 dieser Verordnung auch nach bulgarischem Recht Anspruch auf eine dem Unterhaltsvorschuss vergleichbare Leistung hätte. Für den Fall, dass für ein und dasselbe Kind in mehreren Mitgliedstaaten Anspruch auf Familienleistungen besteht, sind die Prioritätsregeln des Art 76 der VO 1408/71 sowie des Art 10 der VO (EWG) Nr 574/72 (im Folgenden: VO 574/72) vorgesehen. In Art 76 Abs 1 der VO 1408/71 ist der allgemeine Grundsatz festgelegt, dass im Fall einer Kumulierung von Familienleistungen aufgrund einer beruflichen Tätigkeit aus dem Wohnsitzstaat der Familienangehörigen und von Familienleistungen aus dem Beschäftigungsstaat, in dem die Berufstätigkeit ausgeübt wird, die Familienleistungen des Beschäftigungsstaats bis zur Höhe der Familienleistungen des Wohnsitzstaats ausgesetzt werden. Damit besteht eine Priorität der Familienleistungen des Wohnsitzstaats der Familienangehörigen für den Fall, dass Familienleistungen nach den Rechtsvorschriften des Wohnsitzstaats von einer Berufstätigkeit abhängen (Igl in Fuchs, Europäisches Sozialrecht4 Art 76 VO 1408/71 Rz 3).

11. 1. Art 76 Abs 1 der VO 1408/71 wäre in Bezug auf den österreichischen Unterhaltsvorschuss aber nicht einschlägig, weil nach österreichischem Recht der Anspruch auf Unterhaltsvorschuss unabhängig von einer Erwerbstätigkeit gebührt. Es wäre daher die Prioritätsregelung in Form des Wohnortstaatsprinzips des Art 10 Abs 1 lit b sublit i VO 574/72 heranzuziehen: Unterliegen die Eltern den Rechtsvorschriften verschiedener Staaten (Art 13 ff VO 1408/71), so ist für die Familienleistungen vorrangig jener der beiden Staaten zuständig, in welchem sich die Familie mit dem Kind ständig aufhält (Wohnortstaatsprinzip). Im anderen, nachrangig zuständigen Staat gebühren Auszahlungen, wenn die Familienleistungen des vorrangig zuständigen Staats niedriger sind (vgl Holzmann-Windhofer, Kinderbetreuungsgeld für EG-Wanderarbeitnehmer, SozSi 2008, 16 ff [25] mwN). Selbst wenn daher im Anlassfall der Vater dem Antragsteller einen Anspruch auf eine Familienleistung nach bulgarischem Recht vermitteln würde, wäre Österreich, wo die Mutter des Antragstellers erwerbstätig ist und der Antragsteller mit ihr lebt, für die Gewährung des Unterhaltsvorschusses vorrangig leistungszuständig (vgl Neumayr aaO § 1 UVG Rz 41). Ob der Antragsteller in Bulgarien ebenfalls einen Anspruch auf Unterhaltsvorschuss hätte, braucht im Hinblick auf die dargestellte Rechtslage nicht geprüft zu werden (vgl 9 Ob 157/02g). Da das Erstgericht somit die beantragten Vorschüsse im Ergebnis zu Recht gewährt hat, war spruchgemäß zu entscheiden.

Anmerkung

E8992010Ob78.08f-2

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:OGH0002:2009:0100OB00078.08F.0127.000

Zuletzt aktualisiert am

19.03.2009
Quelle: Oberster Gerichtshof (und OLG, LG, BG) OGH, http://www.ogh.gv.at
Zurück Haftungsausschluss Vernetzungsmöglichkeiten

Sofortabfrage ohne Anmeldung!

Jetzt Abfrage starten